Trauma und Nervensystem: Übungen zur Beruhigung und Regulation

Ein Trauma kann tiefgreifende Spuren im Nervensystem hinterlassen. Dieser Artikel bietet einen Überblick über die neurologischen Zusammenhänge und stellt Übungen vor, die helfen, das Nervensystem im Alltag zu beruhigen und dauerhaft zu regulieren.

Die neurologischen Grundlagen

Traumatische Erlebnisse, seien es überwältigende Schocktraumata oder verstörende Kindheitserfahrungen (Entwicklungstraumata), können im Körpergedächtnis und im Gehirn (neuronale Verankerung) verankert bleiben. Auch wenn ein solches Erlebnis emotional und kognitiv verarbeitet wurde, hinterlässt es Spuren und Symptome, die man oft nicht direkt mit dem Trauma in Verbindung bringt. Je früher und häufiger ein Trauma eingegriffen hat, desto tiefer sind die Spuren und Folgen.

Ein verändertes Erleben und Bewerten der Gegenwart führt dazu, dass aktuelle Erlebnisse mit den Erfahrungen „von damals“ gefühlt und interpretiert werden, was das Grundgefühl von Sicherheit verändert. Dies kann zu einer Überlastung des Nervensystems führen, was wiederum die Gedächtnisleistung beeinträchtigt und die Anpassungsfähigkeit des autonomen Nervensystems reduziert. Das Toleranzfenster für Stress sinkt.

Das autonome Nervensystem

Das autonome Nervensystem, auch zentrales Nervensystem genannt, ist für die automatische Steuerung von Körperfunktionen zuständig. Es besteht aus zwei Hauptteilen:

  • Sympathikus: Er macht uns mobil, aktiviert unsere Kräfte und steigert die Leistungsfähigkeit. Im Falle von Gefahr dient er als Erregungs-, Kampf- oder Fluchtnerv.
  • Parasympathikus: Er fährt uns zurück in die Ruhe und Erholung.

Bei einem traumatisierten Nervensystem dominiert oft der Sympathikus, was zu Dauerstress führt. Das Nervensystem passt sich nicht mehr automatisch den realen Gegebenheiten an und ist in einer Schleife aus erhöhter Wachsamkeit und Aktivierung gefangen. Betroffene leiden unter den Auswirkungen, auch wenn „eigentlich alles in Ordnung“ ist, da es keine Entwarnung gibt und sie nicht zur Ruhe kommen. Die Psyche ist chronisch beunruhigt, und selbst alltägliche Situationen können als bedrohlich wahrgenommen werden. Insbesondere bei Bindungstraumata können soziale Kontakte als gefährlich eingestuft werden. Bei Schocktraumata können alltägliche Situationen als Trigger fungieren, wenn ein einströmender Reiz einen Bezug zum traumatisierenden Ereignis hat.

Lesen Sie auch: Die Auswirkungen von Trauma auf das Gehirn

Diese Reaktionen sind kognitiv oft nicht so schnell steuerbar, wie es nötig wäre, um die prompte Arbeitsreaktion des Sympathikus zu unterbinden.

Übungen zur Beruhigung des Nervensystems

Glücklicherweise gibt es Möglichkeiten, aktiv Einfluss auf die körperlichen Erregungsreaktionen zu nehmen, indem man mit dem Parasympathikus arbeitet. Die folgenden Übungen können helfen, das Nervensystem zu beruhigen und die Selbstregulation zu fördern. Es ist wichtig zu beachten, dass die Übungen möglicherweise über einen längeren Zeitraum, sogar jahrelang, praktiziert werden müssen, um dauerhafte Stabilität und Regulierbarkeit zu erreichen.

1. Längere Ausatmung

Diese einfache Übung beinhaltet das bewusste Verlängern der Ausatmung im Vergleich zur Einatmung. Dies dämpft die Erregung und beruhigt das Nervensystem. Variieren Sie die Dauer der Ausatmung und wiederholen Sie die Übung mehrmals hintereinander.

2. Ausatmen gegen Widerstand

Stellen Sie sich vor, Sie müssen beim Ausatmen in einen Strohhalm pusten. Diese Übung sollte 3-5 Mal hintereinander durchgeführt werden, bei Bedarf auch länger. Mit der Zeit können Sie die Ausatmungszeit verlängern. Anfangs kann Ihnen leicht schwindlig werden.

3. Vokalübung

Atmen Sie langsam durch die Nase ein, wobei Sie sich das rechte Nasenloch leicht zuhalten. Während des Ausatmens sprechen Sie einen Vokal (z.B. „aaaaa…“). Wiederholen Sie diese Übung mit allen Vokalen.

Lesen Sie auch: Regulierung des Nervensystems: Ein Leitfaden zur Traumabehandlung

4. Erdung durch die Füße

Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Füße. Stellen Sie sicher, dass beide Füße ganz auf dem Fußboden sind. Fühlen Sie, wie es sich anfühlt, den rechten Fuß auf dem Boden zu spüren. Bewegen Sie die Zehen und spüren Sie die Unterlage durch die Schuhe hindurch. Wie ist die Temperatur des Fußes? Kalt oder warm? Wechseln Sie nun mit der Aufmerksamkeit auf den linken Fuß und wiederholen Sie die aufmerksamen Schritte. Vergleichen Sie das Gefühl beider Füße auf dem Boden. Stellen Sie sich vor, dass die Schwerkraft Ihre Füße am Boden hält und wie angenehm es sein kann, sich ganz auf den sicheren Fußboden zu verlassen und sich wie „verwurzelt“ damit zu fühlen.

5. 5-4-3-2-1 Übung

Diese Übung hilft, sich im Hier und Jetzt zu verankern.

  1. Sehen: Sehen Sie sich aufmerksam im Raum um und benennen Sie laut Gegenstände, die Sie wahrnehmen (z.B. „Ich sehe eine grüne Lampe…“).
  2. Hören: Schließen Sie die Augen und hören Sie aufmerksam auf die Geräusche Ihrer Umgebung. Benennen Sie auch diese laut (z.B. „Ich höre den Kühlschrank brummen…“).
  3. Spüren: Benennen Sie alles, was Sie im Körper oder um den Körper herum spüren (z.B. „Ich spüre den kalten Luftzug…“).

Bestimmen Sie anschließend erneut Ihren Stresslevel.

6. Abgewandelte 5-4-3-2-1 Übung für die Öffentlichkeit

Diese Übung ist eine Abwandlung der vorherigen Übung und eignet sich für Situationen in der Öffentlichkeit, in denen die obige Übung zu auffällig wäre. Geben Sie sich einen kleinen Auftrag, z.B.:

  • „Zähle alle Brillenträger im jetzigen Umfeld.“
  • „Suche 5 rote Gegenstände, die dich jetzt umgeben.“
  • „Finde ein Wolkenbild mit Gesicht.“

7. Nah- und Fernsicht

Halten Sie den Zeigefinger oder einen Stift in angenehme Entfernung vor sich und fixieren Sie den Blick darauf („Nahsicht“). Zählen Sie innerlich bis 3. Dann stellen Sie den Blick auf „Weitsicht“, schauen durch den Stift hindurch und fixieren Sie einen weit entfernten Punkt an der Wand hinter Stift oder Finger. Zählen Sie dort innerlich bis 3. Kommen Sie zurück auf Nahsicht und wiederholen Sie diese Übung im Wechsel etliche Male.

Lesen Sie auch: Die Rolle der Amygdala bei Trauma: Funktionen und Folgen

8. Zungenentspannung

Entspannen Sie Ihre Zunge und konzentrieren Sie sich darauf, dass sie in Ihrem Mund ganz leicht an den oberen Zähnen liegt. Sie darf nicht oben am Gaumen kleben, aber auch nicht unten an die Zähne stoßen.

9. Sanfter Augendruck

Nehmen Sie bequem Platz und stützen Sie, wenn möglich, beide Ellenbogen auf einen Tisch. Dann drücken Sie leicht mit den Handballen gegen die Augen und üben einen sanften, aber wahrnehmbaren Druck aus.

Neurogenes Zittern

Neurogenes Zittern ist eine weitere Methode, um Spannungen im Körper zu lösen und das Nervensystem zu regulieren. Durch eine Reihe von Körperübungen wird die Muskulatur in Bewegung gebracht, was zu einem Zittern führen kann. Dieses Zittern soll positive Effekte auf Körper und Psyche haben und bei Schlafstörungen, Burnout, chronischen Schmerzen oder Verdauungsproblemen helfen.

Wie lässt sich neurogenes Zittern auslösen?

Durch sieben Übungen, die von David Berceli entwickelt wurden, werden bestimmte Muskelgruppen gedehnt und angespannt, um neurogenes Zittern hervorzurufen. Die Übungen beginnen im Stehen und zielen darauf ab, einen sicheren Stand zu schaffen und verkrampfte Muskeln zu lockern. Auf dem Rücken liegend werden dann Becken und Beine in einer speziellen Position angespannt, gehalten und gedehnt, wodurch bei vielen Menschen die Muskulatur zu zittern beginnt.

Welche Wirkung hat neurogenes Zittern?

Laut David Berceli soll das Zittern tiefsitzende Spannungen im Körper lösen und das Nervensystem so regulieren, dass ein Zustand der Ruhe und Entspannung erreicht wird. Die Technik soll Ängste, Stressempfinden und PTBS-Symptome reduzieren, die Leistungsfähigkeit und emotionale Belastbarkeit steigern und chronische Schmerzen lindern.

Zusätzliche Strategien zur Beruhigung des Nervensystems

Neben den oben genannten Übungen gibt es weitere Strategien, die helfen können, das Nervensystem zu beruhigen:

  • Atemtechniken: Die 4-7-8-Atemtechnik (4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden halten, 8 Sekunden ausatmen) kann schnell beruhigend wirken. Auch die Zwerchfellatmung gilt als Goldstandard für Stressreduktion.
  • Körperliche Aktivität: Sport hilft, das ausgeschüttete Adrenalin und Cortisol abzubauen und signalisiert dem Gehirn, dass die Gefahr vorüber ist.
  • Meditation und Achtsamkeit: Regelmäßige Meditation und Achtsamkeitsübungen können den Geist und das Nervensystem beruhigen und die Stressresilienz stärken.
  • Yoga: Yoga verbindet körperorientierte Ansätze mit Atemarbeit und kann besonders effektiv sein, um das Nervensystem zu beruhigen.
  • Schlafhygiene: Ausreichend Schlaf ist essenziell, um das Nervensystem beruhigen zu können.
  • Emotionen zulassen: Manchmal kann es guttun, angestaute Emotionen herauszulassen.
  • Soziale Interaktion: Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen vermitteln dem Gehirn, dass die Welt ein sicherer Ort ist.

tags: #Trauma #Nervensystem #beruhigen #Übungen