Schätzungsweise 20 % der Patienten mit Demenz leiden zusätzlich an einer Depression. Depressionen können die kognitive Leistungsfähigkeit von Demenzpatienten weiter einschränken, zu psychischer Belastung und einer Verminderung der Lebensqualität führen. Bei Pflegepersonen erhöht sich durch die Depression beim Demenzpatienten die Gefahr, ebenfalls eine Depression zu entwickeln. Trotz der großen Bedeutung der Komorbidität Depression bei Demenz ist die Evidenz der zur Verfügung stehenden Behandlungsoptionen eher gering. Dies gilt auch für die Behandlung mit Antidepressiva, bei denen die Ergebnisse verschiedener Studien widersprüchlich sind. In einem aktuellen Cochrane-Review ergab sich in der Zusammenschau der Ergebnisse von sechs wichtigen Studien nur eine schwache Evidenz für die Wirksamkeit von Antidepressiva bei Demenzpatienten. Dabei wurden in zwei Studien trizyklische Antidepressiva eingesetzt, die bei Demenzerkrankten aufgrund der kognitionsverschlechternden anticholinergen Effekte eigentlich nicht verordnet werden sollten.
Die HTA-SADD-Studie: Sertralin und Mirtazapin im Vergleich zu Placebo
Aufgrund dieser Unsicherheit wurde in Großbritannien eine dreiarmige Studie zum Einsatz von Antidepressiva gegen Depressionen bei Demenz (Health technology assessment study of the use of antidepressants for depression in dementia [HTA-SADD]) aufgelegt, in der die antidepressive Wirksamkeit des selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers Sertralin (z.B. Zoloft®) und des noradrenergen und spezifisch serotonergen Antidepressivums Mirtazapin (z.B. Remergil®) mit Placebo verglichen werden sollte.
Methodik
In die randomisierte Doppelblindstudie wurden Patienten aus neun gerontopsychiatrischen Einrichtungen in Zentren in Großbritannien aufgenommen. Die Patienten hatten eine vermutete oder mögliche Demenz vom Alzheimer-Typ (Diagnose u.a. anhand der Kriterien der Alzheimer’s Disease and Related Disorders Association [ADRDA]), eine mindestens vier Wochen anhaltende Depression und einen Score von 8 oder mehr in der Cornell Scale for Depression in Dementia (CSDD). Ausgeschlossen waren unter anderem suizidale Patienten und Patienten, die keine Pflegeperson hatten. Stratifiziert nach Zentrum wurden die Patienten im Verhältnis 1:1:1 der Sertralin-Gruppe (Zieldosis 150 mg/Tag), der Mirtazapin-Gruppe (45 mg) oder der Placebo-Gruppe zugewiesen. Alle Patienten erhielten die Standardpflege.
Primäre Zielgröße war der Rückgang der Depression, gemessen anhand des CSDD-Scores in Woche 13; eine zusätzliche Datenerhebung erfolgte in Woche 39.
Ergebnisse
Die Abnahme der Depressions-Scores (CSDD) in Woche 13 unterschied sich nicht zwischen den Kontrollpatienten und den Patienten unter Sertralin oder den Patienten unter Mirtazapin. Auch zwischen den Patienten der Mirtazapin- und der Sertralin-Gruppe war kein Unterschied nachweisbar (durchschnittliche Differenz 1,16; 95%-KI -0,25 bis 2,57, p=0,11).
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In der Placebo-Gruppe traten deutlich weniger Nebenwirkungen (29 von 111 [26%]) auf als in der Sertralin-Gruppe (46 von 107 [43%]; p=0,010) oder in der Mirtazapin-Gruppe (44 von 108 [41%], p=0,031). Bei Sertralin herrschten gastrointestinale Nebenwirkungen (v.a. Übelkeit) vor, bei Mirtazapin Benommenheit und Sedierung. Schwerwiegende Nebenwirkungen traten bei Antidepressiva-Behandlung häufiger auf als mit Placebo (p=0,003). In jeder Gruppe verstarben fünf der durchschnittlich 80-jährigen Patienten bis Woche 39.
Diskussion
Bei Patienten mit einer Demenz vom Alzheimer-Typ und zusätzlicher Depression haben diesen Ergebnissen zufolge die modernen Antidepressiva Sertralin und Mirtazapin keine über Placebo hinausgehende Wirksamkeit, aber mehr Nebenwirkungen. Die Studie ist die größte bisher durchgeführte randomisierte Studie zur Wirksamkeit von Antidepressiva bei Demenz, weshalb ihr Ergebnis einen wichtigen Beitrag für zukünftige Empfehlungen in Leitlinien leisten wird. Schon jetzt sollte aber die häufig gegebene Empfehlung von Sertralin als Mittel der Wahl in der Behandlung von Depressionen bei Alzheimer-Patienten überdacht werden.
Deutsche Leitlinie zur Behandlung von Depressionen bei Demenz
Die in der Studienpublikation anklingende Bevorzugung von Sertralin in Großbritannien ist in der deutschen Leitlinie nicht zu finden. Die S3-Leitlinie „Demenzen“ (www.awmf.org/uploads/txszleitlinien/038-013S3Demenzenlang11-200911-2011.pdf) besagt: „Medikamentöse antidepressive Therapie bei Patienten mit Demenz und Depression ist wirksam und wird empfohlen. Bei der Ersteinstellung und Umstellung sollen trizyklische Antidepressiva aufgrund des Nebenwirkungsprofils nicht eingesetzt werden. (Empfehlungsgrad B, Evidenzebene Ib)“
Einschränkungen der Studienergebnisse
Allerdings können die Studienergebnisse nicht ohne weiteres auf Patienten mit einer sehr schweren Depression, auf Patienten mit anderen Demenzformen wie beispielsweise vaskulärer oder frontotemporaler Demenz und auf Antidepressiva aus anderen Wirkstoffgruppen übertragen werden. Auch macht die Studie keine Angaben zu den Responderquoten oder zu Patienten-Subgruppen, die möglicherweise von den Antidepressiva doch profitieren. Im Einzelfall wird man wohl in der täglichen Praxis nach wie vor individuell gute Erfahrungen mit modernen Antidepressiva bei Alzheimer-Patienten machen.
Alternative Behandlungsansätze
Als Alternative zu Antidepressiva raten die Autoren zu einem abgestuften Pflegemanagement, bei dem zunächst bis zu 13 Wochen aufmerksam beobachtet werden kann - in dieser Zeit ging in der vorliegenden Studie auch in der Placebo-Gruppe der CSDD-Score um 43% zurück. Sollte das Zuwarten für Patienten, Pflegende bzw. Angehörige zu belastend sein oder hat sich der Zustand nach 13 Wochen nicht stabilisiert, kann psychosozial interveniert werden. In Frage kommen problemlösende Ansätze, das Anbieten von Veranstaltungen mit erfreulichen und erheiternden Inhalten, Bewegungsübungen oder das Erlernen kompensatorischer Strategien zusammen mit einer kognitiven Verhaltenstherapie.
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Weitere Forschungsergebnisse und Kontroversen
Eine im Fachjournal „BMC Medicine“ veröffentlichte Studie aus Schweden untersuchte den Zusammenhang unterschiedlicher Antidepressiva-Verschreibungen mit der kognitiven Funktion bei Demenzkranken. Dazu werteten die Schweden die Krankheitsdaten von insgesamt 18.740 Demenz-Patienten aus, die zwischen 2007 und 2018 in einem nationalen Register gesammelt wurden. Etwa ein Viertel der Patienten bekam im zeitlichen Zusammenhang mit der Diagnose ein Antidepressivum verabreicht. Mithilfe eines Tests ermittelten die Mediziner schließlich die kognitive Leistungsfähigkeit. Das Resultat: Die geistige Fitness der Dementen, die ein Antidepressivum einnahmen, nahm schneller ab als bei jenen, die keine entsprechenden Mittel erhielten. Dabei zeigten sich auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Medikamenten: So scheinen die sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, zu denen auch Sertralin gehört, mit einem schnelleren Verlust der kognitiven Leistungsfähigkeit einherzugehen. Hingegen hatte das Medikament Mirtazapin, das einen anderen Wirkmechanismus hat, offenbar weniger negative Auswirkungen.
Experten aus Großbritannien und Deutschland warnen vor falschen Schlüssen und fehlender Kausalität bei den Ergebnissen. Klaus Ebmeier, Experte für Alterspsychiatrie an der University of Oxford, merkt zwar an, es sei nicht auszuschließen, dass Antidepressiva möglicherweise auch negative Auswirkungen auf kognitive Leistungen haben könnten. Allerdings sei es durchaus möglich, „dass erhöhte Sterblichkeit und Fallverletzungen eher mit der Verschlechterung der Demenz selbst, als dem damit verbundenen Verschreiben von Antidepressiva zusammenhängen“.
Andere Publikationen kommen gar zum gegenteiligen Schluss - und weisen darauf hin, dass Antidepressiva Menschen mit Demenz vor dem Fortschreiten der Erkrankung schützen können. Etwa konnten deutsche Psychologen im Fachmagazin „The American Journal of Psychiatry“ 2017 belegen, dass die Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern den kognitiven Abbau verlangsamt.
Antidepressiva und beschleunigter kognitiver Abbau? Eine kritische Betrachtung
Eine neue Studie warnt vor den Gefahren bestimmter Antidepressiva bei Demenzpatienten. Diese Medikamente könnten den geistigen Abbau sogar beschleunigen und führen zu einem erhöhten Risiko für Knochenbrüche und Sterblichkeit. Betroffen seien sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Dazu zählen etwa Citalopram, Sertralin und Escitalopram. "Diese Ergebnisse muss man ernst nehmen", sagte Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Entsprechende Hinweise habe es auch zuvor schon gegeben, vor allem für Trizyklische Antidepressiva (TZA), einer älteren Klasse von Antidepressiva, die anders als SSRI wirken und oft mehr Nebenwirkungen haben. Sie sollten daher bei Demenzkranken nicht verwendet werden.
Hintergrund sei womöglich, dass die entsprechenden Hirnstrukturen bei den Betroffenen bereits beschädigt seien und sich nicht mehr durch solche Wirkstoffe beeinflussen ließen, erklärte Klaus Fließbach, Oberarzt am Uniklinikum Bonn. Auch könnten die Mechanismen hinter bestimmten Symptomen ganz andere sein als bei Menschen ohne Demenz. Von Apathie zum Beispiel sei rund die Hälfte der Patienten mit der Demenzform Alzheimer betroffen - sie sei bei ihnen aber kein Zeichen einer Depression.
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Einschränkungen der aktuellen Studienlage
Wie auch die Forschenden um Sara Garcia-Ptacek vom Karolinska-Institut in Solna selbst zu bedenken geben, hat die Studie Einschränkungen, und die Ergebnisse sollten durch weitere Analysen geprüft werden. "Die Symptome der Depression können selbst schon zur Verschlechterung der Demenz beitragen", nannte Berlit ein Beispiel. Welcher Anteil der Beschleunigung darauf und welcher auf die Antidepressiva zurückgehe, lasse sich mit den vorliegenden Daten nicht bestimmen. "Die Ergebnisse sind extrem schwer zu interpretieren", betonte auch Fließbach. Die Studie zeige nur einen möglichen kausalen Zusammenhang - nachgewiesen sei er mit den Daten nicht.
Bedeutung für die Praxis
Die Ergebnisse der HTA-SADD-Studie und anderer aktueller Forschungsergebnisse werfen wichtige Fragen bezüglich des Einsatzes von Sertralin und anderen Antidepressiva bei Demenzpatienten mit Depressionen auf. Es ist wichtig, die potenziellen Risiken und Vorteile sorgfältig abzuwägen und alternative Behandlungsansätze in Betracht zu ziehen.
Empfehlungen für die Behandlung
- Sorgfältige Diagnose: Eine genaue Diagnose der Depression ist entscheidend, um andere Ursachen für depressive Symptome auszuschließen.
- Nicht-medikamentöse Maßnahmen: Vor dem Einsatz von Antidepressiva sollten nicht-medikamentöse Maßnahmen wie psychosoziale Interventionen, Bewegungstherapie und kognitive Verhaltenstherapie in Betracht gezogen werden.
- Individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung: Bei der Entscheidung für oder gegen eine medikamentöse Behandlung sollte eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen, unter Berücksichtigung der spezifischen Symptome, Begleiterkrankungen und der Medikation des Patienten.
- Vorsicht bei SSRI: Angesichts der aktuellen Forschungsergebnisse sollte der Einsatz von SSRI wie Sertralin bei Demenzpatienten kritisch hinterfragt werden, insbesondere bei Patienten mit bereits bestehenden kognitiven Einschränkungen.
- Regelmäßige Überwachung: Patienten, die mit Antidepressiva behandelt werden, sollten regelmäßig auf Nebenwirkungen und Veränderungen der kognitiven Funktion überwacht werden.
Weitere Therapieansätze bei Alzheimer
Die Alzheimer-Krankheit ist bislang nicht heilbar. Es gibt jedoch Medikamente, die den Krankheitsverlauf verlangsamen und bestimmte Symptome lindern können. Je nach Stadium und Beschwerden kommen verschiedene Wirkstoffe in Frage. Dazu gehören sowohl Medikamente gegen den geistigen Abbau als auch Mittel gegen psychische oder Verhaltenssymptome.
Antikörper-Medikamente
Ein neuer Ansatz sind Antikörper-Medikamente, die direkt an einer der möglichen Krankheitsursache ansetzen. Antikörper-Medikamente richten sich gegen eine mögliche Ursache der Alzheimer-Krankheit: schädliche Proteinablagerungen im Gehirn, sogenannte Amyloid-Plaques. Leqembi (Wirkstoff: Lecanemab) war das erste in der EU zugelassene Antikörper-Medikament zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit, kurz darauf wurde auch Kisunla (Wirkstoff: Donanemab) zugelassen. Beide sind seit Herbst 2025 in Deutschland erhältlich.
Leqembi und Kisunla richten sich ausschließlich an Menschen im frühen Alzheimer-Stadium, also bei leichter kognitiver Beeinträchtigung (MCI) oder beginnender Demenz. Vor Beginn der Behandlung sind ein Gentest sowie der Nachweis von Amyloid-Ablagerungen (Liquoruntersuchung oder PET-Scan) erforderlich. Die Behandlung erfolgt in spezialisierten Zentren. Leqembi wird alle zwei Wochen als Infusion verabreicht, Kisunla alle vier Wochen.
Antidementiva
Antidementiva können helfen, den geistigen Abbau zu verlangsamen und die Selbstständigkeit länger zu erhalten. Es gibt zwei Wirkstoffgruppen, die je nach Stadium der Erkrankung zur Anwendung kommen: Acetylcholinesterase-Hemmer und Glutamat-Antagonisten.
Acetylcholinesterase-Hemmer
Diese Medikamente verbessern die Signalübertragung im Gehirn, indem sie den Abbau des Botenstoffs Acetylcholin hemmen. Sie kommen bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz zum Einsatz. Beispiele hierfür sind:
- Donepezil (z. B. Aricept®)
- Rivastigmin (z. B. Exelon®) - auch als Pflaster
- Galantamin (z. B. Reminyl®)
Glutamat-Antagonisten
Memantin wird bei mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz verordnet. Es schützt Nervenzellen vor einer Überstimulation durch Glutamat, einen wichtigen Botenstoff im Gehirn.
Mögliche Nebenwirkungen von Antidementiva sind unter anderem Übelkeit, Durchfall, Schwindel oder Unruhe.
Ginkgo biloba
Neben Antidementiva kann auch der pflanzliche Wirkstoff Ginkgo biloba zur Unterstützung der kognitiven Funktionen eingesetzt werden. Der Extrakt aus den Blättern des Ginkgo-Baums gilt als gut verträglich, kann aber Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben. Deshalb sollte die Einnahme immer ärztlich abgeklärt werden. Laut der aktuellen S3-Leitlinie Demenzen gibt es Hinweise auf eine Wirksamkeit bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz.
Neuroleptika
Neuroleptika werden bei bestimmten Begleiterscheinungen der Alzheimer-Krankheit eingesetzt. Dazu gehören herausfordernde Verhaltensweisen wie plötzliche Wutausbrüche sowie Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Wegen möglicher Nebenwirkungen ist der Einsatz von Neuroleptika mit Vorsicht zu bewerten.
Palliative Versorgung
Palliative Versorgung kann Menschen mit Alzheimer in allen Krankheitsphasen entlasten - nicht nur am Lebensende. Palliativversorgung bedeutet mehr als die Behandlung körperlicher Beschwerden wie Schmerzen, Atemnot oder Unruhe. Sie berücksichtigt auch seelische und soziale Aspekte sowie persönliche Werte und Wünsche. Ziel ist es, Symptome zu lindern und eine möglichst gute Lebensqualität zu ermöglichen - unabhängig vom Krankheitsstadium. Gerade in fortgeschrittenen Phasen fällt es vielen Menschen mit Alzheimer schwer, ihre Beschwerden mitzuteilen.
Forschung und zukünftige Entwicklungen
Die medikamentöse Behandlung von Demenzerkrankungen wie Alzheimer entwickelt sich stetig weiter. Neben den bereits erhältlichen Antikörpern werden weitere Wirkstoffe erforscht, zum Beispiel Blarcamesin, der die natürlichen Reinigungsmechanismen der Nervenzellen aktivieren soll.