Die Vorstellung, dass geschädigte Gehirnzellen sich nicht erneuern können, ist weit verbreitet. Doch die moderne Forschung zeigt ein differenzierteres Bild. Während einige Schäden im zentralen Nervensystem (ZNS) tatsächlich irreversibel sein können, gibt es Hinweise darauf, dass das Gehirn in bestimmten Bereichen und unter bestimmten Umständen durchaus zur Regeneration fähig ist. Dieser Artikel beleuchtet die aktuellen Forschungsergebnisse zum Nachwachsen von Gehirnzellen, die Voraussetzungen für die Regeneration und potenzielle Therapieansätze.
Schädigungen des Nervensystems und ihre Folgen
Verletzungen des Rückenmarks oder des Gehirns, beispielsweise nach schweren Unfällen oder Schlaganfällen, haben oft gravierende Folgen. Beim Schlaganfall führt eine Minderversorgung mit Blut zum Absterben von Gewebe, was Axone schädigt. Auch beim Glaukom, einer Augenkrankheit, werden Axone im Sehnerv geschädigt, was zum Absterben von Nervenzellen in der Netzhaut führt. Bei Multipler Sklerose (MS) werden die Myelinhüllen, die Axone schützen, durch Entzündungsprozesse geschädigt.
Im Gegensatz zu Nervenzellen in Armen, Beinen oder der Haut wachsen Nervenzellen im zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) kaum nach. Dies ist ein Grund, warum Querschnittsgelähmte mit verletztem Rückenmark oft nicht wieder laufen lernen können.
Voraussetzungen für die Regeneration von Nervenzellen
Die Entwicklung von Therapien zur Regeneration von Nervenzellen ist komplex. Damit eine Nervenzelle regenerieren kann, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein:
- Erhalt des Zellkörpers: Der Zellkörper der Nervenzelle muss am Leben erhalten werden, auch wenn das Axon durchtrennt ist.
- Produktion von Proteinen: Proteine müssen produziert werden, damit das Axon wieder wachsen kann.
- Beseitigung wachstumshemmender Faktoren: Wachstumshemmende Faktoren müssen beseitigt oder die Signalwege innerhalb des Wachstumskegels so verändert werden, dass sie unempfindlich gegenüber diesen Hemmstoffen werden.
- Zielfindung der Axone: Die Axone müssen dazu gebracht werden, beim Wachsen ihr ursprüngliches Zielgebiet wiederzufinden.
- Ausbildung stabiler Synapsen: Es müssen stabile Synapsen ausgebildet werden.
- Myelinisierung der Axone: Die Axone müssen wieder umhüllt, also myelinisiert werden.
Neue Erkenntnisse zur Neurogenese im Erwachsenenalter
Trotz der Herausforderungen gibt es ermutigende Hinweise darauf, dass auch das menschliche Gehirn in der Lage ist, neue Nervenzellen zu produzieren. Stammzellen spielen dabei eine entscheidende Rolle.
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Die Entdeckung einer "Autobahn" für Stammzellen
Forscher haben eine Art "Autobahn" für Stammzellen im Gehirn entdeckt. In der Nähe der flüssigkeitsgefüllten Hirnkammer liegen Stammzellen dicht gedrängt. Diese Zellen wandern über eine röhrenförmige Struktur, den "Rostral Migratory Stream", zum Riechhirn. Dort reifen sie zu Neuronen heran. Dies deutet darauf hin, dass das menschliche Gehirn selbst Nachschub für neue Neuronen liefern kann. Bereits 1998 wurden ähnliche Hinweise in einem evolutionär alten Bereich des Gehirns, dem Hippocampus, gefunden.
Studien an Verstorbenen und Schlaganfallpatienten
Eine Studie untersuchte die Gehirne von verstorbenen Frauen und Männern und konnte zeigen, dass Stammzellen von ihrem Reservoir in den Hirnkammern bis in die Riechkolben gewandert waren, wo sie sich zu reifen Neuronen entwickelt hatten. Andere Forscher fanden bei Patienten nach einem Schlaganfall ebenfalls neu gewachsene Nervenzellen.
Die Rolle des Hippocampus
Der Hippocampus, eine Hirnregion, die für das Gedächtnis wichtig ist, ist ein weiterer Bereich, in dem auch im Erwachsenenalter noch neue Nervenzellen entstehen. Forschende haben neuronale Vorläuferzellen im Hippocampus von Erwachsenen nachgewiesen.
Hemmende Faktoren und mögliche Lösungsansätze
Warum regenerieren sich Nervenzellen im ZNS nicht so gut wie im peripheren Nervensystem? Ein wichtiger Faktor ist das Narbengewebe, das sich nach Verletzungen bildet. Dieses Gewebe schützt die Zellen zwar vor weiteren Schäden, behindert aber auch das Auswachsen der Zellen.
Die Bedeutung der Mikrotubuli
Die Forschung hat gezeigt, dass die Stabilisierung zellinterner Protein-Röhrchen, der Mikrotubuli, eine wichtige Rolle beim Wachstum von Nervenzellen spielt. Werden Mikrotubuli destabilisiert, entsteht eine Verkürzungsknolle an der Spitze des Axons, die das Weiterwachsen verhindert. Der Wirkstoff Paclitaxel kann die Mikrotubuli stabilisieren und so das Wachstum von Nervenzellen fördern. In Zellkulturen konnten verletzte Nervenzellen des ZNS mithilfe von Paclitaxel sogar dann wieder auswachsen, wenn wachstumshemmende Substanzen vorhanden waren.
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Die Rolle der synaptischen Übertragung
Eine weitere Studie hat gezeigt, dass Proteine, die für die synaptische Übertragung zwischen Nervenzellen wichtig sind, das Auswachsen von Zellfortsätzen verhindern können. Die Forscher fanden heraus, dass die Proteine Munc13 und RIMs, die im präsynaptischen Endknöpfchen vorkommen, die Regeneration von Nervenzellen hemmen. Die Behandlung mit dem Medikament Baclofen, das die Erregbarkeit von Nervenzellen und die synaptische Übertragung verringert, regte das Wachstum und die Regeneration von Axonen im verletzten Rückenmark an.
Das Potenzial der Neuroplastizität
Auch wenn eine vollständige Regeneration geschädigter Nervenzellen oft nicht möglich ist, kann das Gehirn Schäden bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Nach einem Schlaganfall bildet die gesunde Seite des Gehirns oft neue Verknüpfungen in den geschädigten Teil aus, wodurch ein Teil der verloren gegangenen Funktion kompensiert werden kann. Solche Prozesse zu unterstützen, könnte ein vielversprechender Therapieansatz sein.
Therapieansätze und Zukunftsperspektiven
Die Forschung zum Nachwachsen von Gehirnzellen hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht und neue Therapieansätze eröffnet.
Stimulation des Oligodendrozytenwachstums
Forschern ist es gelungen, das Wachstum bestimmter Gehirnzellen, der Oligodendrozyten, zu stimulieren. Oligodendrozyten bilden Myelinscheiden, die die Nervenzellfortsätze umhüllen und für die schnelle Weitergabe von Signalen im Gehirn wichtig sind. Die Stimulation des Oligodendrozytenwachstums könnte ein vielversprechender Ansatz für die Therapie von neurologischen Krankheiten wie MS sein.
Gehirntraining und Neurogenese
Auch Gehirntraining kann die Neurogenese und die Bildung neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen unterstützen. Durch gezieltes Training können die Intelligenz und die mentalen Fähigkeiten verbessert werden.
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Muskel-Nerven-Verbindungen
Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass es eine Verbindung zwischen Muskeln und Nerven gibt. Regelmäßiges Training des Muskelgewebes kann die Produktion von biochemischen Signalen anregen, die das Wachstum von Nerven und Blutgefäßen fördern. Dies könnte für die Behandlung von Nervenverletzungen nützlich sein, bei denen die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln unterbrochen ist.
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