Walter Jens und die Demenz: Eine Auseinandersetzung mit Tilman Jens' Buch "Demenz – Abschied von meinem Vater"

Das Buch "Demenz - Abschied von meinem Vater" von Tilman Jens aus dem Jahr 2009, erschienen im Gütersloher Verlagshaus, ist ein Werk, das sowohl Zustimmung als auch Kritik hervorgerufen hat. Es behandelt die Demenzerkrankung seines Vaters Walter Jens, einem bekannten Professor aus Tübingen, Altphilologen und Literaturwissenschaftler. Die Kontroverse um das Buch dreht sich hauptsächlich um die Frage, ob es angemessen ist, die Krankheit eines noch lebenden Elternteils so detailliert und öffentlich zu beschreiben.

Inhalt und Schwerpunkte des Buches

Tilman Jens schildert in seinem Buch den langsamen, aber stetigen Verfall seines Vaters, der schließlich in Sprach- und Schriftlosigkeit endete. Er zeichnet ein Bild des Lebens der Familie Jens im intellektuellen Milieu von Tübingen, der Schreibbesessenheit des Vaters und dessen Angst vor dem Verlust seiner geistigen Fähigkeiten.

Annäherung und Biographie

Die Annäherung an den Vater, die Tilman Jens vom Abschied her beschreibt, wird auch zur eigenen Biographie. Er schildert das protestantische Milieu im Elternhaus sowie gemeinsam verbrachte Urlaube auf Sylt. Die Askese als Lebensprinzip, ein Leben in Sparsamkeit, ganz dem protestantischen Geist verpflichtet, wird in Erinnerung gerufen.

Der Verfallsprozess

Tilman Jens zeichnet den Verfallsprozess in aller Detailgenauigkeit nach, einen langsamen, aber kontinuierlichen Prozess, der letztendlich in der Sprach- und Schriftlosigkeit des Vaters endete, einen Krankheitsverlauf, der mit Höhen und Tiefen mittlerweile einen Zeitraum von fünf Jahren umspannt. Die Ängste um Walter Jens, das stückweise Verfallen, die Unruhe und innerliche Angst, das „distanzlose Verhalten“, wie es oft heißt, die den erfolgsverwöhnten Rhetoriker und intellektuellen Gedächtniskünstler ab 2004 immer mehr befiel, kommen dabei keineswegs im Stil der Abrechung einher.

Sterbehilfe und ethische Fragen

Angesichts der sich permanent verschlechternden Situation von Walter Jens wird auch immer wieder die Frage nach der aktiven Sterbehilfe gestellt, endlich dem in wachen Momenten geäußerten Wunsch um einen gnädigen Tod nachzukommen. In lichten Momenten äußert sich auch sein ambivalentes Verhältnis zum Tod. Walter Jens’ Todesbejahung einerseits, „Ich hätte schon längst tot sein sollen“ und „Nun ja, es muss ja nicht gerade heute passieren“ und „Aber schön ist es doch“ andererseits bleiben aber abstrakt, zeigen jedoch, daß der Kranke in irgendeiner Form über seinen Zustand „reflektiert“. Je mehr Walter Jens seinen Verstand verlor, so mehr zögerte er, den eigenen Thesen über ein menschenwürdiges Sterben zu folgen. Und immer wieder stellt sich die Frage, auch für den Sohn, auch für seine Frau Inge, ob der derzeitige Zustand des Vaters und Ehemanns noch lebenswürdig sei, ob man ihm, wenn man ihm diesem Wunsch nicht erfüllt, ein übergroßes Leid antut, vor dem er sich ein Leben lang bewahren wollte.

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Die Rolle der Pflege

Einzig Trost verschafft in der ausweglosen Situation, die aber keineswegs so ausweglos ist, weil Walter Jens in seinem neuen Leben Glücksmomente verspürt, die der Sohn genau registriert, die fürsorgende Aufopferung einer im Hause Jens neu angestellten Pflege- und Betreuungsperson, die sich aufopfernd um den Kranken kümmert, die ihn nimmt, wie er ist. Binnen weniger Tage ändert sich das Leben meines Vaters von Grund auf. Er hat nun einen neuen höchst emotionalen Bezugspunkt. Eine Gefährtin, die nicht notgedrungen traurig ist, weil die vertrauten Gespräche, die Fundament einer langen Ehe waren, verstummt sind, sondern den Kerl, so wie er ist, ganz einfach gern hat. Lang schon gehen die beiden wieder spazieren. Wenn er auf der Straße gegrüßt wird, dann strahlt er.

Kritik und Kontroversen

Die Veröffentlichung des Buches löste in den Medien eine heftige Debatte aus. Einige Kritiker warfen Tilman Jens "Vatermord" vor und sahen in der detaillierten Beschreibung des kranken Vaters eine "bemerkenswerte Geschmacklosigkeit". Sie argumentierten, dass sich Walter Jens aufgrund seiner Demenz nicht mehr gegen die Veröffentlichung wehren könne und dass sein Sohn ihn öffentlich zur Schau stelle. Andere wiederum verteidigten Tilman Jens und betonten, dass er ein würdiges Bild seines Vaters zeichne und dass das Buch dazu beitrage, das Thema Demenz in der Öffentlichkeit zu thematisieren.

Die NSDAP-Vergangenheit

Ein weiterer Kritikpunkt betraf den zweiten Teil des Buches, in dem Tilman Jens die NSDAP-Zugehörigkeit seines Vaters thematisiert. Die These, dass sich Walter Jens nach dem Bekanntwerden seiner Mitgliedskarte in die Krankheit geflüchtet habe, wurde als absurd und unpassend kritisiert. Es wurde argumentiert, dass diese Diskussion nicht zur Thematik der Demenz beitrage.

Rezeption und Bedeutung

Trotz der Kontroversen fand das Buch auch Anerkennung. Gelobt wurde vor allem die Offenheit, mit der Tilman Jens über den Krankheitsverlauf und seine eigenen Gefühle berichtet. Das Buch trug dazu bei, das Thema Demenz in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken und eine Diskussion über den Umgang mit Demenzkranken anzustoßen.

Das Juliana-Modell

Wie Stella Braam in ihrem Buch Ich habe Alzheimer, Wie die Krankheit sich anfühlt plädiert Tilman Jens für das dort angesprochene Juliana-Modell und fordert mit Nachdringlichkeit, daß diese Privatpflege auch in Deutschland zum Standard wird.

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Einblicke von Inge Jens

Inge Jens, die Ehefrau von Walter Jens, veröffentlichte ebenfalls Briefe und Berichte über die Demenzerkrankung ihres Mannes in ihrem Buch "Langsames Entschwinden. Vom Leben mit einem Demenzkranken". Sie schildert darin einfühlsam die Veränderungen, die durch die Krankheit verursacht wurden, und reflektiert offen ihre eigene Unsicherheit im Umgang mit dem Kranken. Zugleich ist sie sich bewusst, wie privilegiert ihre Situation als Angehörige war und dass die Akzeptanz und die Bezahlung von Pflegepersonal in unserer Gesellschaft dringend verbessert werden müssen.

Fazit

Tilman Jens' Buch "Demenz - Abschied von meinem Vater" ist ein Werk, das polarisiert und zum Nachdenken anregt. Es wirft wichtige Fragen zum Umgang mit Demenzkranken, zur Sterbehilfe und zur Rolle der Angehörigen auf. Trotz der Kontroversen hat das Buch dazu beigetragen, das Thema Demenz in der Öffentlichkeit zu enttabuisieren und eine wichtige Diskussion anzustoßen. Es bleibt ein wertvoller Beitrag zur Auseinandersetzung mit einer Krankheit, die in unserer alternden Gesellschaft immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Ergänzende Informationen

Walter Jens: Ein Leben für die Sprache

Walter Jens (1923-2013) war einer der bedeutendsten Intellektuellen Deutschlands. Er war Professor für Klassische Philologie und Rhetorik an der Universität Tübingen, ein bekannter Schriftsteller, Essayist und Literaturkritiker. Jens engagierte sich zeitlebens für eine humane Gesellschaft und setzte sich kritisch mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Seine Demenzerkrankung und der Verlust seiner sprachlichen Fähigkeiten waren für ihn und sein Umfeld eine besonders tragische Erfahrung.

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