Tiefensensibilität Test in der Neurologie: Ein umfassender Überblick

Die neurologische Untersuchung ist ein entscheidender Schritt, um Funktionsbeeinträchtigungen des Nervensystems zu erkennen, oft auch solche, die der Patient selbst noch nicht bemerkt hat. Ein wichtiger Bestandteil dieser Untersuchung ist die Prüfung der Tiefensensibilität, auch Propriozeption genannt. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Tiefensensibilitätsprüfung, ihre Bedeutung und die Methoden, die in der neurologischen Praxis Anwendung finden.

Einführung in die Tiefensensibilität

Die Tiefensensibilität, oft als „sechster Sinn“ bezeichnet, ermöglicht uns die Wahrnehmung von Lage, Haltung und Bewegungen unseres Körpers im Raum. Sie ist essenziell für die Koordination von Bewegungen und die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts. Propriozeptive Informationen stammen von Rezeptoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken. Die Verarbeitung dieser Signale und die daraus resultierenden Befehle an die Muskeln erfolgen größtenteils unbewusst.

Die neurologische Untersuchung: Ein Überblick

Am Anfang jeder neurologischen Untersuchung steht ein ausführliches Gespräch mit dem Patienten (Anamnese). Der Arzt erfragt die Art der Beschwerden, deren Beginn und Verlauf sowie mögliche Begleiterkrankungen und deren Behandlung. Anschließend erfolgt die eigentliche neurologische Untersuchung, die verschiedene Tests umfasst, um die Funktion des Nervensystems zu beurteilen.

Bei Verdacht auf Multiple Sklerose (Enzephalitis disseminata), einer chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), können Muskelkraft, Koordination, Gleichgewicht, Sensibilität und Reflexe Auffälligkeiten zeigen. Auch bei anderen neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, einer fortschreitenden neurodegenerativen Erkrankung, spielt die Untersuchung der Sensibilität eine wichtige Rolle.

Methoden zur Prüfung der Tiefensensibilität

Die Prüfung der Tiefensensibilität erfolgt durch verschiedene Tests, die darauf abzielen, die Fähigkeit des Patienten zu beurteilen, die Position und Bewegung seiner Gliedmaßen ohne visuelle Kontrolle wahrzunehmen.

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Vibrationsempfinden (Pallästhesie)

  • Durchführung: Eine angeschlagene Stimmgabel (meist 64 Hz oder 120 Hz) wird auf knöcherne Vorsprünge wie Großzehe, Malleolus (Knöchel), Patella (Kniescheibe), Spina iliaca anterior superior (vorderer oberer Darmbeinstachel), Finger, Handgelenk oder Ellenbogengelenk aufgesetzt. Der Patient gibt an, wann er die Vibration spürt und wann sie aufhört.
  • Bewertung: Die Intensität der Vibrationsempfindung wird oft auf einer Skala von 1/8 bis 8/8 dokumentiert. Normalwerte variieren je nach Lokalisation (z.B. Handgelenke 8/8, Malleoli 6/8, im Alter tendenziell niedriger). Eine verminderte Vibrationsempfindung wird als Pallhypästhesie bezeichnet.
  • Interpretation: Eine Pallhypästhesie an der gesamten Extremität kann auf eine spinale Läsion hindeuten, während ein Gradient der Pallästhesie (von distal nach proximal abnehmend) eher für eine periphere Nervenläsion spricht.

Lage- und Bewegungsempfinden (Propriozeption)

  • Durchführung: Der Untersucher bewegt die Finger oder Zehen des Patienten passiv auf und ab oder seitwärts. Der Patient, der die Augen geschlossen hält, muss angeben, in welche Richtung die Bewegung erfolgt.
  • Bewertung: Die Fähigkeit, die Richtung der Bewegung korrekt zu erkennen, gibt Aufschluss über das Lage- und Bewegungsempfinden.

Taktile Diskrimination

  • Stereognosie: Der Patient ertastet mit geschlossenen Augen bekannte Objekte (z.B. einen Schlüssel) und benennt sie.
  • Graphästhesie: Der Untersucher zeichnet mit einem stumpfen Gegenstand Buchstaben oder Zahlen auf die Handfläche des Patienten, der diese erkennen soll.
  • Taktile Auslöschung: Der Patient wird gleichzeitig auf beiden Körperseiten berührt. Bei einer taktilen Auslöschung kann er den Reiz auf einer Seite nicht wahrnehmen, obwohl er ihn bei getrennter Reizung beider Seiten korrekt erkennt.

Weitere Sensibilitätsprüfungen

Neben der Tiefensensibilität werden im Rahmen der neurologischen Untersuchung auch andere Aspekte der Sensibilität geprüft:

  • Schmerzempfinden: Prüfung mit einer Nadelspitze (stumpf und spitz).
  • Temperaturempfinden: Prüfung mit warmen und kalten Gegenständen (z.B. Reagenzgläsern mit warmem und kaltem Wasser oder einem kalten Reflexhammer).
  • Berührungsempfinden: Prüfung mit einem Wattestäbchen, Pinsel oder einem Monofilament (speziell geeichter Nylonfaden).

Untersuchung der Koordination

Die Koordination von Bewegungen hängt eng mit der Tiefensensibilität zusammen. Daher werden im Rahmen der neurologischen Untersuchung auch Tests zur Überprüfung der Koordination durchgeführt:

  • Finger-Nase-Versuch: Der Patient tippt mit dem Zeigefinger auf seine Nasenspitze, zunächst mit offenen, dann mit geschlossenen Augen.
  • Knie-Hacke-Versuch: Der Patient führt die Ferse eines Beines am Schienbein des anderen Beines entlang vom Knie zum Fuß.
  • Diadochokinese: Der Patient führt schnelle, wechselseitige Bewegungen aus (z.B. „Glühbirnen einschrauben“ oder schnelles Abwechseln von Pronation und Supination der Hände).
  • Romberg-Test: Der Patient steht mit geschlossenen Füßen und geschlossenen Augen. Eine verstärkte Schwankneigung kann auf eine Störung der Tiefensensibilität oder des Gleichgewichtssystems hindeuten.
  • Gangbildbeurteilung: Der Arzt beobachtet das Gangbild des Patienten, um Auffälligkeiten wie Ataxie (Gangunsicherheit) zu erkennen.

Interpretation der Befunde

Die Ergebnisse der Sensibilitätsprüfung werden im Zusammenhang mit anderen neurologischen Befunden interpretiert. Eine isolierte Störung der Tiefensensibilität kann verschiedene Ursachen haben, darunter:

  • Periphere Neuropathien: Schädigung peripherer Nerven, z.B. bei Diabetes mellitus (diabetische Polyneuropathie), Alkoholmissbrauch (alkoholische Polyneuropathie) oder Vitamin-B-Mangel.
  • Spinale Läsionen: Schädigung des Rückenmarks, z.B. durch Verletzungen, Entzündungen oder Tumoren.
  • Zentrale Läsionen: Schädigung des Gehirns, z.B. durch Schlaganfall, Multiple Sklerose oder Tumoren.
  • Kleinhirnläsionen: Schädigung des Kleinhirns, das eine wichtige Rolle bei der Koordination von Bewegungen spielt.

Bedeutung der Anamnese und weiterer Untersuchungen

Neben der neurologischen Untersuchung sind die Anamnese und gegebenenfalls weitere Untersuchungen wichtig, um die Ursache der Sensibilitätsstörung zu ermitteln. Dazu gehören:

  • Ausführliche Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte, einschließlich Angaben zu Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme, Alkohol- und Drogenkonsum sowie familiärer Belastung.
  • Laboruntersuchungen: Blutuntersuchungen zur Bestimmung von Blutzucker, Vitamin-B-Spiegel, Leberwerten, Entzündungsmarkern und anderen relevanten Parametern. Bei Verdacht auf infektiöse Ursachen können spezifische Tests durchgeführt werden.
  • Elektrophysiologische Untersuchungen: Elektroneurographie (ENG) zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeit und Elektromyographie (EMG) zur Messung der Muskelaktivität.
  • Bildgebende Verfahren: Magnetresonanztomographie (MRT) von Gehirn und Rückenmark, um strukturelle Veränderungen zu erkennen.
  • Nervenbiopsie: Entnahme einer Gewebeprobe aus einem peripheren Nerven zur mikroskopischen Untersuchung.

Therapie von Sensibilitätsstörungen

Die Therapie von Sensibilitätsstörungen richtet sich nach der zugrunde liegenden Ursache. Bei peripheren Neuropathien können beispielsweise eineOptimierung der Blutzuckereinstellung bei Diabetes mellitus, Vitamin-B-Substitution bei Mangelzuständen oderAlkoholentzug bei alkoholischer Polyneuropathie erforderlich sein. In einigen Fällen können auch Medikamente zurSchmerzlinderung eingesetzt werden.

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Ergotherapie und Physiotherapie können helfen, dieSensibilität zu verbessern und die Koordination zu schulen. DasWahrnehmungstraining in der Ergotherapie zielt darauf ab, dieAufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen zu verbessern. Hierbei werdenvielfältige Materialien mit unterschiedlichen Oberflächeneigenschaften(rau, weich, hart, warm, kühl) eingesetzt, um dieSensibilität zu stimulieren.

Der Fall von Ian Waterman: Ein extremes Beispiel für den Verlust der Tiefensensibilität

Der Fall von Ian Waterman, einem Mann, der aufgrund einer seltenen Erkrankung seine Tiefensensibilität verlor, verdeutlicht die immense Bedeutung dieses Sinnes für dieBewegungskontrolle. Waterman musste lernen, seineBewegungen bewusst zu steuern und sich auf seine anderen Sinnezu verlassen, um sich im Raum zu orientieren.

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