Übungen zur Regulierung des Nervensystems: Ein umfassender Leitfaden für mehr Gelassenheit im Alltag

Der Alltag, besonders in Umgebungen wie Kitas oder Grundschulen, kann lebhaft und herausfordernd sein. Lärm, Konflikte und emotionale Ausbrüche können uns schnell überfordern. In solchen Momenten zeigt sich, wie wichtig und wirksam unsere Fähigkeit zur Selbstregulation ist. Stress, Reizbarkeit oder Überforderung scheinen oft aus dem Nichts zu kommen. Dies liegt an einem Mechanismus unseres Nervensystems, der sogenannten Neurozeption.

Die Neurozeption: Unser unbewusstes Sicherheitssystem

Der Begriff Neurozeption, geprägt vom Neurowissenschaftler Stephen Porges, beschreibt ein autonomes und unbewusstes Sicherheitssystem unseres Körpers. Dieses System scannt permanent äußere Reize (z. B. Geräusche, Mimik) und innere Zustände (z. B. Körpersensationen), um zu beurteilen, ob wir uns in Sicherheit befinden. Es unterscheidet dabei drei Kategorien:

  • Sicherheit
  • Bedrohung
  • Lebensgefahr

Unser Nervensystem kann jedoch auch "falschen Alarm" schlagen. Ein bestimmter Tonfall, ein strenger Blick oder ein Geräusch können unbewusst an frühere belastende Erfahrungen erinnern und eine Stressreaktion auslösen, selbst wenn keine reale Gefahr besteht. Wir reagieren dann möglicherweise mit Abwehr, Rückzug oder unangemessener Wut oder Angst.

Selbstregulation: Der Weg zu mehr Klarheit und Handlungsfähigkeit

Die gute Nachricht ist, dass wir lernen können, unser Nervensystem bewusst zu regulieren. Das bedeutet, dass wir uns aus Stressreaktionen in Richtung Klarheit, Sicherheit und Handlungsfähigkeit bewegen können. Anstatt impulsiv zu reagieren, können wir bewusste Entscheidungen treffen. Selbstregulation bedeutet nicht, immer ruhig zu bleiben, sondern präsenter, zugänglicher und vertrauenswürdiger zu sein. Kinder nehmen dies auf einer tiefen Ebene wahr und fühlen sich in einem sicheren Rahmen, in dem sie sich entspannen und entwickeln können.

Oft reichen kleine, gezielte Impulse aus, um unser Nervensystem neu auszurichten. Im Folgenden werden verschiedene Übungen und Techniken vorgestellt, die dabei helfen können, das Nervensystem zu regulieren und mehr Gelassenheit im Alltag zu finden.

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Grundlagen des Nervensystems

Um die Mechanismen der Selbstregulation besser zu verstehen, ist es hilfreich, einen kurzen Einblick in die Funktionsweise unseres Nervensystems zu bekommen. Das Nervensystem ist ein komplexes Kommunikationsnetzwerk, das Informationen aus der Umwelt aufnimmt und an Gehirn und Rückenmark weiterleitet. Dort werden Reaktionen gesteuert und an den Körper zurückgegeben.

Das Nervensystem besteht aus verschiedenen Teilen:

  • Somatisches Nervensystem: Zuständig für bewusste Bewegungen.
  • Vegetatives (autonomes) Nervensystem (ANS): Steuert unbewusste Körperfunktionen wie Atmung, Herzschlag und Verdauung.

Das vegetative Nervensystem ist der Schlüssel zur Regulation von Stressreaktionen. Es besteht aus zwei Hauptzweigen:

  • Sympathikus: Aktiviert den Körper in Stresssituationen (Kampf-oder-Flucht-Reaktion).
  • Parasympathikus: Beruhigt den Körper und fördert Erholung.

Der Vagusnerv: Unser "Ruhe-Nerv"

Ein wichtiger Bestandteil des Parasympathikus ist der Vagusnerv, der längste Hirnnerv unseres Körpers. Er wirkt wie eine "Bremse" für das vegetative Nervensystem und sendet Signale an Herz, Lunge und andere Organe, um den Körper zu beruhigen. Der Vagusnerv kann durch gezielte Übungen bewusst aktiviert werden.

Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges erweitert unser Verständnis des vegetativen Nervensystems. Sie beschreibt drei Zustände:

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  • Soziales Engagement (ventraler Vagus): Sicherheit, Verbindung, Ruhe.
  • Kampf-oder-Flucht (Sympathikus): Alarmbereitschaft und Mobilisierung bei Gefahr.
  • Erstarrung/Kollaps (dorsaler Vagus): Totaler Shutdown als Schutzmechanismus.

Unser Nervensystem entscheidet je nach wahrgenommener Sicherheit oder Bedrohung, in welchem dieser Bereiche wir uns befinden. Interessanterweise senden 80 % der Vagusnerv-Fasern Informationen vom Körper zum Gehirn, was die Bedeutung der Körperwahrnehmung für die Regulation des Nervensystems unterstreicht.

Stressreaktionen und ihre Veränderung im Laufe der Zeit

In Gefahrensituationen löst der Sympathikus eine Kaskade neurologischer und hormoneller Reaktionen aus, die uns helfen sollen, die Situation zu bewältigen. Adrenalin, Cortisol und Endorphine werden freigesetzt, Herzschlag und Blutdruck steigen, die Muskeln sind angespannt und die Sinne sind geschärft.

In der Steinzeit war die Gefahr oft ein Säbelzahntiger. Sobald die Gefahr vorüber war, fuhr der Körper die Stressreaktionen wieder herunter. In unserer modernen Zeit sind die Stressfaktoren jedoch anders: Ständige Erreichbarkeit, Überstunden, Lärm und Mental Load führen oft zu dauernder Anspannung und einer chronischen Aktivierung des Sympathikus.

Es ist wichtig zu verstehen, dass das Nervensystem nicht auf die tatsächlichen Ereignisse reagiert, sondern auf unsere Interpretation dieser Ereignisse.

Dauer der Beruhigung des Nervensystems

  • Akute Stressreaktionen: Das vegetative Nervensystem kann sich innerhalb von 20-30 Minuten wieder beruhigen.
  • Chronischer Stress: Es kann Wochen bis Monate dauern, bis sich ein dysreguliertes Nervensystem wieder stabilisiert.
  • Traumabedingte Dysregulation: Die Regulation ist ein individueller Prozess, der unterschiedlich lange dauern kann und bei dem professionelle Unterstützung empfehlenswert ist.

Die Regulation des Nervensystems ist ein Prozess, kein Ereignis.

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Übungen zur Regulierung des Nervensystems

Es gibt eine Vielzahl von Übungen und Techniken, die helfen können, das Nervensystem zu regulieren und Stress abzubauen. Diese lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen:

Atemtechniken

Atemtechniken sind ein effektiver Weg, um den Vagusnerv zu stimulieren und das Nervensystem zu beruhigen.

  • Zwerchfellatmung (Diaphragmatic Breathing): Diese Atemtechnik gilt als Goldstandard für Stressreduktion. Sie aktiviert das parasympathische Nervensystem und verbessert die Herzratenvariabilität. Atme tief in den Bauch ein, sodass sich das Zwerchfell senkt, und atme langsam wieder aus.
  • 4-7-8-Atemtechnik: Atme 4 Sekunden lang ein, halte den Atem 7 Sekunden lang an und atme 8 Sekunden lang aus. Diese Technik kann helfen, in akuten Stressmomenten zur Ruhe zu kommen.
  • Box-Breathing (Vier-Quadrat-Atmung): Atme 4 Sekunden lang ein, halte die Luft 4 Sekunden lang an, atme 4 Sekunden lang aus und halte die Luft wieder 4 Sekunden lang an. Wiederhole diese Übung mehrmals.
  • Physiological Sigh: Atme zunächst ca. 80 % über Bauch und Brust ein und fülle die Lunge im Anschluss komplett auf. Nach einer kurzen Pause lässt man die Luft dann langsam ausströmen.

Körperliche Übungen

Körperliche Aktivität hilft, Stresshormone abzubauen und dem Gehirn zu signalisieren, dass die Gefahr vorüber ist.

  • Sport: Regelmäßige körperliche Aktivität hilft, das ausgeschüttete Adrenalin und Cortisol abzubauen und signalisiert dem Gehirn, dass die Gefahr vorüber ist.
  • Ausschütteln: Schüttle für ein paar Minuten den Stress aus dir heraus, ähnlich wie eine Gazelle, die vor einem Löwen geflüchtet ist.
  • Yoga: Yoga verbindet körperorientierte Ansätze mit Atemarbeit und kann besonders effektiv sein, um das Nervensystem zu beruhigen.
  • Tanzen: Erstell dir eine Playlist mit Liedern, zu denen du dich gern bewegst und fang einfach an. Es muss nicht „schön“ sein, im Gegenteil, es kann sogar sehr befreiend sein, bewusst „komisch“ zu tanzen, auch wenn es sich anfangs sehr ungewohnt anfühlt.
  • Spaziergang: Ein zügiger Spaziergang kann dein System sanft in Gang bringen. Das bewusste, etwas schnellere Gehen bringt Energie ins System - ohne zu überfordern. Spür den Boden, atme bewusst und bleib in Bewegung.
  • Erdung: Stelle im Sitzen deine Füße flach auf den Boden. Gehen sie zwischen Vorderfuß und Ferse hin und her: Heben Sie den Vorderfuß an und senken Sie den Vorderfuß. Und heben Sie die Ferse an und senken Sie die Ferse. Gehen sie mehrere Minuten lang durch einige Zyklen.
  • Knie beugen: Beugen Sie im Stehen Ihr Knie ein wenig und entriegeln Sie es. Nutzen Sie Wartezeiten, in denen sie für einige Momente stehen (Öffentliche Verkehrsmittel, Kassen, Fahrstühle etc.), um sicherzustellen, dass Ihre Knie flexibel sind.
  • Schaukeln: Durch sogenanntes »wrapping and rocking«, also durch Einhüllen und sanftes Schaukeln, kann sich der Vagusnerv ebenfalls entspannen. Im Erwachsenenalter kann dafür eine Hängematte oder ein Schaukelstuhl dienen.

Vagusnerv-Stimulation

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Vagusnerv direkt zu stimulieren:

  • Singen und Summen: Singen und Summen aktivieren den Vagusnerv auf sanfte Weise, besonders durch die Schwingung im Kehlbereich.
  • Gurgeln: Gurgeln aktiviert die Muskeln im Rachen und stimuliert den Vagusnerv.
  • Kältereize: Eine kurze kalte Dusche am Morgen kann den Sympathikus dämpfen und den Vagusnerv aktivieren.
  • Selbstmassage: Lege seitlich beide Handflächen außen an den Hals und streiche mit sanften, kreisenden Bewegungen zwischen Ohr und Schulterübergang über die Haut.
  • Akupressur: Drücke für eine Selbst-Akupressur den Punkt in der Ohrmuschel, der mit dem Vagusnerv in Verbindung steht, 30 Sekunden lang und lasse ihn wieder los. Wiederhole dies mehrmals.
  • Mimik-Übung: Schau in den Spiegel und beginne mit der unteren Gesichtshälfte, indem du den Mund erst möglichst breit auseinander und dann so stark wie möglich zusammenziehst. Wiederhole das fünfmal. Nun geht es weiter zur oberen Gesichtshälfte und zur Übung mit den Augen: Hebe deine Augenbrauen so weit nach oben wie möglich und reiße dabei die Augen auf. Dann zieh die Augenbrauen ganz nach unten und kneife die Augen fest zusammen. Wiederhole auch das fünfmal.

Achtsamkeit und Meditation

Regelmäßige Meditation und Achtsamkeitsübungen können den Geist und das Nervensystem beruhigen und die Stressresilienz stärken.

  • Yoga Nidra / NSDR: Yoga Nidra ist eine geführte Meditationstechnik, die in einen Zustand tiefer Entspannung führt.
  • Orientierungsübung: Setze dich entspannt hin und lasse deinen Blick langsam durch den Raum wandern. Nimm Farben, Licht und Formen wahr.
  • Pendulation: Lenke deine Aufmerksamkeit von einem entspannten Bereich deines Körpers zu einer angespannten Stelle und zurück, um das Nervensystem sanft zu regulieren.

Weitere hilfreiche Strategien

  • Soziale Interaktion: Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen vermitteln dem Gehirn, dass die Welt ein sicherer Ort ist.
  • Schlafhygiene: Sorge für ausreichend Schlaf, um das Nervensystem zu beruhigen.
  • Emotionen zulassen: Erlaube dir, deine Emotionen herauszulassen, auch wenn es bedeutet, zu weinen.
  • Lavendelöl: Ätherisches Lavendelöl kann helfen, in stressigen Zeiten abzuschalten.
  • Praktische Orientierung durch Verstehen von Struktur und Planung Orientieren Sie sich praktisch in einer komplexen Situation, indem Sie dieser Struktur geben. Erwägen Sie die Verwendung von Flussdiagrammen, Organigrammen oder Zahlenübersichten, um die Situation zu verstehen.

Übungen zur Förderung der Sicherheit

  • Langsamer Blickwechsel: Lass deinen Blick ganz langsam durch den Raum schweifen und betrachte alles, als wäre es äußerst interessant. Drehe dabei deinen Kopf, sodass sich dein Hals bewegt.
  • Hände auflegen: Lege deine Hände dort auf deinen Körper, wo es sich angenehm anfühlt (z.B. auf den Herzraum, die Augen oder den Bauch).
  • Sicherheitsgeräusche und -gerüche: Welche Geräusche und Gerüche bedeuten Sicherheit? Versuche, diese bewusst wahrzunehmen.

Umgang mit Über- und Untererregung

  • Übererregung: Verlangsame dein Tempo, verlängere den Ausatem und gib deinem Körper einen Kanal, um überschüssige Energie kontrolliert abzugeben (z.B. durch Drücken gegen eine Wand).
  • Untererregung: Bringe sanft Energie ins System durch Selbstmassage, Tanzen oder einen zügigen Spaziergang.

Integration in den Alltag

  • Routinen: Integriere die Übungen in deine täglichen Routinen, z.B. beim Zähneputzen oder in der Mittagspause.
  • Erinnerungen: Nutze Erinnerungen, wie z.B. eine bestimmte Uhrzeit oder ein bestimmtes Ereignis, um dich an die Übungen zu erinnern.
  • Verbindungen: Verbinde die Übungen mit anderen Aktivitäten, die dir Freude bereiten, z.B. Spaziergänge in der Natur oder das Hören von Musik.
  • Flexibilität: Sei flexibel und passe die Übungen an deine Bedürfnisse und Möglichkeiten an.

Symptome einer Vagusnerv-Verspannung

Eine Vagusnerv-Verspannung kann sich durch verschiedene Symptome äußern:

  • Unterstimulation: Ständiger Aktions- und Alarmzustand, heruntergefahrene Körperfunktionen, Konflikte im Umfeld, zu viel Arbeit, Reizüberflutung, wenig soziale Nähe.
  • Überstimulation: Trägheit, Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Übelkeit, Sodbrennen, niedriger Blutdruck, Ohnmacht, gestörte Bindungsmuster.
  • Entzündung: Schluckbeschwerden, schmerzhaftes Husten, Heiserkeit.

Wichtiger Hinweis

Bei der Selbstregulation geht es nicht darum, unangenehme Gefühle grundsätzlich "wegzumachen". Es geht darum, dem Nervensystem beizubringen, lebendig zu "pulsieren" und zwischen den Zuständen zu wechseln.

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