Sigmund Freud und die Neurose: Eine Definition und historische Einordnung

Einführung

Der Begriff "Neurose" hat eine lange und wechselvolle Geschichte in der Psychologie und Psychiatrie. Geprägt durch die Arbeiten Sigmund Freuds, hat er die Art und Weise, wie wir psychische Störungen verstehen und behandeln, maßgeblich beeinflusst. Obwohl der Begriff in modernen Klassifikationssystemen wie dem DSM-5 und der ICD-10 nicht mehr verwendet wird, ist das Verständnis der Freudschen Neurosenlehre weiterhin relevant, um die Entwicklung der psychologischen Theorien und Behandlungsmethoden nachzuvollziehen.

Ursprung und Definition des Begriffs Neurose

Der Begriff "Neurose" wurde im Jahr 1776 von dem schottischen Arzt William Cullen eingeführt. Er verstand darunter eine Nervenkrankheit ohne anatomisch-pathologischen Befund. Der Umfang der damit gesammelten psychischen Störungen wurde von der theoretischen Position der Autoren bestimmt.

Die Freudsche Neurosenlehre

Sigmund Freud entwickelte eine grundlegende Theorie der Neurose im Rahmen seiner Psychoanalyse. Nach Freud ist die Neurose das Resultat einer unvollständigen Verdrängung von Impulsen aus dem Es durch das Ich. Der verdrängte Impuls droht trotz der Verdrängung in das Bewusstsein und das Verhalten durchzubrechen. Zur erneuten Abwehr dieses Impulses wird das neurotische Symptom entwickelt, das einerseits eine Ersatzbefriedigung dieses Impulses, andererseits aber einen Versuch seiner endgültigen Beseitigung darstellt.

Aktualneurosen

Freud unterschied nach dem Kriterium der Dauer und Stärke des auslösenden Konfliktes sowie nach der Art seiner Verarbeitung verschiedene Formen von Neurosen. Die Aktualneurose zeichnet sich durch primär vegetative Symptome aufgrund starker, aber unspezifischer Affektwirkungen auf das vegetative System im Zusammenhang eines aktuellen Konfliktes aus. Hierzu zählen:

  1. Die Schreckneurose
  2. Die Angstneurose
  3. Die neurasthenischen Syndrome

Psychoneurosen (Abwehrpsychoneurosen)

Die Psychoneurosen, auch Abwehrpsychoneurosen genannt, manifestieren sich in psychischen und somatischen Symptomen als Folge der unvollständigen Verdrängung von inkompatiblen Triebimpulsen auf dem Hintergrund eines chronischen Triebkonfliktes. Hierzu zählen:

Lesen Sie auch: Inhaltsstoffe der Essenz Neurose Kapseln

  1. Die hysterischen Syndrome (einschließlich Organneurose)
  2. Die phobischen Syndrome
  3. Die anankastischen Syndrome
  4. Die Charakterneurose

Traumatische Neurosen

Die traumatischen Neurosen weisen dieselben Symptome wie die Aktualneurosen und die Psychoneurosen auf, jedoch mit einer spezifischen Genese (Auslösung durch Unfall) und mit einer spezifischen Motivation (Sicherungstendenz). Man unterscheidet:

  1. Die primären Unfallneurosen
  2. Die sekundären Renten-, Versicherungs- und Rechtsneurosen (oder auch Zweckneurosen)

Weitere Theorien zur Neurose

Auch andere Psychoanalytiker und Psychologen haben Theorien zur Entstehung und Bedeutung von Neurosen entwickelt:

  • J.H. Schultz: Versteht unter Neurose eine «im Unbewussten lagernde, seelisch begründete Fehlhaltung des gesamten Organismus, die entsprechend der Verknüpfung des nervös-seelischen Faktors mit allen Lebensfunktionen sich nun auf sämtlichen Lebensgebieten äußern kann». Er unterscheidet nach der Tiefe der Verwurzelung des Konfliktes in der Persönlichkeit: exogene Fremdneurose, psychogene Randneurose, Schichtneurose und Kernneurose.
  • Schultz-Hencke: Sieht die Ursache der Neurose in Traumen (Mikro-Traumen), die das Antriebsleben hemmen und übersteuern oder untersteuern.
  • C.G. Jung: Betrachtet Neurose als eine Selbstentzweiung und gleichzeitig als ein Signal für die Wiedervereinigung von Bewusstsein und Unbewusstem.
  • A. Adler: Sieht die Neurose als ein Arrangement dar, das auf einer Überkompensation beruht.
  • I. Pawlow: Bezeichnet die Neurose als Störung des zerebralen Gleichgewichts.
  • J. Wolpe: Definiert Neurose als ein gelerntes emotionales Habit.
  • E. Eysenck: Stellt die Neurose als gelernte Fehlanpassung dar.

Freuds spätere Überlegungen zur Neurose

In seiner Schrift "Das Ich und das Es" (1924) entwickelte Freud eine neue Gliederung des seelischen Apparates, die er zur Erklärung der Entstehung von Neurosen und Psychosen nutzte. Er formulierte die These, dass die Neurose der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es sei, während die Psychose das Ergebnis einer Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt darstelle.

Die Rolle des Ichs, Es und Über-Ichs

Das Ich, in seiner Vermittlerrolle zwischen Außenwelt und Es, strebt danach, allen seinen Herren gleichzeitig zu Willen zu sein. Bei der Entstehung von Übertragungsneurosen will das Ich eine im Es mächtige Triebregung nicht aufnehmen und nicht zur motorischen Erledigung befördern oder ihr das Objekt bestreitet, auf das sie zielt. Das Ich erwehrt sich ihrer dann durch den Mechanismus der Verdrängung. Im Dienste des Über-Ichs und der Realität gerät das Ich in Konflikt mit dem Es, was den Sachverhalt bei allen Übertragungsneurosen darstellt.

Psychose als Konflikt mit der Außenwelt

Bei Psychosen hingegen, wie der Amentia Meynerts, wird die Außenwelt entweder gar nicht wahrgenommen, oder ihre Wahrnehmung bleibt völlig unwirksam. Das Ich schafft sich selbstherrlich eine neue Außen- und Innenwelt, die im Sinne der Wunschregungen des Es aufgebaut ist. Eine schwere, unerträglich erscheinende Wunschversagung der Realität ist das Motiv dieses Zerfalles mit der Außenwelt.

Lesen Sie auch: Symptome und Ursachen von Neurose

Die narzisstischen Psychoneurosen

Freud postulierte, dass es auch Affektionen geben muss, denen ein Konflikt zwischen Ich und Über-Ich zugrunde liegt. Er sah die Melancholie als Muster dieser Gruppe und schlug für solche Störungen den Namen „narzisstische Psychoneurosen“ vor.

Die gemeinsame Ätiologie

Die gemeinsame Ätiologie für den Ausbruch einer Psychoneurose oder Psychose bleibt immer die Versagung, die Nichterfüllung eines jener ewig unbezwungenen Kindheitswünsche, die so tief in unserer phylogenetisch bestimmten Organisation wurzeln. Der pathogene Effekt hängt davon ab, ob das Ich in solcher Konfliktspannung seiner Abhängigkeit von der Außenwelt treu bleibt und das Es zu knebeln versucht oder ob es sich vom Es überwältigen und damit von der Realität losreißen lässt.

Kritik und Weiterentwicklung des Neurosebegriffs

In der Folgezeit wurde der Begriff der Neurose zunehmend kritisiert. Ein Hauptgrund war die mangelnde Trennschärfe und die Heterogenität der unter diesem Begriff zusammengefassten Störungen. Zudem erwiesen sich die theoretischen Annahmen zu psychischen und körperlichen Ursachen von Neurosen in der von Freud formulierten Form als nicht haltbar.

Das Ende des Neurosebegriffs in modernen Klassifikationssystemen

In den modernen Diagnosemanualen wie dem DSM-IV, DSM-5 und der ICD-10 wird der Oberbegriff Neurose nicht mehr verwendet. Stattdessen werden verschiedene Störungen unter spezifischeren Kategorien wie Angststörungen, Zwangsstörungen, dissoziative Störungen, somatoforme Störungen und affektive Störungen zusammengefasst.

Neurose im Alltagssprachgebrauch

Obwohl der Begriff "Neurose" in der Fachwelt weitgehend aufgegeben wurde, ist er im Alltagssprachgebrauch weiterhin präsent. Verhält sich jemand ungewöhnlich oder übertrieben, gilt das Verhalten schnell als neurotisch.

Lesen Sie auch: Therapiemöglichkeiten bei Neurose

Symptome einer Neurose

Die Symptome einer Neurose sind sehr vielfältig und abhängig von den Erkrankungen, die unter diesen Begriff fallen. Dazu gehören:

  • Psychische Symptome: Ängste, Zwänge, traurige Verstimmung, hysterische Symptome
  • Somatische Störungen: Psychosomatische Störungen
  • Beeinträchtigung von Persönlichkeitsbereichen: Hemmungen, Selbstunsicherheit, emotionale Labilität

Ursachen von Neurosen

Es gibt viele verschiedene Gründe, warum es zu einer neurotischen Störung kommt. Einfluss nehmen können zum Beispiel:

  • Persönlichkeitsstruktur
  • Stress- und Belastungssituationen
  • Emotionale Traumata
  • Unbewusste, nicht gelöste Konflikte (laut Psychoanalyse)

Behandlung von Neurosen

Welche Behandlung bei einer Neurose infrage kommt, hängt vor allem davon ab, um welche Erkrankung es sich genau handelt. Darüber hinaus spielt bei der Wahl der Therapie eine Rolle, wie schwer die Erkrankung ist und welche Therapieform die Person bevorzugt. In der Regel wird eine zu den Neurosen zählende Störung mit Psychotherapie und/oder Psychopharmaka behandelt.

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Beispiel

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wird heute als jene psychische Störung anerkannt, die nach einer Traumatisierung auftreten kann. Sigmund Freud war einer der ersten, welcher in seinen Theorien zur Ätiologie von Neurosen auch Aspekte von Traumatisierungen berücksichtigte. Freud sah in traumatischen Erlebnissen die Ursache von Hysterien. Er formulierte eine Definition von Trauma:

Ein Individuum … werde von einem Trauma betroffen. Dieses Trauma muß gewisse Bedingungen erfüllen; es muß schwer sein, d.h. von der Art, daß die Vorstellung einer Lebensgefahr, der Bedrohng der Existenz damit verbunden ist; es darf aber nicht schwer sein in dem Sinne, daß die psychische Tätigkeit dabei aufhört …. Es darf also z.B. nicht mit einer Gehirnerschütterung, mit einer wirklich schweren Verletzung einhergehen. Ferner muß dieses Trauma eine besondere Beziehung zu einem Körperteil haben.

Auffällig ist an dieser Definition die Ähnlichkeit mit der heute im DSM-IV geltenden Definition von Trauma.

Freud und die Religion

Sigmund Freud, selbst ein Produkt des gottlosen Jahrhunderts, sah die Religion kritisch. In seiner Schrift "Zwangshandlungen und Religionsübungen" (1907) verglich er das "neurotische Zeremoniell" mit dem religiösen Ritual und kam zum Ergebnis, daß "die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen" sei. Er sah im Elternkomplex die Wurzel des religiösen Bedürfnisses und deutete den allmächtigen, gerechten Gott und die gütige Natur als großartige Sublimierungen von Vater und Mutter.

tags: #sigmund #freud #neurose #definition