Tilidin ist ein synthetisches Opioid-Analgetikum, das zur Behandlung von mittleren bis starken Schmerzen eingesetzt wird. Es gehört zur Wirkstoffgruppe der niederpotenten Opioide und wird als Schmerzmittel besonders bei chronischen Schmerzen eingesetzt. In Deutschland ist es üblich, Tilidin als Kombinationspräparat mit Naloxon zu vermarkten, um das Missbrauchspotenzial zu verringern. Naloxon ist ein Opioid-Antagonist, der bei oraler Einnahme durch den First-Pass-Effekt größtenteils deaktiviert wird, wodurch Tilidin seine Wirkung entfalten kann. Bei parenteraler Aufnahme hingegen wird Naloxon aktiv und kann die Wirkung von Tilidin blockieren, um Missbrauch durch Injektion zu verhindern.
Die Anwendung von Tilidin erfolgt zur Behandlung starker und sehr starker Schmerzen, in der Regel in Kombination mit Naloxon, um einem möglichen Missbrauch vorzubeugen. Tilidin eignet sich besonders zur Behandlung chronischer Schmerzen. Der WHO-Stufenplan zur Schmerztherapie stuft Tilidin als schwaches Opioid-Analgetikum (Stufe II) gegen mittelstarke Schmerzen ein. Im Vergleich zu Morphin ist es etwa 5-mal schwächer.
Pharmakologische Grundlagen von Tilidin
Tilidin ist ein Prodrug, das im Körper hauptsächlich in der Leber durch Cytochrom P450-Enzyme (CYP3A4 und CYP2C19) zu seinem aktiven Metaboliten Nortilidin metabolisiert wird. Nortilidin bindet an die µ-Opioidrezeptoren im zentralen Nervensystem (ZNS), was zu einer Modulation der Schmerzübertragung und -wahrnehmung führt.
Durch die Aktivierung der µ-Opioidrezeptoren inhibiert Tilidin die Freisetzung von Neurotransmittern wie Substanz P, GABA, Dopamin, Noradrenalin und Acetylcholin, die an der Übertragung des Schmerzsignals beteiligt sind. Diese Hemmung führt zu einer verminderten Weiterleitung von Schmerzsignalen im Rückenmark und Gehirn, was letztlich die Schmerzwahrnehmung reduziert.
Zusätzlich zu seiner analgetischen Wirkung kann Tilidin eine euphorisierende Wirkung haben, die auf die Freisetzung von Dopamin im Gehirn zurückzuführen ist, was bei der Entwicklung von Abhängigkeit und Missbrauch eine Rolle spielen kann.
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Pharmakokinetische Eigenschaften
Tilidin wird nach oraler Einnahme rasch resorbiert und unterliegt einem starken First-Pass-Effekt in der Leber. Es wird schnell im Körper verteilt, vor allem in das Gehirn. Die Proteinbindung von Tilidin und seinen Metaboliten ist gering, was eine schnelle Verteilung im Gewebe ermöglicht.
Der Metabolismus erfolgt vorwiegend in der Leber durch das Cytochrom-P450-System (hauptsächlich CYP3A4 und CYP2C19) in Nortilidin und weiter in Bisnortilidin. Eine Hemmung der CYP-Enzyme durch andere Medikamente kann die Bildung und Elimination von Nortilidin beeinflussen und somit die Wirksamkeit von Tilidin verändern. Der aktive Metabolit Nortilidin ist für die analgetische Wirkung verantwortlich, welche nach 10-15 Minuten eintritt. Nach oraler Gabe von 100 mg Tilidin plus 8 mg Naloxon wird in ca. 25-50 Minuten das Wirkungsmaximum erreicht. Die Wirkdauer wird mit 4-6 Stunden angegeben.
Die Eliminationshalbwertszeit beträgt für Nortilidin 3-5 Stunden. Tilidin und seine Metaboliten werden überwiegend renal (90%) ausgeschieden, nur ein kleiner Teil wird über die Fäzes ausgeschieden.
Bei Patienten mit eingeschränkter Leberfunktion ist die maximale Konzentration von Nortilidin im Plasma geringer, und die Halbwertszeit ist verlängert. In schweren Fällen von Leberinsuffizienz kann die Umwandlung von Tilidin in Nortilidin so stark beeinträchtigt sein, dass die analgetische Wirkung reduziert wird. Zudem kann Naloxon, das nicht ausreichend metabolisiert wird, die Wirkung von Nortilidin weiter abschwächen.
Dosierung und Anwendungsart
Tilidin ist in Kombination mit Naloxon in verschiedenen Arzneiformen in unterschiedlichen Dosierungen verfügbar, darunter Retardtabletten und Tropfen/Lösung zum Einnehmen.
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Dosierungsempfehlungen
- Erwachsene und Jugendliche ab 14 Jahren:
- Initialdosis: 100 mg Tilidinhydrochlorid (retardiert), 2-mal täglich im 12-Stunden-Intervall.
- Opioidnaive Patienten: Anfangsdosis kann mit 50 mg Tilidinhydrochlorid (retardiert), 2-mal täglich ausreichend sein.
- Dosiserhöhung: Optional, schrittweise bis zur individuellen Erhaltungsdosis.
- Erhaltungsdosis: 100 mg bis maximal 600 mg Tilidinhydrochlorid (retardiert).
- Besondere Fälle: Bei Bedarf kann die Maximaldosis überschritten oder das Einnahmeintervall verkürzt werden, um eine adäquate Schmerzkontrolle zu erreichen, solange die Nebenwirkungen tolerierbar bleiben.
- Kinder (2 - 14 Jahre):
- Mindestdosis: Nicht weniger als drei Tropfen (entspricht 7,5 mg Tilidinhydrochlorid).
- <20 kg Körpergewicht: 0,5 mg Tilidinhydrochlorid pro kg Körpergewicht, bis zu viermal täglich.
- >20 kg Körpergewicht: 0,7 mg Tilidinhydrochlorid pro kg Körpergewicht, bis zu viermal täglich.
- Kinder unter 2 Jahren: Keine ausreichenden Erfahrungen zur Anwendung.
Besondere Hinweise zur Anwendung
- Kleinste analgetisch wirksame Dosis wählen.
- Bei Langzeittherapie mit festem Zeitplan: Arzneimittel mit langer Wirkdauer verwenden.
- Kein abruptes Absetzen nach längerer Therapie, sondern schrittweise Reduktion der Dosis (z. B. um 50% pro Woche).
Risiken und Kontraindikationen
Kontraindikationen
Tilidin darf nicht angewendet werden bei:
- Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff
- Abhängigkeit von Opiaten (Heroin, Morphin) oder Opioiden
- Bei anderen Abhängigkeitserkrankungen oder bei einem Vorliegen von Porphyrie
- Bei ausgeprägter Leberinsuffizienz (z. B. hochgradiger Leberzirrhose)
Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen
Bei der Anwendung von Tilidin in Kombination mit Naloxon sind folgende Warnhinweise zu beachten:
- Atemdepression und Schlafapnoe: Opioide wie Tilidin können das Risiko einer Atemdepression und zentralen Schlafapnoe (CSA) erhöhen. Bei Patienten, die Atemdepressionen aufweisen, ist eine Dosisreduktion in Erwägung zu ziehen.
- Kombination mit sedierenden Arzneimitteln: Die gleichzeitige Anwendung von Tilidin mit sedierenden Medikamenten (z. B. Benzodiazepinen) oder Alkohol kann zu Sedierung, Atemdepression, Koma oder sogar Tod führen. Diese Kombination sollte nur in Ausnahmefällen verschrieben werden. In solchen Fällen muss die Dosis so gering wie möglich gehalten und die Patienten eng überwacht werden.
- Serotonin-Syndrom: Die Kombination von Tilidin mit serotonergen Medikamenten kann ein Serotonin-Syndrom auslösen, das sich durch psychische Veränderungen, autonome Instabilität, neuromuskuläre Anomalien und gastrointestinale Symptome äußert. Bei Verdacht auf ein Serotonin-Syndrom sollte Tilidin abgesetzt werden.
- Missbrauchsgefahr: Aufgrund der Wirkungen auf das zentrale Nervensystem besteht das Risiko des Missbrauchs. Besonders bei Patienten mit einer Vorgeschichte von Abhängigkeit ist Vorsicht geboten. Eine strenge Überwachung ist erforderlich, um Missbrauch zu verhindern.
- Nicht geeignet für Opiatabhängige: Tilidin kann bei Opiatabhängigen akute Entzugserscheinungen auslösen und ist daher nicht für die Entzugsbehandlung geeignet.
- Toleranzentwicklung und Abhängigkeit: Eine langfristige Anwendung kann zu einer Toleranz gegenüber Tilidin führen, was höhere Dosierungen erfordert. Zudem kann eine physische und psychische Abhängigkeit entstehen. Bei Beendigung der Therapie sollte die Dosis schrittweise reduziert werden, um Entzugssymptome zu vermeiden.
- Nebennierenrindeninsuffizienz: Opioide wurden mit Nebennierenrindeninsuffizienz in Verbindung gebracht, die Symptome wie Müdigkeit, Schwindel und niedrigem Blutdruck auslösen kann.
- Androgenmangel: Die chronische Einnahme von Opioiden kann zu einem Androgenmangel führen, der sich durch Libidoverlust, Impotenz oder Unfruchtbarkeit äußern kann.
Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
- SSRI, SNRI, TZA, Triptane, 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten, Mirtazapin, Trazodon oder MAOI: Die gleichzeitige Einnahme von Tilidin mit diesen Medikamenten kann das Risiko eines Serotonin-Syndroms erhöhen.
- Cytochrom P450 Enzyme (CYP3A4 und CYP2C19): Hemmstoffe dieser Enzyme, wie Voriconazol, können die Tilidin-Exposition und die Konzentration von Nortilidin erhöhen, was zu verstärkten analgetischen Effekten und einem erhöhten Risiko einer Atemdepression führen kann.
- Phenprocoumon: Bei gleichzeitiger Einnahme von Tilidin/Naloxon und Phenprocoumon kann es zu einem Abfall des Quick-Wertes kommen. Dies erfordert engmaschige Kontrollen der Prothrombinzeit, um gegebenenfalls die Dosierung von Phenprocoumon anzupassen.
- Andere zentral dämpfende Medikamente: Die Anwendung von Opioiden oder anderen zentral dämpfenden Medikamenten wie Angstlösern, Antidepressiva und Antihistaminika kann das Risiko einer Atemdepression erhöhen.
Tilidin und Epilepsie: Spezifische Risiken
Die Frage, ob Tilidin bei Epilepsiepatienten sicher angewendet werden kann, ist komplex und erfordert eine sorgfältige Abwägung der Risiken und Vorteile. Es gibt Bedenken hinsichtlich möglicher Wechselwirkungen zwischen Tilidin und Antiepileptika sowie des Potenzials von Tilidin, die Anfallsschwelle zu senken.
Erhöht Tilidin das Anfallsrisiko?
Einige Quellen warnen davor, dass Tilidin den Hirndruck erhöhen und unüberschaubare Interaktionen mit Antiepileptika eingehen kann. Es wird generell davon abgeraten, Opioide in Kombination mit Antiepileptika einzunehmen, da die meisten Opioide nur eine sehr geringe antikonvulsive Wirkung am Hauptrezeptor haben. Tilidin schneidet im Vergleich zu anderen Opioiden in dieser Hinsicht besonders schlecht ab.
Es gibt Berichte, die nahelegen, dass sehr hohe Dosen von Tilidin kurzzeitige Krämpfe auslösen können, was bei Epilepsiepatienten natürlich besonders kritisch zu sehen ist.
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Wechselwirkungen mit Antiepileptika
Es ist wichtig zu beachten, dass Tilidin über das Cytochrom-P450-System (CYP3A4 und CYP2C19) metabolisiert wird. Einige Antiepileptika können diese Enzyme beeinflussen und somit die Konzentration von Tilidin und seinem aktiven Metaboliten Nortilidin im Körper verändern. Dies kann entweder zu einer verminderten Wirksamkeit von Tilidin oder zu einem erhöhten Risiko von Nebenwirkungen führen.
Individuelle Risikobewertung
Ob die Einnahme von Tilidin in Kombination mit Antiepileptika möglich ist, sollte immer individuell mit dem behandelnden Arzt besprochen werden. Dabei müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden:
- Art und Schwere der Epilepsie
- Art der Antiepileptika
- Dosierung von Tilidin
- Weitere Medikamente, die der Patient einnimmt
- Allgemeiner Gesundheitszustand des Patienten
Alternativen zu Tilidin bei Epilepsiepatienten
Aufgrund der potenziellen Risiken sollte bei Epilepsiepatienten, die Schmerzen behandeln müssen, zunächst geprüft werden, ob es geeignete Alternativen zu Tilidin gibt. Dazu gehören:
- Nicht-opioide Schmerzmittel: Ibuprofen, Paracetamol oder Metamizol können in vielen Fällen eine ausreichende Schmerzlinderung erzielen.
- Physiotherapie und Psychotherapie: Diese nicht-medikamentösen Behandlungen können ebenfalls zur Schmerzlinderung beitragen.
- Andere Opioide: In bestimmten Fällen kann ein anderes Opioid als Tilidin besser geeignet sein, da es möglicherweise ein geringeres Risiko für Wechselwirkungen oder Anfälle aufweist. Dies sollte jedoch immer in Absprache mit dem Arzt entschieden werden.
Überdosierung von Tilidin
Bei einer Überdosierung von Tilidin können Symptome wie Schwindel, Benommenheit, Übelkeit, Erbrechen, Ataxie, Unruhe, Hyperreflexie, Hyperventilation und in schweren Fällen Atemdepression auftreten. Sehr hohe Dosen können kurzzeitige Krämpfe auslösen. Im Falle einer Überdosierung sollte an die Möglichkeit einer Mehrfachintoxikation gedacht werden, insbesondere bei Suizidversuchen.
Die Behandlung umfasst Magenspülung, Kohlegabe, Kreislaufstabilisierung und Atemunterstützung. Bei exzitatorischen Symptomen kann intravenöses Diazepam verabreicht werden.