Vitamin D, oft als "Sonnenhormon" bezeichnet, spielt eine wichtige Rolle im menschlichen Körper. Es ist nicht nur für die Knochengesundheit unerlässlich, sondern beeinflusst auch das Immunsystem. Angesichts der Tatsache, dass Multiple Sklerose (MS) eine Autoimmunerkrankung ist, hat die Forschung intensiv untersucht, ob und wie Vitamin D den Krankheitsverlauf beeinflussen kann. Dieser Artikel fasst die aktuelle Studienlage zusammen und gibt Empfehlungen zur Vitamin-D-Supplementierung bei MS.
Vitamin D-Mangel als Risikofaktor für MS
Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass MS in Regionen, die weiter vom Äquator entfernt liegen, häufiger auftritt. Dies wird auf die geringere UV-Strahlung und den daraus resultierenden niedrigeren Vitamin-D-Spiegel zurückgeführt. Kinder und Jugendliche, die in sonnenreichen Regionen aufwachsen, entwickeln seltener MS. Studien haben gezeigt, dass niedrige Vitamin-D-Werte im Kindesalter das Risiko, später an MS zu erkranken, erhöhen können. Eine finnische Studie zeigte, dass Frauen, die später an MS erkrankten, bereits Jahre vor der Diagnose niedrigere Vitamin-D-Werte aufwiesen.
Aktuelle klinische Studien zu Vitamin D und MS
Eine Reihe von klinischen Studien hat die Wirkung von Vitamin D auf den Verlauf der MS untersucht. Hier sind einige bemerkenswerte Studien:
D-Lay MS-Studie
Eine randomisierte, placebokontrollierte, multizentrische Studie aus Frankreich untersuchte die Wirkung von Cholecalciferol (Vitamin D3) in einer Dosierung von 100.000 IU alle zwei Wochen bei Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom (CIS), dem mutmaßlich ersten Symptom einer MS. Die Studie ergab, dass die Vitamin-D-Gabe über zwei Jahre die Krankheitsaktivität signifikant reduzierte, definiert als das Auftreten von MS-Schüben und/oder neuen oder Kontrastmittel-aufnehmenden Läsionen im MRT. Die mediane Dauer bis zum Auftreten von Krankheitsaktivität war in der Vitamin-D-Gruppe signifikant länger (432 vs. 224 Tage). Auch die Ergebnisse der Bildgebung deuteten auf einen positiven Effekt der Vitamin-D-Gabe hin. In einer Subgruppenanalyse von Patienten, die die McDonald-Diagnosekriterien für eine schubförmig remittierende MS erfüllten, aber noch keine krankheitsmodifizierende Immuntherapien erhalten hatten, wurden vergleichbare positive Effekte beobachtet.
CHOLINE-Studie
Eine doppelblinde, placebokontrollierte Studie untersuchte die Wirkung von hochdosiertem oralem Cholecalciferol (100.000 IU alle zwei Wochen) in Kombination mit Interferon beta-1a bei Patienten mit schubförmig remittierender MS (RRMS) und niedrigen Vitamin-D-Spiegeln. Obwohl das primäre Behandlungsziel nicht erreicht wurde, zeigten die Daten bei Patienten, die die zweijährige Nachbeobachtungsphase beendeten, einen möglichen Behandlungseffekt von Cholecalciferol. Die jährliche Rückfallrate war signifikant reduziert, und es zeigten sich weniger neue hypointensive T1-gewichtete Läsionen im MRT mit einem geringeren Volumen solcher Läsionen. Auch eine geringere Progression der EDSS-Werte wurde unter Cholecalciferol nach zwei Jahren festgestellt.
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Weitere Studien
Eine randomisierte Studie aus Australien und Neuseeland aus dem Jahr 2023 zeigte keinen signifikanten Effekt einer täglichen Vitamin-D-Supplementierung von bis zu 10.000 IU auf die Konversion von CIS zu einer manifesten MS. Zwei noch nicht vollständig publizierte randomisierte Studien mit 172 bzw. 204 Teilnehmern sollen ebenfalls keinen Vorteil von Vitamin D (täglich 5.000 I.E. bzw. 1.000-10.000 I.E.) gegenüber niedrig dosiertem Vitamin D (täglich 600 I.E.) bzw. Placebo auf die Schubrate bei MS bzw. auf das Fortschreiten hin zu einer definitiven MS bei klinisch isoliertem Syndrom gezeigt haben.
Leitlinienempfehlungen und Sicherheit der Anwendung
Die aktuelle S3-Leitlinie zur MS-Therapie empfiehlt eine Vitamin-D-Gabe bei nachgewiesenem Mangel. Eine Anhebung des Spiegels bis in den oberen Normbereich (50 bis 125 nmol/l) kann in Einzelfällen erwogen werden, wobei die Tagesdosis von 4.000 IU nicht überschritten werden sollte. Experten warnen vor der eigenmächtigen Anwendung von Ultra-Hochdosis-Therapien, da diese mit schweren Nebenwirkungen wie Nierenschäden oder Herzrhythmusstörungen einhergehen können.
Das Coimbra-Protokoll
Das Coimbra-Protokoll ist eine umstrittene Therapiestrategie, bei der exzessiv hohe Dosierungen von Vitamin D zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen wie MS eingesetzt werden. Die Vitamin-D-Dosen sind so hoch (bis zu 150.000 I.E./Tag), dass gleichzeitig eine strikte kalziumarme Diät und eine hohe tägliche Trinkmenge eingehalten werden müssen. Es gibt keine randomisierten kontrollierten Studien, die den Nutzen dieses Protokolls belegen. Zudem bestehen gravierende Sicherheitsbedenken im Hinblick auf die ultrahohen Dosierungen von Vitamin D, da diese zu Vitamin-D-Intoxikationen führen können. Experten raten von der Anwendung des Coimbra-Protokolls dringend ab.
Praktische Konsequenzen für MS-Patienten
Die vorliegenden Studienergebnisse deuten darauf hin, dass Vitamin D eine Rolle bei der Modulation der Krankheitsaktivität in der frühen MS-Phase spielen könnte. Eine Vitamin-D-Bestimmung sollte daher zu Beginn der Erkrankung erfolgen, und ein Mangel sollte gezielt behandelt werden. Eine Vitamin D-Substitution darf jedoch nicht den Beginn einer Immuntherapie mit dafür zugelassenen Medikamenten verzögern.
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