Unser Verständnis von Intelligenz sollte auf Tiere, Pflanzen und Pilze ausgeweitet werden. Das sagt Biophysik-Professor Hans-Günther Döbereiner von der Universität Bremen. Er forscht unter anderem zu Schleimpilzen und fragt, ob Lebewesen auch ohne Gehirn und Nervenzellen denken können.
Einführung
Die Frage, was Intelligenz ausmacht und welche Lebewesen dazu fähig sind, beschäftigt die Wissenschaft seit langem. Während traditionell das Vorhandensein eines Gehirns als notwendige Voraussetzung für intelligente Verhaltensweisen angesehen wurde, zeigen neuere Forschungen, dass auch Tiere ohne Gehirn erstaunliche Fähigkeiten besitzen können. Dieser Artikel beleuchtet einige dieser faszinierenden Lebewesen und diskutiert, wie unser Verständnis von Intelligenz erweitert werden muss.
Intelligenz neu definiert
Professor Hans-Günther Döbereiner vom Institut für Biophysik an der Universität Bremen erläutert: „Der Mensch ist einzigartig. Das ist das gängige Leitbild unserer Gesellschaft.“ Durch naturwissenschaftliche Forschung werde aber immer deutlicher, dass „überlegtes und planerisches Denken“ auch in Lebewesen existiere, bei denen man es nicht erwarten würde. „Der Intelligenz-Begriff wird langsam aufgebohrt.“
Intelligenz sollte als Fähigkeit verstanden werden, komplexe Probleme zu lösen, wie der Biophysiker hervorhebt. Als Beispiel führt er den Schleimpilz an - Physarum polycephalum - zu dem er und seine Arbeitsgruppe forschen. „Schleimpilze sind keine Pilze, auch wenn sie so heißen. Sie sind auch keine Tiere oder Pflanzen. Vor etwa 2 Milliarden Jahren hat sich der Schleimpilz von den gemeinsamen Vorfahren der Reiche von Pilzen, Pflanzen und Tieren wegentwickelt.“ Der Schleimpilz sei aus menschlicher Sicht als Einzeller ein primitiver Organismus. „Dabei ist bereits eine Zelle ein hochkomplexes System.“
Tiere ohne Gehirn: Eine Auswahl
Welche Tiere haben kein Gehirn? Bei im Wasser lebenden Nesseltieren wurden keinerlei Anzeichen auf ein Gehirn festgestellt.
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Hier ist eine Liste von Tieren, die kein Gehirn haben:
- Nesseltiere: Nesseltiere bestehen zu 99 % aus Wasser. Demnach besitzen sie weder ein Gehirn, noch Blut oder ein Herz. Ihr Körper ist lediglich aus zwei Zellschichten aufgebaut. Nesseltiere leben ausschließlich im Wasser. Aus diesem Grund gibt es höchstwahrscheinlich auch kein Landtier ohne Gehirn.
- Quallen: Menschen fürchten sich oft vor Quallen wegen ihrer brennenden Tentakel. Dabei besitzen die Tiere kein Gehirn und greifen so auch nicht absichtlich an, sondern schweben nur im Wasser herum. Bei manchen Arten wurden jedoch Augen festgestellt. Sie überlebten alle Aussterbeprozesse, ohne ein Gehirn oder ein Herz zu haben. Sie sind praktisch ein Sack voller Wasser, aber sie können lernen. Eine Studie mit Tripedalia Cystophora, einer kleinen Quallenart, hat gezeigt, dass sie mit den wenigen tausend Neuronen in ihren vier Augen Veränderungen der Lichtintensität wahrnehmen und ihr Schwimmen anpassen können, was eine genauere Navigation ermöglicht.
- Korallen: Korallen könnten für Pflanzen gehalten werden, sind aber Tiere. Sie bestehen aus winzigen Polypen. Da sie ebenfalls zu den Nesseltieren gehören, besitzen sie kein Gehirn. Die bunten Organismen sind äußerst wichtig für das Ökosystem. Sie sehen aus wie Felsformationen oder Pflanzen, sind aber Tiere. Sie haben kein Herz, Nervensystem oder Gehirn, sondern bestehen aus Millionen von winzigen Individuen oder Polypen. In Kolonien organisiert, benutzen sie ihre kleinen, tentakelartigen Arme - die mit Nervenenden versehen sind - um Nahrung aus dem Wasser zu holen.
- Seeanemonen: Die Seeanemonen sehen nicht nur schön aus, sondern sind auch rätselhafte Tiere. Obwohl sie kein Gehirn und nur wenige Nervenzellen besitzen, fanden Forscher heraus, dass sie lernfähig sind. Sie haben kein Gehirn oder Herz, aber sie haben ein primitives Nervensystem. Aus diesem Grund haben sich mehrere Wissenschaftler mit ihnen beschäftigt. Im Jahr 2023 hat ein Biologe der Universität Freiburg in Deutschland dem Seestern (Nematostella vectensis) beigebracht, sein Verhalten auf der Grundlage früherer Erfahrungen anzupassen. An der Duke University in den USA haben Wissenschaftler gezeigt, dass sich die Perlenanemone (Actinia equina) an die Anwesenheit von Klonen in der Nähe gewöhnen kann, aber heftig auf andere Eindringlinge in ihr Revier reagiert.
- Seemoos: Obwohl Moos an Land zu den Pflanzen gehört, besteht Seemoos aus einer Vielzahl von Polypenstöcken und gehört deshalb zu den Nesseltieren.
- Seesterne: Sie haben zwischen 5 und 50 Arme, die sie zur Fortpflanzung, zur Jagd und zur Ausscheidung nutzen. Sie haben zwar kein Gehirn, aber ein Nervensystem und einen Nervenknotenpunkt, der wie eine Art Gehirn in Teilen funktioniert.
- Chirurgenfisch: Der 2011 in Schottland entdeckte Doktorfisch (Branchiostoma lanceolatum) hat kein Gehirn, Gesicht oder Skelett. Er ist fünf Zentimeter lang und hat ein Nervensystem, das aus einem Rückenmark besteht und nicht durch Wirbel geschützt ist.
- Meeresschwamm: Sie entstanden, bevor Tiere Gehirne entwickelten, also vor 5 bis 8 Millionen Jahren. Sie haben keine Gewebe, Organe, Nerven-, Verdauungs- oder Kreislaufsysteme. Stattdessen haben sie poröse Körper und innere Kanäle, mit denen sie Wasser pumpen können. Ihre gesamte Lebensaktivität findet auf zellulärer Ebene statt, da sie totipotente Zellen besitzen, die ihre Funktion je nach Bedarf ändern können.
- Würmer: Sie haben kein Gehirn, obwohl sie Ganglien haben, die die Funktion haben, die Nervenimpulse zu empfangen, die sie wahrnehmen. Würmer leben an feuchten Orten und graben Löcher in den Boden, um sich fortzubewegen. Ihre Anatomie besteht aus einem Mund, einem Anus und Muskeln am ganzen Körper. Sie haben ein Kreislaufsystem und eine zentrale Klappe, die wie ein Herz funktioniert.
- Andere Beispiele: Ebenfalls auf der Liste stehen die Portugiesische Karavelle oder Falsche Qualle (Physalia physalis), Ctenophoren, Hydren und Stülpquallen. Auch der Seeigel, die Seelilie (Crinoidea), die Seegurke und die Schlangen.
Schleimpilze: Intelligenz ohne Nervensystem
Schleimpilze sind kernhaltige Einzeller, die als geißelbewehrte Schwärmer oder kriechende Amöben auftreten und je nach Wasserangebot zwischen beiden Lebensformen wechseln. In guten Zeiten vermehren sie sich und verschmelzen milliardenfach zu vielkernigen Riesenzellen, die auf feuchten Oberflächen oft grell gefärbte schleimige Überzüge bilden. Physarum polycephalum bringt es auf bis zu zwei Quadratmeter große Exemplare, die sich einen Zentimeter pro Stunde vorwärts schieben und dabei Hindernisse überwinden können. Dazu nutzen sie dieselben Proteine, mit denen auch Menschen ihre Muskeln in Bewegung setzen.
Schleimpilze sind laut Professor Döbereiner ideale Objekte, um einfache kognitive Fähigkeiten zu erforschen. „Schleimpilze pulsieren und bilden weitverzweigte Adernetzwerke. Wir wollen verstehen, wie und warum sich diese Netze verändern.“ Experimente zur biologischen Physik der Zellbewegungen hätten etwa gezeigt, dass der Schleimpilz dabei auf Erinnerungen zurückgreifen kann. „Seine natürliche Lebenswelt ist dunkel und feucht, Licht mag er nicht. Kollegen haben den Schleimpilz dreimal nach jeder Stunde kurz mit Licht bestrahlt. Jedes Mal hörte der Schleimpilz auf, sich zu bewegen. Nach der vierten Stunde wurde er nicht bestrahlt, hörte aber trotzdem aus eigenen Stücken auf, sich zu bewegen - er hatte sich die Bestrahlung also gemerkt.“ Physarum könne zudem den kürzesten Weg in einem Labyrinth finden und realen Bahnnetzen verblüffend ähnliche Transportnetze entwerfen. „Verschmelzen zwei Schleimpilze, kann der eine dem anderen zudem Gelerntes beibringen, so dass die gesamte Schleimpilzstruktur die neuen Informationen anwenden kann.“
Lernen ohne Gehirn und Nervensystem
„Natürlich denken wir bei dem Begriff ,Lernen‘ zuerst einmal an die kognitive Fähigkeit eines Menschen“, sagt Professor Döbereiner. Im Gehirn würden Erinnerungen über ein Nervensystem abgespeichert. Das gehe beim Physarum natürlich nicht, denn er habe weder Gehirn noch Nervensystem. Wenn wir unter „Lernen“ aber verstehen, sich etwas zu merken, um in der Zukunft daraus eine Verhaltensänderung abzuleiten, dann lernt der Schleimpilz, wie der Biophysiker betont. Weder die Größe eines Gehirns noch die Zahl der Nervenzellen würden etwas über die Intelligenz eines Lebewesens aussagen.
Der Schleimpilz ist in der Lage, eine Nahrungsquelle zu finden. Dabei breitet er sich in Richtung der Quelle breitflächig aus. Ist die Quelle gefunden, werden ineffiziente Ausprägungen zurückgebildet. Interessanterweise kann Physarum auch in einem Labyrinth dabei den effizientesten Weg erkennen. Der Schleimpilz hat zudem vielen Menschen etwas voraus, denn er kann sich ausgewogen ernähren. Wird er mit einer Auswahl an Nahrungsquellen konfrontiert, wählt er die Nahrungsquelle mit dem optimalen Zucker und Proteingehalt aus, die er für sein Wachstum benötigt. Ist keine optimale Quelle vorhanden, kombiniert er die beiden nahrhaftesten Energiequellen so miteinander, dass Sie den optimalen Ernähungs-mix für ihn kreieren. Bei seiner Nahrungssuche passiert er nie dieselbe Stelle zweimal. Forscher haben herausgefunden, dass der Schleimpilz auf seinem Weg ein Geflecht hinterlässt. Damit markiert er die Stelle und vermeidet sie bei einer erneuten Suche. Erstaunlich ist auch, dass der Schleimpilz zu einem gewissen Maße fähig ist zu lernen. Physarum vermeidet Salz. Wird hinter einer Salz bestreuten Brücke eine Nahrungsquelle platziert, überwindet er sich und wandert langsam über das Salz. Er kann sogar von dieser positiven Erfahrung lernen. Je öfter er sich schon über salzigen Untergrund gequält hat, desto schneller meistert er den Weg. Bis zu 4-mal schneller als üblich kann er dabei werden. Trifft Physarum auf einen anderen seiner Art, kann er mit ihm verschmelzen und dieses Wissen sogar weitergeben.
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Robotersteuerung durch Schleimpilze
Um die Bewegungen von Physarum sichtbarer zu machen, wurden Roboter gebaut, welche von Physarum gesteuert werden. Die Bewegungen des Schleimpilzes werden dabei in elektrische Impulse umgewandelt, welche die Richtung des Roboters bestimmen. Dabei hält sich der Roboter in seinen Bewegungen eher von Licht fern, da der Schleimpilz grelles Licht meidet. Möglicherweise kann diese Technologie genutzt werden, um die Oberfläche von fremden Planeten zu erkunden. Der Vorteil von biologischen Komponenten ist hierbei, dass sie oft energieeffizienter sind als Maschinen und sich selbst regenerieren können.
Gehirne im Tierreich: Extreme Beispiele
Neben Tieren, die gar kein Hirn haben, findet man im Tierreich aber auch Lebewesen mit unglaublichen Gehirnen. Welche Tiere haben beispielsweise das schwerste, größte oder leistungsfähigste Hirn?
- Pottwal: Das Tier mit dem schwersten Gehirn lebt ebenfalls im Wasser. Das Hirn des Pottwals erreicht ein Gewicht von über neun Kilogramm. Damit ist es etwa siebenmal schwerer als das menschliche Gehirn.
- Elefant: Betrachtet man nur die Landtiere, liegt der Elefant auf dem ersten Platz.
- Delfin: Das im Wasser lebende Säugetier kann die größte Kapazität des Gehirns nutzen.
- Blutegel: Der medizinische Blutegel, der oftmals für Therapien eingesetzt wird, hat nicht nur ein Gehirn. Das Tier besitzt ganze 32 Gehirne. Unglaublich, aber wahr.
- Seekuh: Im Vergleich zur Körpermasse haben Seekühe das kleinste Gehirn. Einzig das ausgestorbene Coryphodon, das einem Nilpferd ähnelt, übertrifft diesen Rekord.
Die Evolution des Nervensystems
Die Evolution hat es uns ermöglicht, von den ersten chemischen und elektrischen Nachrichten in mehrzelligen Organismen - vor mehr als 1,9 Milliarden Jahren - zu hochentwickelten Nervensystemen zu gelangen, in denen die neuronale Kommunikation immer schneller, präziser und komplexer geworden ist.
Die ersten Nervensysteme waren Nervennetzwerke ohne zentrale Steuerung oder Gehirn, die man noch bei Organismen wie Hydras und Quallen beobachten kann. Aber vor etwa 500 Millionen Jahren entwickelten die ersten Wirbeltiere Grundversionen des Verbindungsmusters, das viele Arten heute haben. Mit dem Auftauchen der vierbeinigen Wirbeltiere - vor mehr als 350 Millionen Jahren - wurde das Gehirn komplexer und erhöhte seine Fähigkeit, Informationen über die Umwelt zu verarbeiten und sich an Erfahrungen zu erinnern und daraus zu lernen. Bei den Säugetieren - vor etwa 200 Millionen Jahren - entwickelte sich das Gehirn noch weiter in Größe und Komplexität. Die Verbindungen zwischen linker und rechter Seite dehnten sich aus und es entstand eine sechsschichtige Struktur - der Neocortex oder die faltige äußere Region unseres Gehirns. Diese Struktur ist wichtig für komplexe Aufgaben wie abstraktes Denken und Planen, der Schlüssel zu unserer Intelligenz, der es dem Menschen ermöglichte, die Erde zu beherrschen.
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