Einleitung
Die Vagusnervstimulation (VNS) hat sich als eine vielversprechende Therapieoption für Patienten mit therapieresistenter Epilepsie etabliert. Dieses Verfahren, das die elektrische Stimulation des Nervus vagus beinhaltet, wird zunehmend auch in Europa eingesetzt, nachdem es im Juli 1997 von der Food and Drug Administration (FDA) zugelassen wurde. Weltweit wurden bereits über 8.000 Patienten mit einem VNS-Gerät versorgt, davon etwa 300 im deutschsprachigen Raum.
Grundlagen der Vagusnervstimulation
Historischer Hintergrund
Die Beobachtung, dass die Stimulation des Nervus vagus das EEG beeinflussen kann, reicht bis ins Jahr 1938 zurück, als Bailey und Bremer feststellten, dass die Stimulation des Nervus vagus eine schnelle Aktivität im EEG produzieren konnte. In den folgenden Jahrzehnten replizierten andere Autoren diese Ergebnisse, was Mitte der 1980er-Jahre zur Idee führte, diese Methode zur Behandlung epileptischer Anfälle einzusetzen.
Der Nervus Vagus und seine Bedeutung
Der Nervus vagus, der zehnte Hirnnerv, schien aus mehreren Gründen besonders geeignet für die Behandlung von Epilepsie:
- Er ist zu 80 Prozent afferent und enthält keine schmerzleitenden Fasern.
- Sein primäres Zielgebiet, der Nucleus tractus solitarius, hat Projektionen zu vielen Hirnregionen, insbesondere zu den medialen Strukturen des limbischen Systems, die oft bei Epilepsie eine Rolle spielen.
- Der Vagusnerv ist ein paarig angelegter Nerv, der dem Gehirn entspringt und in der Tiefe auf beiden Halsseiten bis zum Bauch verläuft. Er vermittelt zwischen einer Vielzahl von Körperfunktionen wie Herzfrequenz, Verdauung und Atmung.
Implantation und Funktionsweise des VNS-Geräts
Das VNS-Gerät wird ähnlich wie ein Herzschrittmacher unterhalb der linken Clavicula in der vorderen Axillarlinie implantiert. Es wird in der Regel so programmiert, dass es rund um die Uhr in regelmäßigen Abständen (z. B. alle fünf Minuten) für eine bestimmte Dauer (z. B. 30 Sekunden) den Nervus vagus stimuliert. Die Stimulationsparameter können individuell angepasst werden (Stromstärke: 0,25 bis 3 mA, Frequenz der Pulse: 20 bis 30 Hz, Pulsweite: 250 oder 500 μs, Stimulationsdauer 7 bis 30 Sekunden, Stimulationspause 12 Sekunden bis 5 Minuten). Zusätzlich kann der Patient mit einem Magneten transkutan eine zusätzliche Stimulation auslösen, beispielsweise bei einer beginnenden Aura.
Klinische Evidenz und Wirksamkeit
Antikonvulsive Wirkung
Mehrere kontrollierte multizentrische Studien haben eine antikonvulsive Wirkung der VNS nachgewiesen, die mit der Wirkung von Add-On-Antiepileptika der neuen Generation vergleichbar ist. Bei etwa 30 Prozent der Patienten reduziert sich die Anfallshäufigkeit um mehr als 50 Prozent (Response). Langzeitbeobachtungen zeigen, dass die Behandlungseffekte stabil bleiben und sich die Anfallskontrolle in der offenen Beobachtungsphase sogar noch bis zu 18 Monate nach der Implantation verbessern kann.
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Auswirkungen auf Befinden und Lebensqualität
Die Behandlung mit VNS wirkt sich positiv auf das Befinden und die Lebensqualität der Patienten aus, oft unabhängig von der Verbesserung der Anfallskontrolle. Viele Patienten berichten bereits frühzeitig eine verbesserte Lebensqualität.
VNS bei Depression
Eine erst kürzlich veröffentlichte Studie deutet darauf hin, dass VNS auch für die Behandlung schwer depressiver Patienten (ohne Epilepsie) geeignet sein könnte. Dies eröffnet ein weiteres potenzielles Einsatzgebiet für dieses Verfahren. Die VNS ist als Zusatztherapie für „chronische und wiederkehrende Depressionen in Patient*innen, die sich in einer mit therapieresistenten oder therapieintoleranten depressiven Episode befinden“ zugelassen.
Ergebnisse der Bonner Universitätsklinik für Epileptologie
In der Universitätsklinik für Epileptologie in Bonn wurde seit Februar 1998 bei insgesamt 92 Patienten ein Vagusnerv-Stimulator implantiert (72 Erwachsene und 20 Kinder). Von den 46 beurteilbaren Erwachsenen waren 15 (33 Prozent) Responder (mehr als 50-prozentige Reduktion in der Anfallsfrequenz), zwei dieser Patienten waren dauerhaft anfallsfrei. 17 Patienten (37 Prozent) zeigten eine Reduktion zwischen 20 und 50 Prozent. Über 50 Prozent der Erwachsenen berichteten, dass die Anfälle weniger schwer oder kürzer seien, und 59 Prozent gaben eine Verbesserung der Lebensqualität seit der Implantation an. Bei den Kindern waren drei (23 Prozent) Responder und 69 Prozent zeigten eine Verbesserung der Lebensqualität. Psychologische Untersuchungen der Bonner Patienten ergaben keine Hinweise auf kognitive Langzeiteffekte der VNS, bestätigten aber die positive Wirkung auf das Befinden.
Nebenwirkungen und Verträglichkeit
Das Nebenwirkungsprofil der VNS ist in der Regel unproblematisch und umfasst stimulationsabhängige Tonlagenänderungen der Stimme, Heiserkeit, Kribbelparästhesien im Halsbereich und Kehlkopfdruck. Die typische Heiserkeit während der Stimulationsphase wird von den Patienten meist nur als mild ausgeprägt und nicht belastend empfunden. Insgesamt ist die Verträglichkeit gut, und nur wenige Patienten wünschen die Beendigung der Behandlung aufgrund von Nebenwirkungen. In Kombination mit Medikamenten kommt es nicht zu einer Zunahme von Nebenwirkungen.
Wirkmechanismus
Der genaue Wirkmechanismus der VNS ist noch nicht vollständig geklärt, sowohl hinsichtlich der Anfallskontrolle als auch der positiven affektiven Wirkung. Bildgebende Verfahren wie PET und fMRT haben gezeigt, dass VNS eine Vielzahl von Hirnarealen aktiviert. Es ist jedoch noch unklar, ob die VNS vor allem ipsi- oder kontralaterale Aktivierungen bewirkt. Im Tierexperiment wurde nachgewiesen, dass eine Läsion des Locus coeruleus die antikonvulsiven Effekte der VNS reduziert, was auf eine besondere Funktion dieses Hirnareals für die Anfallsreduktion hindeutet.
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Die vagalen Hirnstamm-Nuclei haben sowohl direkte Faserverbindungen zum präfrontalen Kortex und zum insulären Kortex, als auch subkortikale Verbindung zu Hypothalamus, Cingulum, Hippokampus und Amygdala. In diesen Hirnstrukturen konnten funktionelle Imaging Studien (PET, SPECT und fMRT) von Patient*innen mit therapieresistenter Depression, die mit VNS behandelt worden sind, zunehmende Stoffwechsel- und Durchblutungsveränderungen im Zeitverlauf zeigen.
Der VNS-Schrittmacher sendet regelmäßig elektrische Impulse (meist alle 5 Minuten über 30 Sekunden) an den Vagusnerv, die Aktionspotentiale der Vagusfasern auslösen. Efferent sich ausbreitende Aktionspotentiale werden zum größten Teil durch die Anode der Elektrode blockiert, währen afferent sich ausbreitende Aktionspotentiale im Hirnstamm die Aktivität des Nucleus Tractus Solitarius (NTS) steigern, der 80% der vagalen Afferenzen erhält. Der NTS projiziert zu den dorsalen Raphekernen, (Hauptproduktionsstätte von Serotonin im Gehirn), und zum Locus Coeruleus, (Hauptproduktionsstätte von Noradrenalin im Gehirn). In Tiermodellen steigt unter VNS sowohl die Stoffwechselaktivität als auch die Feuerungsrate in beiden Kerngebieten. Dies ist wahrscheinlich die neurophysiologische Ursache für die erhöhten Noradrenalin- und Serotoninmetaboliten-Konzentrationen im Liquor von VNS-behandelten Patient*innen.
Kosten und Wirtschaftlichkeit
Die Initialkosten für Gerät und Implantation sind mit circa 14.000 DM sehr hoch und liegen deutlich über den Kosten einer Pharmakotherapie. Kosten-Nutzen-Analysen zeigen jedoch, dass eine VNS die Kosten, die in der Gruppe der schwerst betroffenen Patienten durch Notfallaufnahmen und Arztbesuche entstehen, deutlich senken kann. Die hohen Initialkosten amortisieren sich in etwa zwei bis drei Jahren; die Laufzeit des Geräts beträgt circa fünf Jahre.
Transkutane Vagusnervstimulation (t-VNS)
Eine Weiterentwicklung der konventionellen VNS ist die transkutane Vagusnervstimulation (t-VNS), bei der die Stimulation des Vagusnervs über eine am Ohr platzierte Elektrode durch die Haut erfolgt. Im Gegensatz zur VNS ist bei der t-VNS keine Operation notwendig, und die Patientin oder der Patient kann die Stimulation selbstständig und während der normalen Tätigkeit im Alltag anwenden. Die t-VNS hat nach Einschätzung des G-BA das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative im Vergleich zur alleinigen Pharmakotherapie. Die Wirksamkeit bei der Anregung übers Ohr ist vergleichbar mit der invasiven Stimulation. Daher kann es sinnvoll sein, erst einmal diese Methode für sich zu testen, bevor man sich ein Gerät zur VNS implantieren lässt.
TRAVAST-Studie
Um den G-BA in die Lage zu versetzen, eine abschließende Bewertung des Nutzens der „Transkutanen Vagusnervstimulation bei pharmakoresistenter Epilepsie“ durchzuführen, sollen im Wege der Erprobung die hierfür notwendigen Erkenntnisse für die Bewertung des Nutzens der Methode gewonnen werden. Die TRAVAST-Studie wird durch den G-BA finanziert, Basis ist die entsprechende Erprobungs-Richtlinie. Die Behandlungskosten der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer tragen die gesetzlichen Krankenkassen. Die Erprobungsstudie soll klären, ob die transkutane Vagusnervstimulation (t-VNS) bei Patientinnen und Patienten mit Epilepsie, die auf ihre medikamentöse Behandlung nicht ausreichend ansprechen und für einen epilepsie-chirurgischen Eingriff ungeeignet sind oder diesen ablehnen, zu einer relevanten Veränderung des Anfallsgeschehens führt. Vergleichsintervention ist eine sogenannte Scheinbehandlung, bei der der Vagusnerv nicht oder nicht ausreichend stimuliert wird.
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Aufgaben der unabhängigen wissenschaftlichen Institution (UWI)
Die jetzt als UWI beauftragte Bietergemeinschaft wird auf Basis der Erprobungs-Richtlinie des G-BA das Studienprotokoll erstellen, geeignete Studienzentren auswählen sowie später die Daten auswerten und den Abschlussbericht verfassen.
tags: #Vagusnervstimulation #Epilepsie