Die Frage nach den Ursachen für psychische Probleme, insbesondere in Beziehungen, ist ein viel diskutiertes Thema. Das Buch „Treffen sich zwei Neurosen“ von Andrea Jolander, einer erfahrenen Psychotherapeutin, nimmt sich dieser Thematik an und beleuchtet die Wurzeln zwischengeschlechtlicher Probleme.
Die These des Buches: Rollenverständnis und Kindheit
Die Hauptthese des Buches besagt, dass Schwierigkeiten zwischen Männern und Frauen nicht genetisch bedingt oder gottgegeben sind, sondern vielmehr mit unserem Rollenverständnis zusammenhängen. Die Ursachen hierfür liegen oft in der frühen Kindheit.
Der Einfluss der Eltern
Jolander argumentiert, dass die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder erziehen, einen großen Einfluss auf deren spätere Beziehungsfähigkeit hat. Ständige Streitigkeiten zwischen den Eltern können sich negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Aber auch eine übermäßig harmonische Ehe kann problematisch sein, da sie unrealistische Erwartungen an zukünftige Partner wecken kann.
Die Rolle des Vaters
Besonders für Söhne kann es ungünstig sein, wenn sie hauptsächlich von der Mutter erzogen werden, da der Vater im Alltag fehlt. Diese Jungen könnten eine „Umweg-Identifikation“ entwickeln, bei der sie sich bewusst von allem abgrenzen, was mit der Mutter oder Mädchen in Verbindung gebracht wird. Jolander bezeichnet diese als „Nicht-wie-Mama-Männer“.
Die Situation der Frauen
Obwohl sich die Situation für Frauen verbessert hat, stehen auch sie vor Herausforderungen. Durch die Veränderungen in der Frauenwelt ist es für Mädchen schwierig, Vorbilder in älteren Generationen zu finden. Stattdessen orientieren sie sich oft an medialen „Superfrauen“, die unerreichbar sind und Stress verursachen. Dies kann zu Körperbildstörungen, Diäten und einem ständigen Streben nach Bewunderung führen, was wiederum den Partnern auf die Nerven gehen kann.
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Neurose: Eine „Nervlichkeit“ mit vielfältigen Ursachen
Der Begriff Neurose, der auf das griechische Wort „Neuron“ (Nerv) zurückgeht, wurde bereits 1776 von William Cullen eingeführt, erlangte aber erst durch Sigmund Freud größere Bekanntheit. Freud sah im ungelösten Ödipuskomplex die Ursache aller neurotischen Erkrankungen.
Die Unterscheidung zu Psychosen
Im Gegensatz zu Psychosen, deren Ursachen oft jenseits der Psyche liegen und die grundlegend nur mittelbar beeinflussbar sind, entstehen Neurosen durch die Eigenaktivität der Psyche. Allerdings können auch bei Psychosen neurotische Muster vorhanden sein, die den Ausdruck der psychotischen Erlebnisweisen beeinflussen.
Neurose vs. Persönlichkeitsstörung
Die Unterscheidung zwischen Neurose und Persönlichkeitsstörung ist theoretisch klar. Eine Neurose entsteht durch seelische Fehlentwicklungen infolge belastender Erlebnisse, während eine Persönlichkeitsstörung durch chronisch kränkende Erlebnisse hervorgerufen wird, oft beginnend in der frühen Kindheit. In der Realität gehen beide Kategorien jedoch fließend ineinander über.
Die Rolle des Selbstbildes
Neurosen entstehen durch die Eigenaktivität der Psyche, insbesondere durch den Unterschied zwischen Selbst und Selbstbild. Der gesunde Mensch versucht, sich selbst zu erkennen und zu akzeptieren, während der neurotische Mensch sich auf den Erfolg konzentriert und sich mit einem idealisierten Selbstbild identifiziert.
Die Bedeutung von Gefühlen
Bei der Entscheidung, ob man eine Erkenntnis akzeptiert oder nicht, spielen die Gefühle eine wesentliche Rolle. Unangenehme Gefühle werden oft vermieden, was jedoch dazu führt, dass der „Bodensatz“ zurückbleibt, der oft den eigentlichen Nährstoff enthält. Die Entscheidung, die man an dieser Stelle trifft, ist entscheidend für die psychische Gesundheit.
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Ereignis und Reaktion
Um die Gefahr zu mindern, Teile seiner selbst abzulehnen, ist es wichtig, zwischen Ereignis und Reaktion zu unterscheiden. Der Verursacher eines Gefühls ist nicht das Ereignis selbst, sondern die eigene Neigung, so und so zu reagieren. Wer seine Reaktion dem Ereignis zuordnet, lehnt Verantwortung für sich ab und festigt ein Selbstbild, in dem er intime Teile seiner selbst unter die Herrschaft anderer stellt.
Die Bedeutung der eigenen Person
Ein Grundirrtum der Neurose liegt darin, dass der Einzelne seiner Person mehr Bedeutung zumisst, als ihr in Wirklichkeit zukommt. Bedeutung haben nur Sie selbst. Unterscheiden Sie zwischen sich und Ihrer Person. Sie selbst sind das, was Sie sind. Die realitätsfremde Einschätzung der eigenen Bedeutung betrifft nicht nur das neurotische Selbstbild, sondern auch das psychotische Selbstbild, bei dem der Kranke alles auf sich bezieht und sich im Mittelpunkt der Welt wähnt.
Ursachen und Auslöser von Neurosen
Neurotische Entwicklungen können durch einzelne traumatische Ereignisse angestoßen werden, häufiger jedoch durch dauerhafte psychosoziale Missstände, insbesondere in der Kindheit. Traumatisierend sind Missstände vor allem dann, wenn sie den Eigenwert des Individuums leugnen und/oder sein Selbstbestimmungsrecht infrage stellen.
Konfliktmodell
Die Psychoanalyse führt Neurosen auf bisher nicht gelöste Konflikte zurück, die Betroffenen meist nicht bewusst sind. Dabei liegen der Neurose immer zwei Mechanismen zugrunde: ein konflikthaftes Geschehen in der Kindheit und ein aktueller Konflikt, der die Erkrankung auslöst.
Defizitmodell
Das Defizitmodell geht davon aus, dass Betroffene in ihrer Persönlichkeitsentwicklung eingeschränkt wurden oder es sind, weshalb sie Defizite aufweisen. Eine Traumatisierung in der Vergangenheit, erbliche Faktoren und die erlebten Bindungen und Erfahrungen haben dazu geführt, dass die Beziehung zu anderen gestört ist.
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Lernmodell
Neurosen lassen sich auch als erlerntes Verhalten interpretieren. Im Rahmen einer klassischen Konditionierung sind bestimmte Verhaltensmuster erlernbar, wenn sie durch Belohnung oder Bestrafung verstärkt werden.
Vererbung
Vererbung spielt vermutlich ebenfalls eine Rolle für die Entstehung einer Neurose. So wissen Forschende aus Untersuchungen mit Zwillingen, dass bei eineiigen Zwillingen die gleichen neurotischen Symptome wesentlich häufiger zusammentreffen als bei zweieiigen Zwillingen.
Epigenetische Veränderungen
Wissenschaftler*innen diskutieren zudem sogenannte epigenetische Veränderungen. Dabei sorgen Umwelteinflüsse dafür, dass es in der Erbsubstanz (DNA) zu epigenetischen Veränderungen kommt. Diese beeinflussen die Aktivität und Funktionsfähigkeit von Genen und damit auch die Arbeit von Organen, Geweben und dem Gehirn.
Formen der Neurose
Der Begriff "Neurose" wird in der modernen Psychologie differenzierter verwendet. Stattdessen spricht man von spezifischen Störungen wie Angststörungen, Phobien oder Zwangsstörungen.
Depressive Neurose (Dysthymie)
Die depressive Neurose oder neurotische Depression wird als "leichte oder mittlere depressive Episode ohne somatisches Syndrom" oder als "Dysthymie" beschrieben. Dysthymie ist eine chronische Form der Depression, die durch eine anhaltende gedrückte Stimmung gekennzeichnet ist, die mindestens zwei Jahre anhält. Betroffene erleben Symptome wie Müdigkeit, Interessenverlust, Schlafstörungen und geringes Selbstwertgefühl.
Angstneurose
Personen mit einer Angstneurose leiden an einer ängstlichen Stimmung, die über Monate andauern kann. An vielen Tagen machen sich Betroffene stundenlang übertriebene, intensive Sorgen darüber, dass ihnen oder ihren Angehörigen etwas zustoßen könnte.
Phobien
Phobien sind übersteigerte, anhaltende und umschriebene Ängste vor bestimmten Objekten und Situationen, denen Betroffene aus dem Weg gehen. Bekannte Phobien sind Höhenangst, Angst vor engen und geschlossenen Räumen, weiten Plätze, Reisen, Alleinsein oder Tieren.
Zwangsneurose
Die Betroffenen leiden unter Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, die massiv in den Alltag eingreifen, das Leben weitgehend bestimmen und einen hohen Leidensdruck verursachen. Am häufigsten kommen bei Zwangsneurotikern Symptome vor, welche die Bereiche "Symmetrie/Ordnung", "Sammeln", "Kontamination/Reinigen" und "Aggression/Kontrolle" betreffen.
Hysterische Neurose (Konversionsneurose)
Patient*innen mit einer hysterischen Neurose (Konversionsneurose) leiden an einem Konflikt, der sich im körperlichen Bereich manifestiert, wie bei der Herz- oder Magen-Neurose. Auslöser sind meist emotional belastende Situationen, die Betroffene an die eigenen Grenzen bringen.
Herzneurose
Menschen mit einer Herzneurose glauben, sie litten an einer lebensbedrohlichen Herzerkrankung oder bekämen bald einen Herzinfarkt. Normale Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems wie einen schnellen Puls oder leichtes Herzrasen interpretieren sie als Alarmzeichen für einen drohenden Herzinfarkt.
Magenneurose
Betroffene glauben, an einer Magenerkrankung zu leiden und schildern Symptome wie Druckgefühl, Brennen, Appetitstörungen, Völlegefühl, Erbrechen und Übelkeit. Es gibt aber keine körperliche Erkrankung als Ursache der Beschwerden.
Hypochondrie
Menschen mit einer Hypochondrie neigen zu ängstlicher, meist körperbezogener Selbstbeobachtung. Sie hegen die grundlose Befürchtung, an einer schweren Erkrankung zu leiden, beispielsweise an einem Herzinfarkt oder Krebs.
Charakterneurose (Persönlichkeitsstörung)
Eine Charakterneurose wird heute als Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Sie äußert sich weder durch eindeutige Symptome noch lässt sich eine konkrete Ursache oder ein Auslöser finden. Die Neurose ist in diesem Fall ein fester Bestandteil der Persönlichkeit.
Symptome und Diagnose
Die Symptome einer Neurose sind vielfältig und richten sich nach der Form der Erkrankung. Neurotiker*innen verhalten sich oft völlig unauffällig und zeigen nur in bestimmten Situationen Neurose-Symptome.
Regression
Betroffene reagieren in problematischen Situationen nicht ihrem Alter entsprechend; sie zeigen Symptome der Hilfslosigkeit oder Angst.
Körperliche Funktionsstörungen
Bei Organneurosen, zum Beispiel der Herzneurose, lassen sich entsprechende körperliche Funktionsstörungen beobachten - in diesem Fall ist die Herzfunktion aufgrund der massiven Ängste beeinträchtigt.
Behandlung
Menschen mit einer Neurose benötigen - je nach Schwere der Symptome - eine Behandlung. Die klassische Therapie ist die Psychoanalyse, sie soll den zugrunde liegenden Konflikt bewusst machen. Im nächsten Schritt können Betroffene lernen, ihre Probleme zu bewältigen und ihr Verhalten zu ändern.
Psychotherapie
Neben der Psychoanalyse gibt es verschiedene andere psychotherapeutische Verfahren, die bei der Behandlung von Neurosen eingesetzt werden können, wie beispielsweise die kognitive Verhaltenstherapie oder die systemische Therapie.
Medikamentöse Behandlung
In einigen Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung sinnvoll sein, um die Symptome der Neurose zu lindern.