Vererbte neurologische Erkrankungen: Eine umfassende Übersicht

Vererbte neurologische Erkrankungen umfassen eine vielfältige Gruppe von Erkrankungen, die durch genetische Veränderungen verursacht werden und das Nervensystem beeinträchtigen. Diese Erkrankungen können sich in jedem Alter manifestieren, von der Geburt bis zum Erwachsenenalter, und eine breite Palette von neurologischen und psychiatrischen Symptomen verursachen. Die Neurogenetik spielt eine entscheidende Rolle bei der Aufklärung der genetischen Ursachen dieser Erkrankungen und ermöglicht eine gezielte Diagnostik, genetische Beratung und potenziell zukünftige Therapien.

Neurogenetik: Schlüssel zur Aufklärung erblicher neurologischer Erkrankungen

Die Neurogenetik ist ein interdisziplinäres Feld, das sich mit der Erforschung der genetischen Grundlagen neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen befasst. Ziel ist es, die Gene zu identifizieren, die für die Entwicklung und Funktion des Nervensystems von Bedeutung sind, sowie die Mechanismen ihrer Wechselwirkungen zu verstehen.

In den letzten Jahrzehnten wurden Hunderte von Genen identifiziert, die mit neurogenetischen Erkrankungen in Verbindung stehen. Aktuelle Forschungsergebnisse haben direkten Einfluss auf die diagnostischen Verfahren im Labor sowie auf die Aufklärung und Beratung von Patienten und Familien. So können beispielsweise Mutationen in verschiedenen Genen, die sich auf unterschiedlichen Chromosomen befinden, klinisch nicht unterscheidbare Formen der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathie (HMSN) verursachen. Andererseits können verschiedene Mutationen in demselben Gen, das für eine Untereinheit eines Kalziumkanals kodiert, zu klinisch unterschiedlichen Krankheitsentitäten führen, wie z. B. hemiplegische Migräne, episodische Ataxie oder eine Kombination aus beidem, beeinflusst durch Umweltfaktoren.

Die Neurogenetik befasst sich auch mit der Vererbung dieser Erkrankungen und bildet somit die Grundlage für die genetische Beratung betroffener Familien. Die Vererbungsmuster neurogenetischer Erkrankungen sind entscheidend für die Risikobeurteilung und die Planung von Familien.

Diagnostisches Vorgehen in der Neurogenetik

Die DNA-Diagnostik umfasst häufig ein gestuftes Vorgehen. Zunächst werden die häufigsten Mutationen getestet, bevor durch umfangreiche und kostenintensive Panel-Verfahren auch seltene genetische Ursachen in parallelen Ansätzen ermittelt werden.

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Die genetische Untersuchung sollte gezielt und nur dann vorgenommen werden, wenn eine Verdachtsdiagnose vorliegt, die nur durch einen humangenetischen Befund ausgeschlossen oder gesichert werden kann. Die Patientinnen/Patienten sind dann in jedem Fall entsprechend aufzuklären, und es soll eine genetische Beratung angeboten werden (siehe GenDG §§ 9, 10). Bei vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen ist eine schwangere Frau grundsätzlich genetisch zu beraten (GenDG § 15).

Häufige Gruppen vererbter neurologischer Erkrankungen

Nachfolgend sind einige der häufigeren Krankheitsgruppen aufgeführt, für die genetische Ursachen identifiziert wurden:

Entwicklungsstörungen im Neugeborenen- und Kindesalter

In der Neuropädiatrie spielen genetische Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Pathogenese von Entwicklungsstörungen. Häufig sind numerische und strukturelle Chromosomenstörungen nachweisbar, ebenso wie Genmutationen, die monogen vererbte Syndrome verursachen, wie z. B. das relativ häufige Fragile-X-Syndrom. Diagnostische Genpanels für Entwicklungsstörungen können bis zu mehrere hundert Gene umfassen, die parallel sequenziert werden. Analysiert werden zunächst nur diejenigen Gene, die mit dem klinischen Bild assoziiert erscheinen. Für diagnostische Fragestellungen können die einzelnen Genpanels separat oder in Kombination eingesetzt werden.

Neuromuskuläre Erkrankungen

Neuromuskuläre Erkrankungen betreffen die Muskulatur, die Vorderhornzellen des Rückenmarks oder die motorischen Endplatten und führen zum Leitsymptom der Muskelschwäche. Die Differentialdiagnostik erfordert neben der eingehenden klinischen Untersuchung im Muskelzentrum den detaillierten Familienstammbaum, Elektrophysiologie sowie Muskelbiopsie mit spezialisierter (Immun-)Histologie. In vielen Fällen erlaubt jedoch lediglich die molekulargenetische Analyse die exakte Diagnose festzulegen.

Beispiele für neuromuskuläre Erkrankungen sind die Dystrophinopathien (Morbus Duchenne, Becker), zahlreiche Formen der Gliedergürtel-Muskeldystrophien, Myotone Dystrophien, Muskelatrophien (spinale Muskelatrophie, SMA) und die spinobulbäre Muskelatrophie (Typ Kennedy; SBMA). Für die genannten und viele andere Erkrankungen dieses Formenkreises sind die Vererbungsmuster genau bekannt und die genetischen Defekte direkt nachweisbar. Sofern die klinische Diagnose weniger spezifisch bleibt, stehen mehrere Genpanels je nach Erkrankungsgruppe zur Verfügung.

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Peripheres Nervensystem - Polyneuropathien

Die meisten Polyneuropathien sind nicht unmittelbar genetischen Ursprungs. Dennoch erlaubt oftmals nur die umfassende molekulargenetische Diagnostik eine eindeutige Festlegung der Diagnose bzw. der kausalen Pathogenese. Die hereditären Polyneuropathien sind durch Stoffwechsel- und Strukturdefekte bedingt; einige dutzend Gene (2017: >60) können bekanntermaßen mutiert sein, ohne dass die klinische Untersuchung incl. Labor eine Differentialdiagnostik erlauben würde. Hereditäre motorisch-sensible Neuropathien (HMSN oder CMT für Charcot-Marie-Tooth Erkrankung) werden je nach klinischem Verständnis in bis zu sieben Gruppen unterteilt. Abhängig von den klinischen Vorbefunden werden verschiedene umfangreiche Genpanels eingesetzt.

Typische Symptome der HMSN sind Muskelschwäche beziehungsweise Lähmungen (Paresen) in den Extremitäten und Muskelschwund (Atrophie), meist beginnend in Fuß und Unterschenkel. Die Unterschenkel verlieren aufgrund des Muskelabbaus an Masse und es kommt zu sogenannten Storchenbeinen. Auch die oberen Extremitäten können betroffen sein, insbesondere die kleinen Handmuskeln. Aufgrund zahlreicher beteiligter Nerven können Empfindungs- sowie Durchblutungsstörungen (sensorische, autonome, vegetative Störungen) auftreten.

Axonale/neuronale HMSN: Die Nervenfaser (der die Signale weiterleitende Teil der Nervenzellen) ist betroffen und stirbt vollständig ab. Die HMSN sind die am häufigsten auftretenden erblichen neurologischen Erkrankungen, die in unterschiedlichen Ausprägungen bereits 1886 von Jean-Martin Charcot, Pierre Marie und Howard Tooth (daher auch Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung) sowie 1893 von Déjérine und Sottas beschrieben wurden.

Epilepsien

Epileptische Anfälle sind bedingt durch episodische Funktionsstörungen von Nervenzellen, die durch exzessive neurale Entladungen infolge gesteigerter Erregbarkeit ausgelöst werden. Epilepsie ist eine häufige, klinisch und genetisch sehr heterogene Erkrankung, die bis zu 1% der Bevölkerung betrifft. Ungefähr ein Drittel der Fälle beruht auf exogenen Faktoren (Traumata, Tumore, Infektionen, Toxine etc.). Bei beinahe zwei Drittel der Epilepsien bleibt die Ätiologie weitgehend kryptogen oder idiopathisch und ist wahrscheinlich meist multifaktoriell bedingt.

Zunehmend mehr offensichtlich monogen bedingte Epilepsie-Formen wie die der Frontallappenepilepsien oder progressiven myoklonischen Epilepsien können molekulargenetisch abgeklärt werden. Diagnostische Genpanels für Epilepsie umfassen bis zu mehrere hundert Gene, die parallel sequenziert werden. Analysiert werden zunächst diejenigen Gene, die mit dem klinischen Bild assoziiert erscheinen. Für diagnostische Fragestellungen können die einzelnen Genpanels separat oder in Kombination eingesetzt werden.

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Neurodegenerative Erkrankungen

Neurodegenerative Leiden sind mitunter monogen bedingte Erkrankungen des Kindes- bis Erwachsenenalters, die aufgrund vorzeitiger Degeneration bestimmter Zellen und Strukturen des Nervensystems zu entsprechenden neurologischen Symptomen führen. Hierzu zählt u.a. die Modellerkrankung Morbus Huntington, die autosomal-dominant vererbten spinozerebellären Ataxien incl. der Friedreich Ataxie. Daneben kann auch Morbus Alzheimer (Hälfte aller Demenzfälle; 4.-häufigste Todesursache in Industrieländern) in seinen allerdings seltenen hereditären Formen durch Mutationen in einigen Genen bestätigt werden, sofern nicht multifaktoriell bedingt. Desweiteren können nach Mendel vererbte Parkinson-Formen sowie auch Amyotrophe Lateralsklerose angeführt werden.

Aufgrund einer zentralen distalen Axonopathie im Rückenmark (Tractus corticospinalis, Hinterstränge) entstehen multiple Formen der hereditären spastischen Spinalparalyse, die gemäß unterschiedlicher Erbgänge weitergegeben werden. Aufgrund der extremen genetischen Heterogenität dieses klinischen Bilds kommen nach initialer Abklärung der häufigsten Typen zunehmend umfangreichere Genpanels in der DNA-Sequenzanalyse zum differentialdiagnostischen Einsatz. Trinukleotidblock-Expansionserkrankungen (M. Huntington, Spinocerebelläre Ataxien, FRAX-Syndrom etc.) werden durch Längenbestimmung des expandierten Blocks abgeklärt.

Im Alter gehen oft Nervenzellen und Zellfunktionen verloren. Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung nimmt in Deutschland stetig zu. Weil sie eng mit den Alterungsprozessen verbunden sind, gelten neurodegenerative Erkrankungen daher als wichtige medizinische Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Schon heute schätzen Expertinnen und Experten, dass rund 1,5 Millionen Deutsche an einer Demenz erkrankt sind. Neben der Parkinson-Erkrankung und verschiedenen Demenzformen gibt es eine ganze Reihe weiterer neurodegenerativer Erkrankungen.

Phakomatosen (neurokutane Syndrome)

Haut und Nervensystem entwickeln sich jeweils aus dem Ektoderm. Neurokutane Syndrome zeichnen sich definitionsgemäß durch Symptomkombinationen mit unterschiedlichen Hautbefunden unter Beteiligung des peripheren und/oder zentralen Nervensystems aus.

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Die Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, ist eine neurodegenerative Erkrankung, die eine ganz bestimmte Gruppe von Nervenzellen betrifft: die motorischen Nervenzellen, auch Motoneuronen genannt. Sie befinden sich in Gehirn und Rückenmark und sind für die Steuerung der Muskeln zuständig. Die Motoneuronen werden durch die Krankheit zerstört. Die Folge sind fortschreitende Muskellähmungen.

Bei etwa fünf Prozent der ALS-Patientinnen und -Patienten wird die Krankheit vererbt, sie tritt familiär gehäuft auf. Durch eine Genveränderung ist der Zellstoffwechsel der Betroffenen in Mitleidenschaft gezogen, was letztlich zur Schädigung der Nervenzellen führt.

Chorea Huntington (Huntington-Krankheit)

Chorea Huntington, auch „Huntington-Krankheit“ oder „Morbus Huntington“ genannt, ist eine vererbbare Erkrankung des Gehirns. Sie wurde nach dem US-amerikanischen Arzt George Huntington benannt, der die Krankheit 1872 als erster wissenschaftlich beschrieb.

Ursache der Erkrankung ist ein Gendefekt. Die Huntington Krankheit ist genetisch bedingt und wird autosomal dominant vererbt. Das heißt: Gibt ein betroffenes Elternteil das veränderte Gen an seine Kinder weiter, erkranken diese zwangsläufig ebenfalls.

Spezialisierte Zentren und Anlaufstellen

Für Patienten und Patientinnen mit Verdacht auf eine seltene oder vererbte neurologische Erkrankung gibt es spezialisierte Zentren und Anlaufstellen. Das Zentrum für Seltene Neurologische Erkrankungen (ZSNE) am Universitätsklinikum Tübingen bietet Spezialambulanzen für familiär gehäuft vorkommende neurologische Erkrankungen und insbesondere für vererbte Bewegungsstörungen an. Das Zentrum ist darauf spezialisiert, die genetischen Ursachen der seltenen Erkrankung aufzudecken und Patienten und Patientinnen mit genetisch bedingten neurologischen Erkrankungen zu betreuen.

Bedeutung der genetischen Beratung

Nicht selten melden sich auch gesunde Angehörige eines Patienten, in deren Familie eine erbliche spätmanifeste neurologische Erkrankung bestätigt wurde oder vermutet wird. Sie sind besorgt und möchten Klarheit, ob sie oder ihre eigenen Kinder später auch erkranken können. Wenn in der Familie die ursächliche Genveränderung bekannt ist, kann diesen gesunden Angehörigen - sofern für sie ein erhöhtes Risiko einer Anlageträgerschaft besteht - nach genetischer Beratung eine sogenannte "prädiktive" (vorhersagende) genetische Untersuchung angeboten werden.

Die Kenntnis einer solchen Anlageträgerschaft kann dann erheblich belasten und in vielfältiger Weise in den weiteren Lebensplan der getesteten Person und seine persönlichen Beziehungen hineinwirken. Wichtig ist, dass Sie möglichst vor dem ersten Termin bei uns mit Fragen zu einer solchen prädiktiven Testung in Ruhe zu Hause Ihre privaten Versicherungsverträge prüfen und ggf. notwendige weitere Verträge (z.B. Risikolebensversicherung, private Kranken-und Pflegeversicherung) vorher abschließen.

Forschung und zukünftige Perspektiven

Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE) erforscht die Ursachen von Störungen des Nervensystems und entwickelt Strategien zur Prävention, Therapie und Pflege bei Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Amyotrophe Lateralsklerose (ALS).

Es besteht ein dringender Bedarf an weiteren Forschungsanstrengungen, um die komplexen genetischen und molekularen Mechanismen zu verstehen, die diesen Erkrankungen zugrunde liegen. Dies wird die Entwicklung neuer und wirksamerer Therapien ermöglichen, die das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen oder sogar verhindern können.

Liste weiterer seltener vererbter neurologischer Erkrankungen

Neben den oben genannten häufigeren Gruppen gibt es eine Vielzahl seltener vererbter neurologischer Erkrankungen, darunter:

  • Dunbar-Syndrom
  • MEN (Multiple Endokrine Neoplasie)
  • Phenylketonurie (PKU)
  • Roberts-Syndrom
  • Tay-Sachs-Krankheit
  • Treacher-Collins-Syndrom
  • Turner-Syndrom
  • Van-der-Woude-Syndrom

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