Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist ein komplexer und langwieriger Prozess, der weit über die Kindheit hinausgeht. Obwohl das Gehirn bereits im Mutterleib angelegt wird und in den ersten Lebensjahren rasant wächst, erreicht es seine vollständige Reife erst im späteren Erwachsenenalter. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Phasen der Gehirnentwicklung, die beteiligten Prozesse und die Faktoren, die diese beeinflussen können.
Frühe Entwicklung im Mutterleib
Die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem beginnt bereits beim Embryo in der 3. Schwangerschaftswoche. Bis zum Ende der 8. Woche sind Gehirn und Rückenmark fast vollständig angelegt. In den folgenden Wochen und Monaten findet eine enorme Zellteilung statt, bei der eine Unmenge von Nervenzellen gebildet wird. Ein Teil dieser Zellen wird jedoch vor der Geburt wieder abgebaut.
Während der gesamten Schwangerschaft sind die neuronalen Strukturen äußerst empfindlich gegenüber äußeren Einflüssen. Alkoholkonsum, Rauchen, Strahlung, Jodmangel und bestimmte Erkrankungen der Mutter, wie beispielsweise Infektionskrankheiten, können das sich entwickelnde Nervensystem schädigen. Auch Medikamente sollten nur nach Absprache mit dem Arzt eingenommen werden, um negative Auswirkungen auf den Embryo zu verhindern.
Schon im Mutterleib nimmt das Gehirn des Ungeborenen Informationen auf. Es wird angenommen, dass das Wahrnehmen der Sprache der Eltern das Erlernen der Muttersprache bereits vor der Geburt prägt. Bereits in der 5. Schwangerschaftswoche beginnen sich die ersten Nervenzellen zu teilen und sich in Neuronen und Gliazellen zu differenzieren - den Zelltypen, aus denen das Nervensystem besteht. Ebenfalls um die 5. Woche faltet sich die Neuralplatte in sich selbst und bildet das sogenannte Neuralrohr, welches sich bis etwa zur 6. SSW schließt und zum Gehirn und Rückenmark wird. Um die 10. Woche besitzt das Gehirn bereits eine kleine, glatte Struktur, die dem gleicht, was allgemein als Gehirn bekannt ist. Die Falten, die die verschiedenen Gehirnregionen bilden, entwickeln sich erst später in der Schwangerschaft. Die ersten Synapsen im Rückenmark des Babys bilden sich während der 7. Schwangerschaftswoche. Ab der 8. Woche beginnt die elektrische Aktivität im Gehirn. Sie ermöglicht dem Baby, seine ersten (spontanen) Bewegungen zu koordinieren, die im Ultraschall bereits sichtbar sind. Bis zum Ende des ersten Trimesters folgen weitere unwillkürliche Bewegungen wie Dehnen, Gähnen und Saugen. Diese erfolgen bis zum Ende des zweiten Trimesters dann bereits deutlich koordinierter. Das Gehirn, das lebenswichtige Funktionen wie Herzfrequenz und Atmung steuert, ist in der Regel bis zum Ende des zweiten Trimesters vollständig entwickelt. Der zerebrale Kortex, der willkürliche Handlungen sowie das Denken und Fühlen steuert, übernimmt im dritten Trimester - also erst gegen Ende der Schwangerschaft - seine Aufgaben.
In der 7. Schwangerschaftswoche teilt sich das Organ des Embryos in drei Teile: Vorderhirn, Mittelhirn und Hinterhirn. Das Vorderhirn ist hauptsächlich mit Argumentation, Problemlösung, Formung und Speicherung von Erinnerungen assoziiert. Das Mittelhirn ist derweil dafür verantwortlich, sensorische Informationen kognitiv zu verarbeiten und hilft räumliche Verhältnisse zu koordinieren, damit wir die Welt um uns herum begreifen können.
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Entwicklung im Säuglings- und Kindesalter
Mit der Geburt ist die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem noch lange nicht abgeschlossen. Zwar sind zu diesem Zeitpunkt bereits die große Mehrheit der Neuronen, etwa 100 Milliarden, im Gehirn vorhanden, sein Gewicht beträgt dennoch nur etwa ein Viertel von dem eines Erwachsenen. Die Gewichts- und Größenzunahme des Gehirns im Laufe der Zeit beruht auf der enormen Zunahme der Verbindungen zwischen den Nervenzellen und darauf, dass die Dicke eines Teils der Nervenfasern zunimmt. Das Dickenwachstum ist auf eine Ummantelung der Fasern zurückzuführen. Dadurch erhalten sie die Fähigkeit, Nervensignale mit hoher Geschwindigkeit fortzuleiten.
Beim Säugling stehen zunächst Reflexe im Vordergrund. Dabei werden körpereigene Signale und Umweltreize bereits auf der Ebene des Rückenmarks und des Nachhirns in Äußerungen und Reaktionen umgesetzt. In dieser Phase dient der ganze Körper des Säuglings dazu, grundlegende Bedürfnisse und Empfindungen wie Hunger, Angst und Unwohlsein zum Ausdruck zu bringen. Nach 6 Monaten hat sich das Gehirn soweit entwickelt, dass Babys lernen Oberkörper und Gliedmaßen zu kontrollieren.
Im Alter von 2 Jahren haben die meisten Nervenfasern von Rückenmark, Nachhirn und Kleinhirn ihre endgültige Dicke erreicht und damit ihre Ummantelung abgeschlossen. Sie können nun Nervensignale mit hoher Geschwindigkeit hin und her schicken. Im Gehirn nimmt die Anzahl der Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, in den ersten 3 Lebensjahren rasant zu. In dieser Zeit entsteht das hochkomplexe neuronale Netz, in dem jede Nervenzelle mit Tausenden anderer Neurone verbunden ist. Mit 2 Jahren haben Kleinkinder so viele Synapsen wie Erwachsene und mit 3 Jahren sogar doppelt so viele. Diese Zahl bleibt dann etwa bis zum zehnten Lebensjahr konstant.
Bedeutung von Nährstoffen für die Gehirnentwicklung im Säuglingsalter
Dieses rasante Wachstum des Hirns, die unzähligen, täglichen Eindrücke, die dein Baby verarbeiten muss, die nahezu pausenlose Bildung von Synapsen - all das erfordert eine hohe Dosis spezifischer Nährstoffe und viel Energie. In optimaler Zusammensetzung erhalten Babys diese über die Muttermilch. Langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren (LCP) sowie Eisen und Cholin spielen bei der Entwicklung des Hirns eine wichtige Rolle. In den ersten zwei Jahren wächst das Gehirn Ihres Babys extrem schnell und die Gehirnmasse verdreifacht sich. Zwischen dem ersten und sechsten Monat ist die Phase mit der stärkster Gehirnentwicklung seines Lebens. Es lernt täglich Neues. Nicht nur in der Schwangerschaft, sondern auch in der Stillzeit kann der Genuss von fettreichem Meeresfisch wie zum Beispiel Lachs, Hering oder Makrele die Gehirnentwicklung Ihres Kindes positiv beeinflussen. Denn in diesen Lebensmitteln ist viel DHA (Docosahexaensäure) enthalten, ein wichtiger Baustein für die optimale Entwicklung von Gehirn und Sehvermögen. In den ersten 10 Monaten gibt es viele Meilensteine in der Entwicklung Ihres Babys: Lächeln, Greifen, Rollen, Sitzen, Krabbeln, erste Laute und erstes Verstehen - in dieser Zeit ist sein Gehirn besonders aktiv. Es wächst stark und braucht daher ausreichend Nährstoffe. Das Gehirn ist bei der Geburt ca. 25% so groß wie das erwachsene Gehirn. Mit zwei Jahren hat es sich verdreifacht und ca. Jeder Sinneseindruck wie Berührung, Geruch, Geräusch oder Licht wird verarbeitet und sorgt dafür, dass Gehirn weiter wächst. Gleichzeitig geht das Gehirn permanent durch Phasen der strukturellen Verfeinerung, in der eine Vielzahl von neuronalen Verbindungen durchtrennt und Platz für neue geschaffen wird. Sowohl die Entstehung von neuen Gehirnzellen als auch der Abbau von Verknüpfungen sind notwendig, damit sich ein gesundes, optimal funktionierendes Gehirn entwickeln kann. Das Gehirn Ihres Babys wird in seinem gesamten späteren Leben nie wieder so aktiv sein, wie im ersten Lebensjahr. Und pro Sekunde werden in den ersten beiden Jahren bis zu 700 neue Nervenverbindungen gebildet. Die Gehirnstrukturen vernetzen, verstärken und verändern sich. Denn das kindliche Gehirn reagiert in dieser Phase seiner Entwicklung hochsensibel auf Erfahrungen. Die Vielzahl an Nervenverbindungen ermöglicht Ihrem Kind das rasante Lernen in den ersten Lebensjahren.
Spätestens nach dem 6. Monat ist es an der Zeit dein Baby an Beikost zu gewöhnen. Meist gibt es zuerst mittags ein paar Löffel Karotten- oder Kürbisbrei. Nach einiger Zeit kommen Kartoffeln und Fleisch dazu. Ernährungsexperten empfehlen: Ersetze das Fleisch im Gemüse-Kartoffel-Fleisch-Brei deines Kindes hin und wieder durch fettreichen Meeresfisch. Für die Ausreifung des Gehirns - der Schaltzentrale des Körpers - sind LCPs ein sehr wichtiger Baustein. Babys können jedoch LCPs noch nicht ausreichend selbst produzieren. Wenn du nicht oder nicht voll stillst, sollte dein Baby daher LCPs über eine Säuglingsnahrung bekommen.
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Die Rolle der Synapsen im Laufe der Entwicklung
Die große Zahl der Synapsen bei 2 bis 10-Jährigen ist ein Zeichen für die enorme Anpassungs- und Lernfähigkeit der Kinder in diesem Alter. Art und Anzahl der sich formenden und bestehen bleibenden Synapsen hängen mit speziellen erlernten Fertigkeiten zusammen. Bei der weiteren Entwicklung des Gehirns treten dann andere Dinge in den Vordergrund. Die wenig benutzten und offenbar nicht benötigten Verbindungsstellen werden abgebaut, die anderen Nervenfasern zwischen den Neuronen dagegen intensiver genutzt. Das ist der Grund für den Abbau der Synapsen ab dem 10. Lebensjahr um die Hälfte. Ab dem Jugendalter treten bei der Zahl der Synapsen keine größeren Veränderungen mehr auf.
Entwicklung des Gedächtnisses
Bereits Babys besitzen die Fähigkeit sich zu erinnern. Allerdings bleiben Erlebnisse bei 6 Monate alten Säuglingen lediglich 24 Stunden im Gedächtnis. Sind sie 9 Monate alt, steigt das Erinnerungsvermögen auf 1 Monat an. In den nächsten Monaten und Jahren nehmen diese Erinnerungszeiträume weiter zu. Die Entwicklung eines Langzeitgedächtnisses, das uns erlaubt, Erlebnisse und Erfahrungen, die Jahre zurückliegen, zu erinnern, dauert aber noch einige Zeit. Deshalb gibt es an die ersten drei bis vier Lebensjahre keine Erinnerung und meist nur wenige an das 5. und 6. Lebensjahr.
Entwicklung im Schulkindalter und Jugendalter
Mit etwa 6 Jahren setzen weitere wichtige Prozesse ein. Im vorderen Bereich der Großhirnrinde entwickelt sich zunehmend die Fähigkeit zu logischem Denken, Rechnen und „vernünftigem“ bzw. sozialem Verhalten, das sich an Erfahrungen orientiert. Auch die sprachlichen Fähigkeiten und das räumliche Vorstellungsvermögen, für die der hintere Bereich der Großhirnrinde zuständig ist, werden besser. Ab dem 10. Lebensjahr wird das Gehirn dann optimiert. Nur die Nervenverbindungen bleiben erhalten, die häufig gebraucht werden, die übrigen verschwinden.
Der Umbau des Gehirns in der Pubertät
Ab einem Alter von ungefähr elf Jahren geht es an die Optimierung: Das Nervensystem im Gehirn wird jetzt tiefgreifend umgebaut. Dabei richtet das Gehirn seine Arbeit effizient aus: Es kappt ungenutzte Verbindungen von Nervenzellen und stabilisiert jene Verbindungen, die häufig genutzt werden. Diese Baumaßnahmen verursachen großes Chaos im Kopf - und können dazu führen, dass Sie Ihr eigenes Kind kaum noch wiedererkennen. Auch wenn der Umbauprozess chaotisch erscheinen mag, hat er doch eine wichtige Funktion: Während der Reifung bilden sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn, die neuronalen Netzwerke. Das Frontalhirn, das ordnet und strukturiert, leidet am längsten unter dem Umbau. Es ist während dieser Zeit sozusagen außer Betrieb. Daher kann dieses Hirnareal in der Pubertät das Sozialverhalten nicht hinreichend kontrollieren. Die Folgen: wechselnde Launen der Teenager von „himmelhochjauchzend“ bis „zu Tode betrübt“, mangelnde Kontrolle über die eigenen Impulse und manchmal sogar cholerische Anfälle. Während die Kontrollinstanz aussetzt, verlangt das Belohnungssystem im Gehirn permanent nach dem Glückshormon Dopamin. Das heißt: Heranwachsende haben einen riesigen Bedarf an Belohnung und Anerkennung. Am wichtigsten ist ihnen die Bestätigung durch Gleichaltrige. Auch steigt die Risikofreude - vor allem bei Jungen. Vielen Jugendlichen fällt es nicht nur schwer, ihr Verhalten zu kontrollieren und ihre Emotionen zu steuern; sie können auch ihre Arbeit oft nicht mehr so gut organisieren. Es gelingt ihnen teilweise nicht, ihre Handlungen gezielt zu planen: Sie vergessen die Hausaufgaben oder bereiten sich nicht vernünftig auf die nächste Klassenarbeit vor. Erst um das 20. Lebensjahr herum ist das Gehirn wieder so weit gereift, dass Jugendliche ihr Verhalten besser steuern können.
Wie können Eltern diesen Prozess unterstützen? Zunächst einmal sollten Sie sich bewusst machen, was die Baustelle im Kopf für Ihr Kind bedeutet. Das hilft, Verständnis für das manchmal schwer erträgliche Verhalten aufzubringen. Achten Sie so gut wie möglich auf regelmäßigen und ausreichenden Schlaf. Teilen Sie Ihrem Kind Ihre Sorgen mit - zum Beispiel im Hinblick auf Drogen oder Mutproben.
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Entwicklung im Erwachsenenalter
Im weiteren Verlauf des Lebens kann die komplexe Struktur des fertig entwickelten Gehirns in gewissen Grenzen umgebaut und umfunktioniert werden. Sterben Nervenzellen durch Alterungsprozesse, Erkrankungen oder andere Einflüsse ab oder sind sie in ihrer Funktion gestört, können häufig andere Bereiche des Gehirns ihre Aufgabe zumindest teilweise übernehmen.
Die Rolle des präfrontalen Kortex
Besonders relevant bei der Frage, wann das Gehirn erwachsen ist, ist der präfrontale Kortex. Dieser Bereich entwickelt sich bis zum Alter von etwa 25 Jahren weiter und beeinflusst unter anderem das Planen, Denken und das Verarbeiten komplexer Informationen sowie das Vorhersehen von Konsequenzen. Zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr entwickelt sich das Gehirn höchstwahrscheinlich in sozialer Hinsicht weiter, wie schon zuvor in der Adoleszenz. Wir wissen jedoch noch nicht, ob es dafür im jungen Erwachsenenalter eine besonders sensible oder kritische Entwicklungsphase gibt. Möglicherweise gelingt es uns in dieser Phase immer besser, uns an unterschiedliche soziale Situationen anzupassen: als Freundin, als Partner, als Mitarbeiter und Teammitglied, manchmal auch als Vater oder Mutter. Darüber hinaus lernen wir offenbar besser zu unterscheiden zwischen dem, was wir selbst wollen oder denken, und dem, was unsere Umwelt von uns erwartet. Wir nehmen mehr Rücksicht auf andere und wissen unser eigenes Verhalten besser zu kontrollieren.
Veränderungen im Gehirn ab dem 30. Lebensjahr
Es ist nicht so, dass das Gehirn dann sofort abbaut oder dass man nichts mehr lernen kann. Das Gehirn bleibt plastisch. Das sehen wir zum Beispiel bei Menschen, die einen Tumor entwickeln: Hirnareale können Funktionen voneinander übernehmen oder zusammenarbeiten. Inwieweit ein Leben lang neue Nervenzellen entstehen und dazu beitragen, ist allerdings umstritten. Ab dem 30. Lebensjahr beginnt das Gehirn jedoch leicht zu schrumpfen. Ab etwa 70 Jahren beschleunigt sich der Verfall: Verbindungen gehen verloren - das Gedächtnis lässt nach.
Graue und weiße Substanz
Zum Gehirn gehören grob gesagt zwei Strukturen: die graue und die weiße Substanz. Die graue Substanz besteht aus den Nervenzellen und die weiße Substanz aus deren Ausläufern - den Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die für die Kommunikation zuständig sind. Aus der Forschung mit Magnetresonanztomografie weiß man, dass die graue Substanz bis zum Alter von etwa 25 Jahren und die weiße Substanz bis zum Alter von 30 Jahren wächst. Zunächst nimmt die graue Substanz bis zum sechsten Lebensjahr deutlich an Volumen zu. Das ermöglicht es uns, uns gut an die Umgebung anzupassen, in der wir aufwachsen. Die Zunahme beginnt oft in Hirnregionen, die sensorische Informationen verarbeiten. Ab dem sechsten Lebensjahr stagniert dieses Wachstum, und ab der Pubertät nimmt das Volumen der grauen Substanz sogar etwas ab. Das klingt merkwürdig, ist aber logisch: Schließlich kostet es Energie, die Nervenzellen zu versorgen. Das Gehirn behält nur die Zellen, die viel benutzt werden und die bereits viele Verbindungen hergestellt haben. Auf diese Weise wird das Gehirn immer leistungsfähiger.
Sensible Phasen der Entwicklung
Nicht alle Hirnregionen entwickeln sich gleich schnell. So gibt es zum Beispiel so genannte sensible oder kritische Perioden, in denen Kinder auf bestimmte Reize besonders empfindlich reagieren - das erleichtert es, neue Dinge zu lernen. Vor allem schwierige Sprachen lernt man am besten bis zum zehnten Lebensjahr, und für das Unterscheiden von Sprachlauten beschränkt sich die sensible Phase sogar auf das erste Lebensjahr.
Die Plastizität des Gehirns
Das menschliche Gehirn ist das komplizierteste Organ, das die Natur je hervorgebracht hat: 100 Milliarden Nervenzellen und ein Vielfaches davon an Kontaktpunkten verleihen ihm Fähigkeiten, an die kein Supercomputer bis heute heranreicht. Eine der wichtigsten Eigenschaften ist seine Lernfähigkeit. Doch wie kann eine Ansammlung von Nervenzellen überhaupt etwas lernen? Bis vor wenigen Jahren galt unter Wissenschaftlern als ausgemacht: Das Gehirn eines Erwachsenen verändert sich nicht mehr. Heute weiß man jedoch, dass das Gehirn bis ins hohe Alter laufend umgebaut wird. Manche Neurobiologen vergleichen es sogar mit einem Muskel, der trainiert werden kann. Die Vorstellung, dass das Gehirn ein Leben lang lernfähig bleibt, ist aus wissenschaftlicher Sicht unbestritten. Anders hätte der Mensch die vielfältigen Herausforderungen, denen er im Laufe eines Lebens begegnet, auch gar nicht bewältigen können. So können wir bis ins hohe Alter eine Fremdsprache und Yoga lernen, uns Gesicht und Stimme eines neuen Arbeitskollegen merken oder den Weg zu einer neuen Pizzeria. Viele Wissenschaftler bezweifeln aber, dass Gehirnjogging-Übungen die generelle Leistungsfähigkeit des Gehirns steigern. Sie gehen davon aus, dass sich der Trainingseffekt nur auf die unmittelbar trainierte Aufgabe auswirkt.
Synapsen übertragen nicht nur elektrische Signale von einer Nervenzelle zur nächsten, sie können die Intensität des Signals auch verstärken oder abschwächen. Welche Nervenzellen im Gehirn kommunizieren miteinander - und warum? Um das zu verstehen, kartografiert Moritz Helmstaedter das ‚soziale Netzwerk‘ im Gehirn, das unser Denken, Fühlen und Handeln steuert. Wie altert unser Gehirn? Und welchen Einfluss haben Infektionskrankheiten wie Corona? Dazu forscht Anne Schäfer vom Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns. Lernen findet an den Synapsen statt - also den Orten, an denen die elektrischen Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Synapsen die Effektivität der Übertragung variieren können. Man bezeichnet dieses Phänomen auch als synaptische Plastizität. So kann eine Synapse durch einen Vorgang namens Langzeitpotenzierung (LTP) verstärkt werden, indem sie mehr Botenstoff ausschüttet oder mehr Botenstoffrezeptoren bildet. Die Übertragung von Signalen kann aber nicht nur verstärkt oder abgeschwächt werden, sie kann auch überhaupt erst ermöglicht oder völlig gekappt werden. So wissen Neurowissenschaftler heute, dass Synapsen selbst im erwachsenen Gehirn noch komplett neu gebildet oder abgebaut werden können. An wenigen Stellen wie zum Beispiel im Riechsystem können sogar zeitlebens neue Nervenzellen gebildet werden. Es ist also nicht übertrieben, wenn man sagt: Unser Gehirn gleicht zeitlebens einer Baustelle.
Stärkung und Schwächung, Auf- und Abbau - die Stärke, mit der Signale zwischen Nervenzellen übertragen werden, wird laufend angepasst. Etwas vereinfacht könnte man sich also vorstellen, dass die Signalübertragung verstärkt wird, wenn das Gehirn etwas speichert - und abgeschwächt wird, wenn es vergisst. Ohne die Plastizität würde dem Gehirn folglich etwas Fundamentales fehlen: seine Lernfähigkeit. Mit dem Lernen verhält es sich wie mit dem Sport: Je mehr eine bestimmte Fähigkeit gefordert wird, desto effektiver wird sie erledigt. Wer beispielsweise Taxi fährt, muss sich gut orientieren und Routen merken können. Durch die tägliche Arbeit wird so das Ortsgedächtnis immer besser. Das hinterlässt auch Spuren im Gehirn, zum Beispiel im Gehirn Londoner Taxifahrer: Forscher haben herausgefunden, dass in ihrem Gehirn der Hippocampus - ein für das Ortsgedächtnis zentrale Region im Gehirn - über die Jahre größer wird. Offenbar braucht ein derart trainiertes Orientierungsvermögen auch mehr Raum!
Seine Plastizität hilft dem Gehirn zudem, Schäden zumindest teilweise zu reparieren. Sterben beispielsweise bei einem Schlaganfall Nervenzellen ab, können benachbarte Hirnregionen die Aufgaben des betroffenen Gebiets zum Teil übernehmen. Am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften haben Forscher herausgefunden, dass das Gehirn so die Schäden nach einem Schlaganfall zum Teil kompensieren kann.
Verschaltung und Funktionelle Spezialisierung
Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld ist die Verschaltung innerhalb des Gehirns. Das menschliche Gehirn lässt sich nach verschiedenen Kriterien untergliedern. Entwicklungsgeschichtlich beispielsweise besteht es wie das aller Wirbeltiere aus dem End-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Markhirn, auch als Tel-, Di-, Mes-, Met- und Myelencephalon bezeichnet. Besonders auffällig ist die zum Endhirn gehörende sogenannte Großhirnrinde, der sogenannte Kortex. Sie ist im Laufe der Evolution so stark gewachsen, dass sie fast das gesamte Gehirn umgibt. Die Großhirnrinde ist Sitz vieler höherer geistiger Fähigkeiten. Einzelne Bereiche haben dabei unterschiedliche Aufgaben. So sind manche Areale darauf spezialisiert, Sprache zu verstehen, Gesichter zu erkennen oder Erinnerungen abzuspeichern. In der Regel ist aber keine Region allein für eine bestimmte Fähigkeit verantwortlich, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen. Welche Gehirngebiete miteinander verbunden sind, untersuchen Wissenschaftler mithilfe der sogenannten Magnetresonanztomografie (MRT). Mit dieser Technik können sie die zu Fasersträngen gebündelten Fortsätze von Nervenzellen sichtbar machen, die die Areale der Großhirnrinde miteinander verbinden. Auf diese Weise haben Sprachforscher beispielsweise eine für das Sprachvermögen zentrale Gehirnregion entdeckt: den sogenannten Fasciculus Articuatus. Ohne dieses Nervenfaserbündel können Kleinkinder keine komplexen Sätze bilden und verstehen. Dies gelingt erst, wenn diese Verbindung genug entwickelt ist. Bei Menschenaffen hingegen sind diese Nervenfasern zeitlebens schwach ausgebildet. Folglich schaffen die Tiere es trotz jahrelangen Trainings nicht, selbst einfachste Sätze zu bilden - und das, obwohl andere erforderliche Hirnareale sowie anatomische Voraussetzungen zum Sprechen durchaus vorhanden sind.
Mit einer Variante dieser Technik, der sogenannten funktionellen Magnetresonanztomografie, können Wissenschaftler zwischen aktiven und nicht aktiven Gehirnregionen unterscheiden. Damit haben sie viel über den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns gelernt. So haben Max-Planck-Forscher aus Leipzig herausgefunden, warum bei Menschen, die stottern, ein Ungleichgewicht zwischen der Hirnaktivität von linker und rechter Großhirnhälfte auftritt: Innerhalb des überaktiven rechten Netzwerkes haben sie eine Faserbahn entdeckt, die bei den Betroffenen deutlich stärker ausgebildet ist, als bei Menschen ohne Sprechprobleme. Einen exakten Schaltplan des Gehirns lässt sich jedoch mit der MRT-Technik nicht erstellen, dafür ist die Genauigkeit der Methode nicht hoch genug. Schließlich sitzen bis zu 10.000 Synapsen auf einer Nervenzelle, 100 Billionen sind es insgesamt. Dies zeigt, wie dicht das Kommunikationsnetz im Gehirn ist. In diesem Netz können einerseits benachbarte Nervenzellen miteinander verknüpft sein, andererseits auch Zellen, die weit voneinander entfernt sind. Die Wissenschaftler entwickeln deshalb neue Methoden, mit denen sie das Konnektom entschlüsseln können. Als Modellfälle dienen ihnen dafür Mäuse: Zuletzt haben sie die Verschaltung von Bereichen der Netzhaut des Auges sowie der Großhirnrinde aufgeklärt und herausgefunden, dass Nervenzellen im sogenannten entorhinalen Kortex der Großhirnrinde wie ein Transistor organisiert sind: Bevor eine Nervenzelle eine andere Zelle aktivieren kann, kontaktiert sie eine hemmende Zelle und wird so in ihrer eigenen Aktivität behindert. Anhand solcher Schaltpläne wollen Wissenschaftler lernen, wie das Gehirn funktioniert. An Max-Planck-Instituten arbeiten sie bereits heute daran, die Prinzipien der Informationsverarbeitung aufzuklären. Derzeit konzentrieren sie sich auf einfacher aufgebaute Gehirne, die weniger Nervenzellen und -fasern besitzen als das Gehirn des Menschen. Mäuse sind ein solcher Modellfall für Neurowissenschaftler. Sie besitzen als Säugetiere ein ähnlich aufgebautes und funktionierendes Gehirn wie der Mensch. Noch einfacher aufgebaut und leichter zu untersuchen ist das Gehirn von Zebrafischen und ihrer Larven. So besitzt das Gehirn einer Fischlarve nicht nur lediglich 100.000 Nervenzellen und damit eine Million Mal weniger als das des Menschen, es ist auch noch nahezu völlig transparent. Auch Wirbellose können ein Modell für Neurowissenschaftler sein. Ihre Nervenzellen sind zwar sehr klein, dadurch kann ihre Aktivität nicht so leicht gemessen werden. Dafür lassen sich wegen der vergleichsweise einfacheren Architektur die Prinzipien von Verschaltungen zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen analysieren. So können Forscher anhand des Gehirns von Fruchtfliegen lernen, wie der Geruch von Nahrung die Fortpflanzung beeinflusst. Durch die Analyse des Sehsystems von Schmeißfliegen wollen sie herausfinden, wie die Insekten Bewegungen so unglaublich schnell wahrnehmen können. Selbst ein so einfach aufgebauter Organismus wie der Fadenwurm C. Weil C.
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