Verhaltensstörungen bei Demenz (ICD-10): Ein umfassender Überblick

Einführung

Verhaltensstörungen bei Demenz, auch bekannt als "Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia" (BPSD), sind ein häufiges und belastendes Begleitphänomen von Demenzerkrankungen. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Aspekte von Verhaltensstörungen bei Demenz, basierend auf der ICD-10-Klassifikation und aktuellen Forschungsergebnissen.

Definition und Ätiologie

Die ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision) klassifiziert Demenz (F00-F03) als ein Syndrom, das aus einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns resultiert. Dabei sind mehrere höhere kortikale Funktionen gestört, darunter Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist dabei nicht getrübt.

Die kognitiven Beeinträchtigungen werden oft von Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleitet. Diese Veränderungen können auch früher auftreten als die kognitiven Defizite. Dieser Abschnitt umfasst eine Reihe psychischer Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt. Die Funktionsstörung kann primär sein, wie bei Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Gehirn direkt oder in besonderem Maße betreffen; oder sekundär wie bei systemischen Krankheiten oder Störungen, die das Gehirn als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen betreffen.

Klassifikation von Demenzformen nach ICD-10

Die ICD-10 unterscheidet verschiedene Formen von Demenz, die jeweils spezifische Merkmale aufweisen:

  • Demenz bei Alzheimer-Krankheit (F00): Eine primär degenerative zerebrale Krankheit mit unbekannter Ätiologie und charakteristischen neuropathologischen und neurochemischen Merkmalen. Sie wird weiter unterteilt in Demenz mit Beginn vor dem 65. Lebensjahr (F00.0) und Demenz mit Beginn ab dem 65. Lebensjahr (F00.1).
  • Vaskuläre Demenz (F01): Das Ergebnis einer Infarzierung des Gehirns als Folge einer vaskulären Krankheit, einschließlich der zerebrovaskulären Hypertonie. Die Infarkte sind meist klein, kumulieren aber in ihrer Wirkung. Diese entwickelt sich meist sehr schnell nach einer Reihe von Schlaganfällen als Folge von zerebrovaskulärer Thrombose, Embolie oder Blutung. Hierzu zählen Fälle mit Hypertonie in der Anamnese und ischämischen Herden im Marklager der Hemisphären.
  • Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten (F02): Formen der Demenz, bei denen eine andere Ursache als die Alzheimer-Krankheit oder eine zerebrovaskuläre Krankheit vorliegt oder vermutet wird. Dazu gehören:
    • Pick-Krankheit (F02.0): Eine progrediente Demenz mit Beginn im mittleren Lebensalter, charakterisiert durch frühe, langsam fortschreitende Persönlichkeitsänderung und Verlust sozialer Fähigkeiten.
    • Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (F02.1): Eine progrediente Demenz mit vielfältigen neurologischen Symptomen als Folge spezifischer neuropathologischer Veränderungen, die vermutlich durch ein übertragbares Agens verursacht werden. Beginn gewöhnlich im mittleren oder höheren Lebensalter, Auftreten jedoch in jedem Erwachsenenalter möglich.
    • Huntington-Krankheit (F02.2): Eine Demenz, die im Rahmen einer ausgeprägten Hirndegeneration auftritt. Die Störung ist autosomal dominant erblich. Die Symptomatik beginnt typischerweise im dritten und vierten Lebensjahrzehnt.
    • Demenz bei Parkinson-Krankheit (F02.3): Eine Demenz, die sich im Verlauf einer Parkinson-Krankheit entwickelt.
  • Nicht näher bezeichnete Demenz (F03): Diese Kategorie wird verwendet, wenn die spezifische Ursache der Demenz nicht festgestellt werden kann.

Psychische und Verhaltenssymptome bei Demenz (BPSD)

Psychische und Verhaltenssymptome treten sehr häufig im Rahmen von Demenzerkrankungen auf. Studien zeigen, dass etwa 65 % der Menschen mit Demenz solche Symptome entwickeln. Diese Symptome können eine erhebliche Belastung für Betroffene, Angehörige und Pflegepersonal darstellen.

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Häufige Symptome

Die Vielfalt der möglichen Symptome ist groß. Zu den häufigsten gehören:

  • Affektive Symptome: Depression, Angst, Reizbarkeit, Affektlabilität
  • Veränderungen des Antriebs: Apathie (Teilnahmslosigkeit), Agitation (innere Unruhe), Enthemmung
  • Psychotische Symptome: Wahnvorstellungen, Halluzinationen
  • Verhaltenssymptome: Aggression (verbal oder körperlich), Umherirren, Schreien, Schlafstörungen, Appetitstörungen, Zwangsstörungen

ICD-10 und Zusatzschlüsselnummern

Die ICD-10 ermöglicht die spezifische Angabe von psychischen oder Verhaltensstörungen durch die Verwendung von sekundären Schlüsselnummern (U63.-!). Wenn ein Delir oder akuter Verwirrtheitszustand die Demenz überlagert, kann dies durch eine zusätzliche Schlüsselnummer angegeben werden.

Weitere relevante Störungen im Kontext von Demenz (ICD-10)

Neben den spezifischen Demenzformen und den BPSD gibt es weitere Störungen, die im Kontext von Demenz relevant sein können und in der ICD-10 klassifiziert sind:

  • Amnestisches Syndrom (F04): Ein Syndrom mit deutlichen Beeinträchtigungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, bei erhaltenem Immediatgedächtnis. Es finden sich eine eingeschränkte Fähigkeit, neues Material zu erlernen und zeitliche Desorientierung. Konfabulation kann ein deutliches Merkmal sein, aber Wahrnehmung und andere kognitive Funktionen, einschließlich Intelligenz, sind gewöhnlich intakt.
  • Delir (F05): Ein ätiologisch unspezifisches hirnorganisches Syndrom, das charakterisiert ist durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins einerseits und mindestens zwei der nachfolgend genannten Störungen andererseits: Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität oder des Schlaf-Wach-Rhythmus.
  • Organische Halluzinose (F06.0): Eine Störung mit ständigen oder immer wieder auftretenden, meist optischen oder akustischen Halluzinationen bei klarer Bewusstseinslage. Sie können vom Patienten als Halluzinationen erkannt werden. Die Halluzinationen können wahnhaft verarbeitet werden, Wahn dominiert aber nicht das klinische Bild.
  • Organe Katatonie (F06.1): Eine Störung mit verminderter (Stupor) oder gesteigerter (Erregung) psychomotorischer Aktivität in Verbindung mit katatonen Symptomen.
  • Organische wahnhafte [schizophrenieähnliche] Störung (F06.2): Eine Störung, bei der anhaltende oder immer wieder auftretende Wahnideen das klinische Bild bestimmen. Die Wahnideen können von Halluzinationen begleitet werden.
  • Organische affektive Störung (F06.3): Störungen, die durch eine Veränderung der Stimmung oder des Affektes charakterisiert sind, meist zusammen mit einer Veränderung der gesamten Aktivitätslage.
  • Organische Angststörung (F06.4): Eine Störung, die charakterisiert ist durch Affektdurchlässigkeit oder -labilität, Ermüdbarkeit sowie eine Vielzahl körperlicher Missempfindungen.
  • Leichte kognitive Störung (F06.7): Eine Störung, die charakterisiert ist durch Gedächtnisstörungen, Lernschwierigkeiten und die verminderte Fähigkeit, sich längere Zeit auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Oft besteht ein Gefühl geistiger Ermüdung bei dem Versuch, Aufgaben zu lösen. Objektiv erfolgreiches Lernen wird subjektiv als schwierig empfunden. Keines dieser Symptome ist so schwerwiegend, dass die Diagnose einer Demenz (F00-F03) oder eines Delirs (F05.-) gestellt werden kann. Die Diagnose sollte nur in Verbindung mit einer körperlichen Krankheit gestellt und bei Vorliegen einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung aus dem Abschnitt F10-F99 nicht verwandt werden.
  • Organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F07): Diese Störung kann vor, während oder nach einer Vielzahl von zerebralen oder systemischen Infektionen oder anderen körperlichen Krankheiten auftreten. Der direkte Nachweis einer zerebralen Beteiligung ist aber nicht notwendig. Diese Störung ist charakterisiert durch eine auffällige Veränderung des gewohnten prämorbiden Verhaltensmusters und betrifft die Äußerung von Affekten, Bedürfnissen und Impulsen.

Spezifische organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F07)

  • Organische Persönlichkeitsstörung (F07.0): Diese Störung ist charakterisiert durch eine auffällige Veränderung des gewohnten prämorbiden Verhaltensmusters und betrifft die Äußerung von Affekten, Bedürfnissen und Impulsen. Eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten, des Denkvermögens und ein verändertes Sexualverhalten können ebenfalls Teil des klinischen Bildes sein. Zu den Subtypen gehören Frontalhirnsyndrom, Leukotomiesyndrom, Lobotomiesyndrom, organische Pseudopsychopathie und pseudoretardierte Persönlichkeit sowie Persönlichkeitsstörung bei limbischer Epilepsie.
  • Postenzephalitisches Syndrom (F07.1): Anhaltende unspezifische und uneinheitliche Verhaltensänderung nach einer viralen oder bakteriellen Enzephalitis. Das Syndrom ist reversibel; dies stellt den Hauptunterschied zu den organisch bedingten Persönlichkeitsstörungen dar.
  • Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma (F07.2): Das Syndrom folgt einem Schädeltrauma, das meist schwer genug ist, um zur Bewusstlosigkeit zu führen. Es besteht aus einer Reihe verschiedenartiger Symptome, wie Kopfschmerzen, Schwindel, Erschöpfung, Reizbarkeit, Schwierigkeiten bei Konzentration und geistigen Leistungen, Gedächtnisstörungen, Schlafstörungen und verminderter Belastungsfähigkeit für Stress, emotionale Reize oder Alkohol.

Diagnostik

Eine sorgfältige Diagnostik ist entscheidend, um Verhaltensstörungen bei Demenz richtig zu erkennen und von anderen Erkrankungen abzugrenzen. Die Diagnostik umfasst in der Regel:

  • Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte, einschließlich der Entwicklung der kognitiven und Verhaltenssymptome.
  • Körperliche Untersuchung: Um andere mögliche Ursachen für die Symptome auszuschließen.
  • Neurologische Untersuchung: Zur Beurteilung der neurologischen Funktionen.
  • Neuropsychologische Testung: Um die kognitiven Fähigkeiten zu beurteilen und das Vorliegen und den Schweregrad einer Demenz festzustellen. Standardisierte Testverfahren können auch zur Erfassung von BPSD eingesetzt werden.
  • Psychiatrische Beurteilung: Um psychische Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen zu erkennen.
  • Bildgebende Verfahren: CT oder MRT des Gehirns können helfen, strukturelle Veränderungen im Gehirn zu erkennen, die auf eine Demenz hindeuten.
  • Laboruntersuchungen: Um andere medizinische Ursachen für die Symptome auszuschließen.
  • Erfassung relevanter Faktoren: Wie z. B. Wohnumgebung, Medikation, Versorgungssituation und soziale Kontakte.

Die Abgrenzung von anderen organischen bzw. primären psychischen Erkrankungen sowie die Reaktion auf Schmerzen sind wichtige Aspekte der Diagnostik.

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Therapie

Die Therapie von Verhaltensstörungen bei Demenz zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen zu verbessern. Ein multimodaler Ansatz, der sowohl nicht-medikamentöse als auch medikamentöse Therapien umfasst, ist oft am wirksamsten.

Nicht-medikamentöse Behandlung

Die nicht-medikamentöse Behandlung sollte immer die erste Wahl sein, da sie in vielen Fällen wirksam ist und keine unerwünschten Nebenwirkungen verursacht. Zu den wichtigsten nicht-medikamentösen Maßnahmen gehören:

  • Anpassung von Einflussfaktoren: Dies umfasst die Anpassung der Umgebung, um Stressoren zu reduzieren und Sicherheit zu gewährleisten. Klare Kommunikation, Routinen und die Vermeidung von Reizüberflutung können ebenfalls hilfreich sein. Die Berücksichtigung von Komorbiditäten und Schmerzen ist ebenfalls wichtig.
  • Schulungen von Angehörigen und Pflegenden: Angehörige und Pflegende sollten über die Erkrankung, die Symptome und die geeigneten Umgangsstrategien informiert werden. Dies kann helfen, Stress abzubauen und die Qualität der Betreuung zu verbessern.
  • Pflegerische Maßnahmen: Eine gute pflegerische Versorgung, die auf die individuellen Bedürfnisse des Betroffenen eingeht, ist essenziell.
  • Kognitive, sensorische, aktivierende und körperliche Therapien: Diese Therapien können helfen, die kognitiven Fähigkeiten zu erhalten, die sensorische Stimulation zu fördern, die Aktivität zu steigern und die körperliche Gesundheit zu verbessern. Beispiele hierfür sind:
    • Realitätsorientierungstraining (ROT): Hilft, die Orientierung zu verbessern und die Verwirrung zu reduzieren.
    • Erinnerungstherapie: Fördert das Erinnern an vergangene Ereignisse und Erlebnisse, um das Selbstwertgefühl zu stärken und die Kommunikation zu fördern.
    • Musiktherapie: Kann helfen, Emotionen auszudrücken, Stress abzubauen und die soziale Interaktion zu fördern.
    • Bewegungstherapie: Kann helfen, die körperliche Gesundheit zu verbessern, die Stimmung zu heben und die Agitation zu reduzieren.
    • Ergotherapie: Hilft, die alltagspraktischen Fähigkeiten zu erhalten und die Selbstständigkeit zu fördern.

Psychopharmakotherapie

Eine Psychopharmakotherapie sollte nur in Akut- und Notfallsituationen oder bei unzureichendem Therapieansprechen der nicht-medikamentösen Maßnahmen in Betracht gezogen werden. Die Auswahl des geeigneten Medikaments sollte sorgfältig unter Berücksichtigung der individuellen Symptome, Begleiterkrankungen und möglichen Nebenwirkungen erfolgen.

Häufig eingesetzte Medikamentengruppen sind:

  • Antidepressiva: Zur Behandlung von Depressionen und Angstzuständen.
  • Antipsychotika: Zur Behandlung von psychotischen Symptomen wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen sowie zur Reduktion von Agitation und Aggression. Antipsychotika sollten aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils nur mit Vorsicht eingesetzt werden.
  • Anxiolytika: Zur Behandlung von Angstzuständen und Unruhe.
  • Stimmungsstabilisierer: Können bei affektiver Labilität und Aggression eingesetzt werden.
  • Cholinesterasehemmer und Memantin: Diese Medikamente werden primär zur Behandlung der kognitiven Symptome der Alzheimer-Krankheit eingesetzt, können aber auch einen positiven Effekt auf Verhaltenssymptome haben.

Es ist wichtig zu beachten, dass die Psychopharmakotherapie bei Demenz mit besonderen Risiken verbunden ist und eine engmaschige Überwachung erforderlich ist.

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Prävalenz

Die Prävalenz der Demenz beträgt ca. 10,5 % der Bevölkerung ≥ 65 Jahre. Hiervon zeigen ca. 65 % psychische und Verhaltenssymptome.

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