Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes Organ, dessen Entwicklung ein komplexer und dynamischer Prozess ist, der von der pränatalen Phase bis ins junge Erwachsenenalter andauert. Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht und liefert uns ein immer detaillierteres Bild davon, wie sich dieses Organ entwickelt und wie Lernen und Erfahrung seine Struktur und Funktion beeinflussen. Dieser Artikel beleuchtet die wichtigsten Phasen der Gehirnentwicklung, die zugrunde liegenden Prozesse und die Faktoren, die diese beeinflussen können.
Die Struktur des Gehirns: Ein Überblick
Um die Entwicklung des Gehirns zu verstehen, ist es hilfreich, sich zunächst einen Überblick über seine Struktur zu verschaffen. Das Gehirn eines Erwachsenen wiegt durchschnittlich 1.245 g bei Frauen und 1.375 g bei Männern. Es besteht aus verschiedenen Bereichen, die jeweils spezifische Funktionen erfüllen:
- Großhirn: Nimmt den größten Platz ein und besteht aus zwei Hälften (Hemisphären), die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind. Die linke Hemisphäre ist vor allem für Sprache, Denkprozesse, Mathematik und Logik zuständig, während die rechte Hemisphäre visuell-räumliche Wahrnehmung, Gefühle, Kreativität, Fantasie, Kunst und Musik verarbeitet. Zum Großhirn gehört auch das limbische System, das emotionale Reaktionen steuert.
- Stirnlappen: Umfasst etwa 25 % der Gehirnmasse und ist für die Kontrolle der Motorik, die grammatikalische Verarbeitung der Sprache (Broca-Areal), das Bewusstsein, kognitive Prozesse wie Konzentration, Denken, Planen, Urteilen und Entscheiden sowie das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis zuständig. Er ist auch der Sitz des Willens und der Persönlichkeit.
- Scheitellappen: Verantwortlich für selektive Aufmerksamkeit, die Integration sensorischer Informationen, die räumliche Orientierung und die visuelle Steuerung von Bewegungen. Hier sind räumliches Denken, Geometrie, Rechnen und Lesen verortet.
- Schläfenlappen: Zuständig für das Hören, das Wortverständnis (Wernicke-Zentrum), Musik und andere auditive Informationen. Hier befindet sich auch das Sprach- bzw. lexikalische Wissen.
- Insellappen: Der kleinste Abschnitt des Großhirns, der für das Riechen und Schmecken zuständig ist. Hier werden Körperempfindungen wie Hunger, Durst, Schmerz oder Blasendruck wahrgenommen, aber auch andere Gefühle.
- Kleinhirn: Der nach dem Großhirn zweitgrößte Bereich des Gehirns, der ebenfalls aus zwei Hemisphären besteht. Es steuert unbewusst die Muskulatur und hält den Körper im Gleichgewicht. Es koordiniert Bewegungen und hat die Aufgabe, automatisierte Bewegungsabläufe zu speichern.
- Zwischenhirn: Umfasst unter anderem den Thalamus (der Wahrnehmungen filtert und an das Großhirn weiterleitet) und den Hypothalamus (das wichtigste Steuerzentrum des vegetativen Nervensystems, das lebenswichtige Funktionen wie Körpertemperatur, Blutdruck, Nahrungs- und Wasseraufnahme, Schlaf und Geschlechtstrieb kontrolliert).
- Hirnstamm: Der entwicklungsgeschichtlich älteste Bereich des Gehirns, der das Mittelhirn, die Brücke und das verlängerte Rückenmark (Nachhirn) umfasst. Das Mittelhirn leitet Nervenerregungen weiter und steuert die meisten Gesichts- und Augenmuskeln. Die Brücke ist eine Umschaltstation für Erregungen zwischen den beiden Hälften des Großhirns bzw. des Kleinhirns. Das verlängerte Mark steuert grundlegende und überlebenswichtige Funktionen wie Herzfrequenz, Atmung und Blutkreislauf.
Das Gehirn besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die über 100 Billionen Synapsen (Kontaktstellen) miteinander kommunizieren. Jede Nervenzelle hat ein Axon (das Nachrichten versendet) und Dendriten (über die sie Botschaften empfängt). Die Kommunikation zwischen den Neuronen erfolgt durch den Austausch von Neurotransmittern (komplexe Aminosäuren wie Serotonin, Dopamin, Adrenalin usw.) bzw. von Ionen (elektrisch positiv oder negativ geladene Atome oder Moleküle) in den Synapsen.
Pränatale Entwicklung: Der Grundstein für ein komplexes Organ
Die Entwicklung des Gehirns beginnt bereits in der dritten Schwangerschaftswoche mit der Bildung des Neuralrohrs. Aus diesem Neuralrohr entstehen Gehirn und Rückenmark. In einem rasanten Tempo entstehen Nervenzellen, die zu ihrem jeweiligen Bestimmungsort wandern. In der 4. bis 6. Lebenswoche bilden sich Verdickungen, die drei Hirnbläschen, aus denen sich die Gehirnabschnitte entwickeln. Bis zum Ende der 8. Schwangerschaftswoche sind Gehirn und Rückenmark fast vollständig angelegt. In den folgenden Wochen und Monaten wird im Gehirn eine Unmenge von Nervenzellen durch Zellteilung gebildet. Von diesen wird ein Teil vor der Geburt wieder abgebaut. Während der gesamten Schwangerschaft sind die neuronalen Strukturen äußerst empfindlich und damit anfällig gegenüber äußeren Einflüssen. Alkoholkonsum, Rauchen, Strahlung, Jodmangel und bestimmte Erkrankungen der Mutter, wie beispielsweise Infektionskrankheiten können zu einer Schädigung des sich entwickelnden Nervensystems führen. Auch Medikamente sollten nur nach Absprache mit dem Arzt eingenommen werden, um eventuelle negative Auswirkungen auf den Embryo zu verhindern.
Bereits im Mutterleib nimmt das Gehirn des Ungeborenen Informationen auf. So geht man davon aus, dass durch das Wahrnehmen der Sprache der Eltern das Erlernen der Muttersprache schon vor der Geburt geprägt wird. Ab der 19. Woche reagiert der Fötus auf Schmerz, ab der 26. Woche kann er hören, ab der 29. Woche schmecken und ab der 32. Woche sehen. Um diese Zeit herum bildet sich eine Art Kurzzeitgedächtnis aus, und es scheint ein rudimentäres Bewusstsein zu geben.
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Die ersten Lebensjahre: Eine Zeit rasanter Entwicklung
Mit der Geburt ist die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem noch lange nicht abgeschlossen. Zwar sind zu diesem Zeitpunkt bereits die große Mehrheit der Neuronen, etwa 100 Milliarden, im Gehirn vorhanden, sein Gewicht beträgt dennoch nur etwa ein Viertel von dem eines Erwachsenen. Die Gewichts- und Größenzunahme des Gehirns im Laufe der Zeit beruht auf der enormen Zunahme der Verbindungen zwischen den Nervenzellen und darauf, dass die Dicke eines Teils der Nervenfasern zunimmt. Das Dickenwachstum ist auf eine Ummantelung der Fasern zurückzuführen. Dadurch erhalten sie die Fähigkeit, Nervensignale mit hoher Geschwindigkeit fortzuleiten.
In den ersten drei Lebensjahren nimmt die Zahl der Synapsen rasant zu. Mit zwei Jahren entspricht die Menge der Synapsen derjenigen von Erwachsenen, mit drei Jahren hat ein Kind bereits doppelt so viele. Diese Zahl bleibt dann etwa bis zum zehnten Lebensjahr konstant. In den darauffolgenden Jahren verringert sich die Zahl der Synapsen wieder um die Hälfte. Ab dem Jugendalter treten bei der Zahl der Synapsen keine größeren Veränderungen mehr auf. Die große Zahl der Synapsen bei 2 bis 10-Jährigen ist ein Zeichen für die enorme Anpassungs- und Lernfähigkeit der Kinder in diesem Alter. Art und Anzahl der sich formenden und bestehen bleibenden Synapsen hängen mit speziellen erlernten Fertigkeiten zusammen.
Das Gehirn eines Dreijährigen ist mehr als doppelt so aktiv wie das eines Erwachsenen und hat somit auch einen fast doppelt so hohen Glukoseverbrauch. Bis zu 50% des täglichen Kalorienbedarfs wird für das Gehirn benötigt; bei Erwachsenen sind es nur rund 18%. Verbunden mit dem rasanten Wachstum von Synapsen ist eine rasche Gewichtszunahme des Gehirns: von 300 g bei der Geburt über 750 g am Ende des 1. Lebensjahrs bis 1.300 g im 5. Lebensjahr. In der Pubertät wird schließlich das Endgewicht erreicht.
"Use it or lose it": Die Bedeutung von Erfahrung und Lernen
Die Entwicklung des Gehirns ist ein fortlaufender Prozess, der durch Erfahrung und Lernen geprägt wird. Das Prinzip "Use it or lose it" spielt dabei eine entscheidende Rolle. Nervenverbindungen, die häufig genutzt werden, werden gestärkt und bleiben erhalten, während Verbindungen, die selten oder gar nicht genutzt werden, abgebaut werden. Dieser Prozess ermöglicht es dem Gehirn, sich an die spezifischen Anforderungen der Umwelt anzupassen und effizienter zu arbeiten.
Bereits Babys besitzen die Fähigkeit, sich zu erinnern. Allerdings bleiben Erlebnisse bei 6 Monate alten Säuglingen lediglich 24 Stunden im Gedächtnis. Sind sie 9 Monate alt, steigt das Erinnerungsvermögen auf 1 Monat an. In den nächsten Monaten und Jahren nehmen diese Erinnerungszeiträume weiter zu. Die Entwicklung eines Langzeitgedächtnisses, das uns erlaubt, Erlebnisse und Erfahrungen, die Jahre zurückliegen, zu erinnern, dauert aber noch einige Zeit. Deshalb gibt es an die ersten drei bis vier Lebensjahre keine Erinnerung und meist nur wenige an das 5. und 6. Lebensjahr.
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Mit etwa 6 Jahren setzen weitere wichtige Prozesse ein. Im vorderen Bereich der Großhirnrinde entwickelt sich zunehmend die Fähigkeit zu logischem Denken, Rechnen und „vernünftigem“ bzw. sozialem Verhalten, das sich an Erfahrungen orientiert. Auch die sprachlichen Fähigkeiten und das räumliche Vorstellungsvermögen, für die der hintere Bereich der Großhirnrinde zuständig ist, werden besser. Ab dem 10. Lebensjahr wird das Gehirn dann optimiert. Nur die Nervenverbindungen bleiben erhalten, die häufig gebraucht werden, die übrigen verschwinden.
Die Pubertät: Ein weiterer Umbau des Gehirns
Auch in der Pubertät durchläuft das Gehirn umfangreiche Veränderungen, die sowohl die emotionale als auch die kognitive Entwicklung betreffen. Hormone spielen eine entscheidende Rolle, indem sie das Verhalten und die Emotionen von Jugendlichen beeinflussen. In dieser Phase entwickelt sich das Belohnungssystem schneller als das für die Selbstkontrolle, was mitunter auch zu riskanterem Verhalten führen kann.
Während der Pubertät findet eine Art "Aufräumaktion" im Gehirn statt. Nervenbahnen, die sich verknüpft haben, bleiben bestehen, andere, nicht verwendete Stränge werden gekappt und gehen verloren. Nach turbulenten und wilden Jahren der Reizüberflutung und Stimmungsschwankungen befreit sich das Gehirn im Laufe der Pubertät von Altlasten, um so sprichwörtlich den Kopf freizubekommen.
Erst mit Ende 20 ist die Kommunikation zwischen den verschiedenen Bereichen des Gehirns voll ausgebildet. Dabei geht es um Verbindungen zwischen den Arealen, die für Emotionen, und jenen, die für Planung zuständig sind. Der präfrontale Cortex, der für Planung, Priorisierung und Verarbeitung zuständig ist, ist einer der Spätentwickler unseres Gehirns.
Individuelle Unterschiede und Plastizität des Gehirns
Es ist wichtig zu betonen, dass die Gehirnentwicklung individuell unterschiedlich verläuft. Genetische Faktoren, Umwelteinflüsse und persönliche Erfahrungen spielen eine Rolle bei der Gestaltung des Gehirns. Die Plastizität des Gehirns, also seine Fähigkeit, sich an neue Situationen anzupassen und neue Verbindungen zu bilden, bleibt jedoch ein Leben lang erhalten.
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Im weiteren Verlauf des Lebens kann die komplexe Struktur des fertig entwickelten Gehirns in gewissen Grenzen umgebaut und umfunktioniert werden. Sterben Nervenzellen durch Alterungsprozesse, Erkrankungen oder andere Einflüsse ab oder sind sie in ihrer Funktion gestört, können häufig andere Bereiche des Gehirns ihre Aufgabe zumindest teilweise übernehmen.