Demenz ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Die Krankheit betrifft nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch ihre Familien und die Gesellschaft als Ganzes. In den letzten Jahren hat die Forschung zunehmend die positiven Auswirkungen von Musik und Gesang auf Menschen mit Demenz hervorgehoben. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel ist das Projekt "Unvergesslich - Unser Chor für Menschen mit Demenz", das vom ZDF begleitet und von der Schauspielerin Annette Frier unterstützt wurde.
Ein Chor entsteht: Lebensfreude trotz Demenz
Im Januar 2020 startete ein ungewöhnliches und herzerwärmendes Projekt: Die Schauspielerin Annette Frier, bekannt für ihre stimmgewaltige Präsenz, und der Musiker Eddi Hüneke, ehemaliges Mitglied der A-cappella-Gruppe Wise Guys, gründeten einen Chor für Menschen mit Demenz. Ihr Ziel war es, herauszufinden, ob gemeinsames Singen das Wohlbefinden und den Lebensmut der Betroffenen steigern kann. Das ZDF begleitete dieses Vorhaben über einen Zeitraum von drei Monaten und dokumentierte die Erfahrungen der Chormitglieder und ihrer Angehörigen in der vierteiligen Reihe "Unvergesslich - Unser Chor für Menschen mit Demenz".
Die Dokumentation zeigt die emotionale und herausfordernde Reise der Chormitglieder, von der ersten Begegnung bis zum Abschlusskonzert. Annette Frier war nicht nur Moderatorin, sondern auch selbst Teil des Chores, was die Sendung besonders authentisch und berührend machte.
Wissenschaftliche Begleitung durch die Goethe-Universität Frankfurt
Um die Auswirkungen des Singens auf Menschen mit Demenz wissenschaftlich zu untersuchen, wurde das Projekt von einem Team aus dem Bereich Altersmedizin der Goethe-Universität Frankfurt begleitet. Die Forscher um Prof. Dr. Johannes Pantel untersuchten, wie sich das Singen und die Teilhabe an einer Gemeinschaft auf die Lebenssituation der demenziell veränderten Menschen und ihrer Angehörigen auswirkt.
Im Fokus der Forscher standen auch deren Angehörige, deren Leben fast gleichsam durch die Krankheit geprägt sind.
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Methodik der Studie
Die Studie umfasste verschiedene Messungen und Beobachtungen. So wurden beispielsweise der Cortisolspiegel im Speichel der Teilnehmer gemessen, um ihren Stresslevel zu bestimmen. Zudem füllten die Angehörigen vor und nach den Chorproben Beobachtungsbögen aus, um Veränderungen im Verhalten und Wohlbefinden der Chormitglieder festzuhalten. Um zu erklären, was bei einer Demenz im Gehirn passiert, legten sich etwa Chormitglieder - und Moderatorin Frier - in ein MRT-Gerät des Uniklinikums.
Ergebnisse der Studie
Die Ergebnisse der Studie waren vielversprechend. Sie zeigten, dass das regelmäßige Chorsingen zu einer deutlichen Steigerung des emotionalen Wohlbefindens der Teilnehmer führte. Zudem konnte eine Minderung des Stresslevels nachgewiesen werden. Die Angehörigen berichteten ebenfalls von positiven Veränderungen, wie beispielsweise einer Verbesserung der depressiven Symptomatik.
Die Frankfurter Altersmedizinerinnen und -mediziner stellten „signifikante Steigerungen des emotionalen Wohlbefindens, eine Stabilisierung der subjektiv eingeschätzten Lebensqualität sowie eine statistisch relevante Reduktion des Stresslevels fest“, nachweisbar über Analysen des Cortisolspiegels im Speichel. Die begleitenden Angehörigen wiesen eine signifikante Verbesserung der depressiven Symptomatik auf.
Das Repertoire: Von Volksliedern bis Evergreens
Bei den Chorproben wurden sowohl klassische Volkslieder als auch lebensbejahende Evergreens wie "Und immer wieder geht die Sonne auf" von Udo Jürgens oder "Über den Wolken" von Reinhard Mey einstudiert. Die Auswahl der Lieder erfolgte unter Berücksichtigung der Vorlieben und Fähigkeiten der Chormitglieder.
Ein musikalisches Medikament: Die Wirkung des Singens
Annette Frier beschreibt das gemeinsame Musizieren als eine Art "Medikament" für Menschen mit Demenz. Sie betont, dass es zwar keine Heilung für die Krankheit gibt, aber dass das Singen Linderung verschaffen und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern kann. „Ich finde die Idee einen Chor zu gründen so reizvoll […]. Es ist keine Heilung, aber es ist Linderung. Es ist wie ein Medikament. Dieses gemeinsame Musizieren habe ich als absolute Pille empfunden“ so Annette Frier.
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Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten machen seit über 30 Jahren in ihrer musiktherapeutischen Arbeit die Erfahrung, dass aktives Musizieren und Singen das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz steigert, Stress abbaut und die Beziehungsfähigkeit stärkt. Wenn Musik als emotionale Sprache qualifiziert mit einem individualisierten musikalischen Therapieangebot eingesetzt wird, bleibt noch lange ein Zugang zu einem wichtigen Teil der Persönlichkeit erhalten.
Musik als Schlüssel zur Erinnerung
Musik hat die einzigartige Fähigkeit, Erinnerungen wachzurufen und Emotionen zu aktivieren. Bei Menschen mit Demenz, bei denen das Gedächtnis oft stark beeinträchtigt ist, kann Musik einen Zugang zu vergangenen Erlebnissen und Gefühlen ermöglichen. Sich an die Musik in der frühen Biografie zu erinnern, fördert kognitive Fähigkeiten wie die Strukturierung und das Erleben von Zeit. Musik ist in vielen Regionen des Gehirns aktiv, sie aktiviert Gefühle, die in der Demenz nicht verloren gehen. Dass Musik ein Leben lang erhalten bleibt, belegen die Ergebnisse der Neurowissenschaften immer wieder.
Gemeinschaft und soziale Interaktion
Neben den positiven Auswirkungen auf das individuelle Wohlbefinden fördert das gemeinsame Singen auch die soziale Interaktion und das Gemeinschaftsgefühl. Menschen mit Demenz sind oft von sozialer Isolation betroffen. Ein Chor bietet ihnen die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, Freundschaften zu schließen und sich als Teil einer Gruppe zu fühlen.
Auszeichnungen und positive Resonanz
Die ZDF-Dokureihe "Unvergesslich - Unser Chor für Menschen mit Demenz" stieß auf große Resonanz beim Publikum und wurde mit dem Health Media Award 2020 ausgezeichnet. Zuschauer gaben enorme und durchweg positive Rückmeldung nach der Ausstrahlung der Sendung im ZDF. Die Auszeichnung würdigt die Bedeutung des Projekts für die Aufklärung über Demenz und die Förderung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz.
Der Chor lebt weiter: Proben und Auftritte
Auch nach Abschluss der Dreharbeiten und der wissenschaftlichen Studie besteht der Chor weiter. Die mittlerweile angefreundete Gemeinschaft der Menschen mit Demenz samt ihrer Begleiter trifft sich regelmäßig zu Proben im KastanienHof. Unter der Leitung von Tobias Hebbelmann üben sie neue Lieder ein und bereiten sich auf Auftritte vor.
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Annette Frier sagte dazu nach dem ersten großen Konzert: "Ich bin überglücklich, dass die Stiftung vom KastanienHof das möglich macht. Man kann es nicht anders beschreiben, es ist das pure Glück." Das Organisationsteam zählt jede weitere Probe ganz klar zum Erfolg des Projekts.
Frühlings- und Sommerfeste
Neben den regelmäßigen Proben feiert der Chor auch gemeinsame Feste, wie beispielsweise ein Frühlingsfest im März 2022, bei dem neue Schlagerlieder ausgewählt und einstudiert wurden, und ein Sommerfest mit Grillen. Diese Veranstaltungen stärken den Zusammenhalt der Gruppe und tragen zur Lebensfreude der Chormitglieder bei.
Musiktherapie als wichtiger Bestandteil der Demenzversorgung
Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMtG) begrüßt das ZDF-Chorprojekt und betont die Bedeutung der Musiktherapie für Menschen mit Demenz. Sie fordert, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die positiven Auswirkungen von Musik in praktische politische Handlungen umgesetzt werden und Musiktherapie finanziert werden kann.
Gleichzeitig hat Musiktherapie eine unmittelbare Auswirkung auf das Miteinander und die sozialen Beziehungen und das ist bedeutend für die Lebensqualität.