Unser kreatives Gehirn: Funktionen, Forschung und Förderung

"Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele." Dieses Zitat von Pablo Picasso trifft den Kern dessen, was viele von uns beim Betrachten oder Schaffen von Kunst empfinden. Es ist diese befreiende Wirkung der Kunst, die uns kurz die Sorgen und den Stress des Alltags vergessen lässt und in eine Welt der Kreativität und Inspiration entführt. Aber was genau passiert in unserem Gehirn, wenn wir Kunst betrachten oder selbst künstlerisch tätig werden? In diesem Beitrag tauchen wir in die Welt der Neurowissenschaften ein und erkunden, wie Kunst unser Gehirn beeinflusst.

Die Neurowissenschaft der Kreativität

Kreativität ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Neuronennetzwerke. Obwohl bereits große Teile des Gehirns erforscht sind, liegen die Funktionsweisen unzähliger Vorgänge noch im Dunkeln - vor allem jene, die keiner konkreten Region im Gehirn zugeschrieben werden können. Seit Jahrzehnten versuchen Hirnforscher, ein neuronales Merkmal mit Erfindungsreichtum in Verbindung zu bringen: relativ langsame Hirnaktivitäten im Alpha-Frequenzbereich von 8 bis 13 Hertz. Die Annahme ist folgende: Ist man gerade kreativ, verstärken sich die Hirnwellen in diesem Frequenzbereich. Das deute auf einen Zustand ungerichteter Aufmerksamkeit hin, während dessen bestimmte “kontrollierende” Areale des Cortex heruntergefahren werden. In diesem Zustand sei man offener auch für scheinbar weniger relevante Informationen und Ideen - und das könne kreativ machen. Das Problem ist nur: In vielen Studien nehmen die Alpha-Hirnwellen während kreativer Leistungen sogar ab.

Das Default Mode Network (DMN) und Kreativität

Eine aktuelle Studie hat sich dennoch mit der Frage beschäftigt, wie Kreativität im Hirn entsteht und wie sie gefördert werden kann. In der Studie rückt das sogenannte Default Mode Network (DMN) in den Mittelpunkt der Forschung. Das DMN ist ein Netzwerk, das im Gehirn für Gedankenabläufe zuständig ist, die unabhängig von konkreten Handlungen oder Aufgaben im Ruhezustand stattfinden. „Im Gegensatz zu den meisten Funktionen, die wir im Gehirn haben, ist das DMN nicht zielgerichtet“, sagt Ben Shofty, Neurochirurg und Hauptautor der Studie. Das DMN ist bei der Meditation, beim Tagträumen und anderen nach innen gerichteten Denkweisen aktiv und im Gehirn über mehrere Regionen hinweg verteilt. Um die Aktivität des DMN zu messen, müssen deshalb fortschrittliche bildgebende Methoden genutzt werden. Diese bildgebenden Verfahren nutzen die Forschenden für ihre Studie. Während sie die Aktivität im DMN ihrer Proband*innen maßen, mussten sich diese neue Verwendungsmöglichkeiten für alltägliche Objekte ausdenken, beispielsweise für einen Stuhl oder eine Tasse. Beim Brainstorming für Ideen leuchtete das DM-Netzwerk auf, bevor sich die Hirnaktivität mit anderen Regionen synchronisierte, die normalerweise beim Lösen komplexer Probleme oder beim Treffen von Entscheidungen aktiv werden.

Ein zweiter Versuch, bei dem die Forschenden mithilfe von Elektroden die Aktivität bestimmter Regionen des DMN ausschalteten, bestätigte ihre Hypothese.

Zusammenspiel der Hirnhälften

Vor Kurzem spielten 32 Jazzmusiker im Namen der Wissenschaft, während Elektroden Signale aus ihren Köpfen aufzeichneten. Ihre Untersuchung zeigte, dass eine andere Gehirnstruktur besonders wichtig zu sein scheint: Die kreativsten Menschen sind wohl jene, deren Hirnhälften besonders gut miteinander verknüpft sind. Denn Kreativität ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Neuronennetzwerke. So auch bei den Jazzmusikern: Welche der beiden aktiven Gehirnhälften die andere beim kreativen Improvisieren ein wenig übertraf, hing in erster Linie von der Erfahrung ab: Profis improvisierten mit einer aktiveren linken Gehirnhälfte. Die Psychologie und die Neurowissenschaften tun sich bis heute schwer damit, Kreativität im Labor zu fassen. Anders als etwa Aufmerksamkeit oder das Gedächtnis lässt sich die Schöpfergabe nicht so leicht auf frischer Tat ertappen. So kann man beispielsweise nicht einfach einen Probanden in den Scanner legen und ihm sagen: Sei kreativ!

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Kreativität und Hirnregionen

Kreativität nimmt nicht nur beide Hirnhälften in Anspruch, sondern auch viele verschiedene Hirnregionen. Allerdings scheint die Schöpferkraft mit keiner einzigen besonders in Verbindung zu stehen. Die einzige Ausnahme bildet der präfrontale Cortex im Stirnhirn, der bei vielen höheren geistigen Prozessen zum Zuge kommt. Zu diesem Schluss kamen die Psychologen Arne Dietrich und Riam Kanso von der American University of Beirut 2010 nach einer Auswertung von Dutzenden Studien. Welche Rolle der präfrontale Cortex aber genau spielt, bleibe fraglich, so die Forscher. Beispielsweise zeigte 2008 eine Studie von Charles Limb von der Johns-​Hopkins-​Universität und Allan Braun von den National Institutes of Health: der dorsolaterale präfrontale Cortex fuhr seine Aktivität herunter, wenn Jazzmusiker mit einem speziellen Keyboard im Hirnscanner improvisierten. Diese Region ist normalerweise dann besonders im Spiel, wenn es um Kontrolle geht, etwa wenn man sich selbst beim Sprechen zensiert. Limb und Braun glauben, dass bei der Improvisation genau die Impulse abgeschaltet werden, die ansonsten den freien Fluss der Ideen bremsen könnten.

Genetische und erlernte Aspekte der Kreativität

Einen erheblichen Teil unserer Kreativität bestimmen die Gene. Sie beeinflussen Eigenschaften, die besonders häufig mit hoher Kreativität einhergehen - etwa Intelligenz oder Offenheit für neue Erfahrungen. Bei der Fähigkeit, kreative Leistungen zu erbringen - das ist die gute Nachricht -, sieht es indes anders aus. Das Abschneiden in Kreativitätstests ist eher erlernt als durch die Gene bestimmt. Dieser Teil der Kreativität lässt sich daher trainieren. Ihr Ergebnis: Größtenteils funktionieren die Programme - und zwar unabhängig von Alter und Intelligenz der Lernenden.

Neuroplastizität und Kreativität

Obwohl das menschliche Gehirn nach der frühen Kindheit nur in wenigen Hirnregionen neue Neuronen bildet, bleibt es durch Neuroplastizität bemerkenswert anpassungsfähig. Neuroplastizität beschreibt, wie sich Verbindungen zwischen Neuronen durch Aktivität und Erfahrung verändern. Diese Fähigkeit ist entscheidend für unser Lernen, Gedächtnis und die Heilung nach Verletzungen. Ein Aspekt dessen ist die synaptische Plastizität. Sie beschreibt die Veränderung der Stärke von Synapsen, die durch wiederholte Nutzung verstärkt oder durch Inaktivität geschwächt werden. Diese dynamische Anpassungsfähigkeit ist grundlegend für die kontinuierliche Anpassung unseres Gehirns. Kreative Aktivitäten fördern neue, gesunde neuronale Verbindungen und beeinflussen das Gehirn so positiv. Wiederholte Aktivitäten formen und festigen die neuronalen Netzwerke.

Einflussfaktoren auf die Kreativität

Substanzen und Kreativität

Wohl die meisten haben es schon versucht: mit Kaffee der eigenen Inspiration auf die Sprünge zu helfen. Immerhin fühlen wir uns so häufig wacher. Etwas besser sieht es mit Alkohol aus: Tatsächlich fanden Forscher aus Graz heraus, dass Bier in kleinen Mengen helfen kann, Probleme einfallsreich zu lösen. Allerdings schnitten die Probanden nicht besser ab, wenn es ums Finden völlig neuer Ideen ging. Ob das Ergebnis nach ein paar Bier mehr immer noch so gut ausfällt, wurde nicht ermittelt. Am besten untersucht ist wohl der kreativitätssteigernde Effekt von Halluzinogenen wie LSD. Verschiedene Studien belegen: Ein Trip kann durchaus kreativ machen, aber eben nicht selten zu einem hohen Preis. Wer seine Kreativität mithilfe von Substanzen fördern möchte und zugleich seiner Gesundheit nicht schaden will, der sollte: Tee trinken.

Geschlecht und Kreativität

Wissenschaftler der Duke University in den USA zeigten Probanden ein Bild eines Hauses und fragten: Für wie kreativ halten Sie den Architekten dieses Gebäudes? Die Antwort fiel sehr unterschiedlich aus - je nachdem, ob die Wissenschaftler zuvor behauptet hatten, dass der Entwurf von einer Frau oder von einem Mann stamme. Diese und viele andere Studien belegen: Bei gleicher Leistung wird die Arbeit von Frauen im Schnitt als weniger kreativ wahrgenommen. Haltbare Belege für ein kreativeres Geschlecht gibt es derweil keine. Welchen Einfluss das Arbeitsumfeld haben kann, zeigten Forscher am Beispiel der Konkurrenz: Sie gaben gemischtgeschlechtlichen Teams eine kreative Aufgabe, die sie einmal gegeneinander, einmal miteinander lösen sollten. Standen die Teams in direktem Wettkampf, liefen die Männer zu Höchstform auf; Frauen zogen sich in Diskussionen immer weiter zurück.

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Musik und Kreativität

Und tatsächlich: Wer beispielsweise beim Brainstorming Gute-Laune-Musik hört, dem fallen mehr ungewöhnliche Ideen ein. Das fanden Forscher an der Radboud University in Nijmegen und der University of Technology in Sydney heraus. Sie beeinträchtigt das verbale Arbeitsgedächtnis, das für die Verarbeitung von Worten, aber auch Zahlen und benennbaren Objekten zuständig ist. Dabei ist die Art von Musik egal - ob fröhlich oder traurig, ob Klassik oder Pop. Wer Stille nicht aushält, macht Musik daher besser nach dem ersten Brainstorming aus und sorgt für eine leise, aber doch bewegte Geräuschkulisse.

Risikobereitschaft und Kreativität

Besonders kreative Geister grübeln nicht allzu viel und stürzen sich neugierig ins Unbekannte, heißt es oft. Doch wer den Mut für einen Bungee-Sprung aufbringt, gründet deshalb noch lange kein Start-up. Denn auf die Frage nach dem Zusammenspiel von Kreativität und Risikofreude gibt es keine einfache Antwort. Vor wenigen Jahren wollten Forscher endgültig Licht ins Dunkel bringen und untersuchten die Risikobereitschaft in fünf Bereichen: Finanzen, Gesundheit, Moral, Soziales und Hobbys. Dann testeten sie Studienteilnehmer hinsichtlich Risikobereitschaft und Kreativität. In fast allen Bereichen zeigten sich die besonders kreativen Probanden als nicht risikofreudiger. Einzige Ausnahme waren Risiken in der Kategorie Soziales.

Handpräferenz und Kreativität

Ganz so einfach ist es aber nicht. Tatsächlich sind Linkshänder in künstlerischen Berufen überrepräsentiert, und statistisch scheint es durchaus Unterschiede zwischen Links- und Rechtshändern zu geben. Bei schwierigen Aufgaben, etwa der Zuordnung von mathematischen Funktionen zu gegebenen Daten, schneiden Linkshänder in der Regel ein wenig besser ab. Doch ob daran eine größere rechte Hirnhälfte oder ein dickerer Nervenstrang zwischen beiden Gehirnhälften schuld ist, ist nicht klar. Doch gibt es vielleicht beim Ideenreichtum einen Unterschied? Forscher aus den Niederlanden wollten eine Antwort finden: Sie ließen gut 20 000 Testpersonen Informationen zu sich und ihrer bevorzugten Hand angeben und danach einige Kreativitätstests absolvieren. Das Ergebnis: Linkshänder hielten sich zwar für kreativer, waren es aber nicht.

Kreativität und Persönlichkeit

Ein weiteres probates Mittel, die Kreativität einzukreisen, besteht darin, sich die Persönlichkeit von schöpferischen Menschen anzuschauen. 1998 förderte der Psychologe Gregory Feist von der San José State University in einer Meta-​Analyse eine Reihe von typischen Merkmalen kreativer Köpfe zutage: Menschen aus den Bereichen Wissenschaft und Kunst zeigten sich unter anderem offener gegenüber neuen Erfahrungen als Menschen aus anderen Berufsgruppen. Sie waren weniger konventionell, autonomer und zweifelten eher an Normen. Gleichzeitig benahmen sie sich aber auch impulsiver und feindseliger. Nach der Vermutung von Feist gehört zur Kreativität eine gehörige Portion Ungeselligkeit. Als Künstler müsse man allein sein können. Schließlich könne man in Gesellschaft kein Buch schreiben oder eine Symphonie komponieren. Künstler hätten ein über das normale Maß hinausgehendes Bedürfnis, ihre Aufmerksamkeit und Energien nach innen zu richten. Ihre Feindseligkeit könne unter anderem daher rühren, dass sie ihre Schöpfungen gegenüber ihren Mitmenschen verteidigen müssen. Um originell zu sein, müsse man sich von anderen unterscheiden. “Es ist viel einfacher, anders zu sein und seine eigene Perspektive zu entwickeln, wenn man allein ist”, so Feist. Offen zu sein dagegen - das hatten schon andere Forscher vermutet -, sei eng damit verknüpft, gegenüber Problemen geistig flexibel zu reagieren und über den eigenen Tellerrand zu schauen.

Kreativität fördern

Erste Ansätze zum Verbessern der Kreativität gibt es bereits. Eine Studie aus dem Jahr 2020 hat beispielsweise die Verbindung zwischen Achtsamkeitsübungen und Kreativität untersucht. Zu diesen Aktivitäten gehört auch die Meditation. „Bewusstes Umherschweifen der Gedanken kann zu neuen Ideen oder neuen Verbindungen anregen“, heißt es in der Studie. Künftig will Shofty Wege finden, Menschen zu helfen, denen kreatives Denken schwerfällt.

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Kunsttherapie

Kunsttherapie nutzt diese Prinzipien, um psychologische Veränderungen zu fördern. Der Ansatz der Art Therapy Relational Neuroscience (ATR-N) integriert diese neuronale Wissen mit der Praxis der Kunsttherapie und zielt darauf ab, negative zwischenmenschliche Verbindungen durch positive zu ersetzen. Die Kunsttherapie hat sich als wirksam bei der Behandlung verschiedener neurologischer und psychologischer Störungen erwiesen. So untersuchte eine Studie die Wirkung von Kunsttherapie auf Parkinson-Patienten. Die Ergebnisse zeigten, dass Kunsttherapie die visuell-perzeptiven Fähigkeiten und die Augenbewegungen der Patienten verbessern kann, was auf eine erhöhte funktionelle Konnektivität im Gehirn hinweist. Ein weiteres interessantes Anwendungsgebiet der Kunsttherapie ist die Behandlung von altersbedingtem kognitiven Verfall. Eine Studie von Yu et al. (2021) zeigte, dass Kunsttherapie bei älteren Erwachsenen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung zu Verbesserungen im Arbeitsgedächtnis und in der unmittelbaren Erinnerung führte. Diese kognitiven Gewinne wurden von strukturellen Veränderungen im präfrontalen Kortex begleitet, einem Bereich, der für komplexe kognitive Prozesse zuständig ist. Die langfristige kognitive Stimulation durch regelmäßige Kunsttherapie-Sitzungen kann somit dazu beitragen, den kognitiven Verfall zu verzögern und die Lebensqualität älterer Menschen zu verbessern. Neben den kognitiven Vorteilen hat Kunst auch positive Auswirkungen auf die emotionale Gesundheit. Kunsttherapie wird zudem erfolgreich eingesetzt, um Stress abzubauen, Angstzustände zu lindern und das emotionale Wohlbefinden zu verbessern. So kann Kunst tatsächlich auch unsere Stresshormone beeinflussen. Das Stresshormon Cortisol, das im Blut und Speichel vorkommt, wird vom Gehirn reguliert und dient als objektives Maß für das Stressniveau. Eine Studie von Beerse et al. (2020) verglich die Effekte einer achtsamkeitsbasierten Kunsttherapie (MBAT) mit einer neutralen Knetaufgabe (NCT). Über fünf Wochen zeigte sich, dass beide Gruppen einen Rückgang des Speichelcortisolspiegels verzeichneten.

Fazit

Kunst ist mehr als nur eine Form der Selbstexpression; sie ist ein kraftvolles Werkzeug zur Förderung des Gehirns. Von der Verbesserung kognitiver Fähigkeiten über die Förderung der neuronalen Plastizität bis hin zur Unterstützung der emotionalen Gesundheit bietet Kunst vielfältige Vorteile. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung von Kunst in der Therapie und im täglichen Leben als Mittel zur Förderung des geistigen Wohlbefindens und der kognitiven Gesundheit. Die Zukunft der Kunsttherapie liegt in der Integration von Neurowissenschaften und neuen Technologien. Diese Entwicklungen versprechen, das Verständnis und die Wirksamkeit von kunsttherapeutischen Interventionen zu vertiefen und den therapeutischen Nutzen der Kunst weiter auszubauen.

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