Gehirnentwicklung im Mutterleib: Risikofaktoren und Einflussfaktoren

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist ein komplexer und faszinierender Prozess, der bereits im Mutterleib beginnt und sich bis ins junge Erwachsenenalter fortsetzt. Diese frühe Phase der Gehirnentwicklung ist besonders anfällig für äußere Einflüsse, die langfristige Auswirkungen auf die kognitive und emotionale Entwicklung des Kindes haben können. Dieser Artikel beleuchtet die wichtigsten Phasen der Gehirnentwicklung im Mutterleib und untersucht verschiedene Risikofaktoren, die diesen Prozess beeinträchtigen können.

Frühe Phasen der Gehirnentwicklung

Die Entwicklung des Gehirns und des Nervensystems beginnt bereits in der 3. Schwangerschaftswoche beim Embryo. Bis zum Ende der 8. Woche sind Gehirn und Rückenmark fast vollständig angelegt. In den folgenden Wochen und Monaten werden durch Zellteilung unzählige Nervenzellen im Gehirn gebildet, von denen ein Teil vor der Geburt wieder abgebaut wird.

  • 3. Schwangerschaftswoche: Beginn der Entwicklung von Gehirn und Nervensystem.
  • Bis zur 8. Schwangerschaftswoche: Fast vollständige Anlage von Gehirn und Rückenmark.
  • Folgende Wochen und Monate: Bildung einer Unmenge von Nervenzellen durch Zellteilung, Abbau eines Teils dieser Zellen vor der Geburt.
  • 5. Schwangerschaftswoche: Die ersten Nervenzellen beginnen sich zu teilen und sich in Neuronen und Gliazellen zu differenzieren. Die Neuralplatte faltet sich und bildet das Neuralrohr.
  • 6. Schwangerschaftswoche: Das Neuralrohr schließt sich und wird zum Gehirn und Rückenmark.
  • 7. Schwangerschaftswoche: Die ersten Synapsen bilden sich im Rückenmark des Babys.
  • 8. Schwangerschaftswoche: Elektrische Aktivität beginnt im Gehirn.
  • 10. Schwangerschaftswoche: Das Gehirn besitzt bereits eine kleine, glatte Struktur.

Während der gesamten Schwangerschaft sind die neuronalen Strukturen äußerst empfindlich und damit anfällig gegenüber äußeren Einflüssen. Schon im Mutterleib nimmt das Gehirn des Ungeborenen Informationen auf. So geht man davon aus, dass durch das Wahrnehmen der Sprache der Eltern das Erlernen der Muttersprache schon vor der Geburt geprägt wird.

Entwicklung nach der Geburt

Mit der Geburt ist die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem noch lange nicht abgeschlossen. Zwar sind zu diesem Zeitpunkt bereits die große Mehrheit der Neuronen, etwa 100 Milliarden, im Gehirn vorhanden, sein Gewicht beträgt dennoch nur etwa ein Viertel von dem eines Erwachsenen.

Die Gewichts- und Größenzunahme des Gehirns im Laufe der Zeit beruht auf der enormen Zunahme der Verbindungen zwischen den Nervenzellen und darauf, dass die Dicke eines Teils der Nervenfasern zunimmt. Das Dickenwachstum ist auf eine Ummantelung der Fasern zurückzuführen. Dadurch erhalten sie die Fähigkeit, Nervensignale mit hoher Geschwindigkeit fortzuleiten.

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  • Beim Säugling: Reflexe stehen im Vordergrund, körpereigene Signale und Umweltreize werden bereits auf der Ebene des Rückenmarks und des Nachhirns in Äußerungen und Reaktionen umgesetzt.
  • Nach 6 Monaten: Das Gehirn hat sich soweit entwickelt, dass Babys lernen Oberkörper und Gliedmaßen zu kontrollieren.
  • Im Alter von 2 Jahren: Die meisten Nervenfasern von Rückenmark, Nachhirn und Kleinhirn haben ihre endgültige Dicke erreicht und damit ihre Ummantelung abgeschlossen, die Anzahl der Synapsen nimmt rasant zu.
  • Mit 2 Jahren: Kleinkinder haben so viele Synapsen wie Erwachsene.
  • Mit 3 Jahren: Kleinkinder haben doppelt so viele Synapsen wie Erwachsene.
  • Ab dem 10. Lebensjahr: Die Zahl der Synapsen verringert sich wieder um die Hälfte, es treten keine größeren Veränderungen mehr auf.

Bereits Babys besitzen die Fähigkeit sich zu erinnern. Allerdings bleiben Erlebnisse bei 6 Monate alten Säuglingen lediglich 24 Stunden im Gedächtnis. Sind sie 9 Monate alt, steigt das Erinnerungsvermögen auf 1 Monat an. In den nächsten Monaten und Jahren nehmen diese Erinnerungszeiträume weiter zu. Die Entwicklung eines Langzeitgedächtnisses, das uns erlaubt, Erlebnisse und Erfahrungen, die Jahre zurückliegen, zu erinnern, dauert aber noch einige Zeit. Deshalb gibt es an die ersten drei bis vier Lebensjahre keine Erinnerung und meist nur wenige an das 5. und 6. Lebensjahr.

Mit etwa 6 Jahren setzen weitere wichtige Prozesse ein. Im vorderen Bereich der Großhirnrinde entwickelt sich zunehmend die Fähigkeit zu logischem Denken, Rechnen und „vernünftigem“ bzw. sozialem Verhalten, das sich an Erfahrungen orientiert. Auch die sprachlichen Fähigkeiten und das räumliche Vorstellungsvermögen, für die der hintere Bereich der Großhirnrinde zuständig ist, werden besser. Ab dem 10. Lebensjahr wird das Gehirn dann optimiert. Nur die Nervenverbindungen bleiben erhalten, die häufig gebraucht werden, die übrigen verschwinden.

Im weiteren Verlauf des Lebens kann die komplexe Struktur des fertig entwickelten Gehirns in gewissen Grenzen umgebaut und umfunktioniert werden. Sterben Nervenzellen durch Alterungsprozesse, Erkrankungen oder andere Einflüsse ab oder sind sie in ihrer Funktion gestört, können häufig andere Bereiche des Gehirns ihre Aufgabe zumindest teilweise übernehmen.

Risikofaktoren während der Schwangerschaft

Während der Schwangerschaft können verschiedene Faktoren die Entwicklung des Gehirns des Ungeborenen beeinträchtigen. Dazu gehören:

  • Alkohol: Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann zu schweren Schädigungen des kindlichen Gehirns führen, die als Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) bezeichnet werden. Selbst geringe bis mäßige Mengen Alkohol können die Gehirnstruktur des Babys verändern und die Gehirnentwicklung verzögern. In Deutschland werden jedes Jahr rund 10.000 Kinder mit FASD geboren, von denen etwa 3.000 unter dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) leiden.
  • Rauchen: Rauchen während der Schwangerschaft kann die Sauerstoffversorgung des Fötus beeinträchtigen und zu Entwicklungsstörungen führen.
  • Strahlung: Exposition gegenüber hoher Strahlung kann das sich entwickelnde Nervensystem schädigen.
  • Jodmangel: Jodmangel der Mutter kann die Entwicklung des kindlichen Gehirns beeinträchtigen und zu kognitiven Beeinträchtigungen führen.
  • Erkrankungen der Mutter: Bestimmte Erkrankungen der Mutter, wie beispielsweise Infektionskrankheiten (z.B. Rötelnvirus, Zika-Virus), Präeklampsie oder Virusinfektionen im ersten Trimester, können das sich entwickelnde Nervensystem schädigen.
  • Medikamente: Medikamente sollten nur nach Absprache mit dem Arzt eingenommen werden, um eventuelle negative Auswirkungen auf den Embryo zu verhindern. Bestimmte Medikamente wie Valproinsäure, die zur Behandlung von Epilepsie eingesetzt wird, sind mit einem höheren Risiko für ASS verbunden.
  • Umweltfaktoren: Luftverschmutzung, chemische Substanzen wie Pestizide, Mikroplastik und Schwermetalle können das Risiko für die Entwicklung von ASS erhöhen.
  • Stress: Traumatischer Stress der Mutter während der Schwangerschaft kann sich auf das ungeborene Kind auswirken. In einer Stresssituation laufen bestimmte Prozesse ab, die den Körper darauf vorbereiten, eine Bedrohung bewältigen zu können. Im evolutionären Sinne bedeutet das Kampf oder Flucht. Es werden Energiereserven bereitgestellt, der Herzschlag wird schneller, der Blutdruck steigt und verschiedene Hormone werden ausgeschüttet. Ein Fötus ist durch die Plazenta eng mit dem Stoffwechsel der Mutter verbunden und erlebt somit die Stresssituation auf biologischer Ebene mit.
  • Geburtsprobleme: Frühgeburt, Sauerstoffmangel bei der Geburt (Asphyxie), angeborene Herzfehler, Gelbsucht, Hypoxie-ischämische Zustände rund um die Geburt und Notkaiserschnitt können das Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen erhöhen.

Frühgeburt als Risikofaktor

Eine Frühgeburt, definiert als Geburt vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche (SSW), stellt einen bedeutenden Risikofaktor für die Gehirnentwicklung dar. In Deutschland werden etwa 10 % der Kinder zu früh geboren. Frühgeborene werden in verschiedene Kategorien eingeteilt:

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  • Späte Frühgeborene: 34. bis 36. SSW
  • Moderat unreife Frühgeborene: 28. bis 34. SSW
  • Extrem unreife Frühgeborene: Weniger als 28. SSW

Je früher die Frühgeburt stattfindet, desto höher ist das Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen wie ADHS. Studien haben gezeigt, dass das erhöhte ADHS-Risiko bei Frühgeburten nicht auf typische Frühgeburtsrisiken wie Sauerstoffmangel, Gehirnblutungen oder intrauterine Wachstumsverzögerung zurückzuführen ist, sondern auf die Schwangerschaftsdauer selbst. Es wird vermutet, dass durch die Frühgeburt die Versorgung mit wichtigen Stoffen zu früh endet, was die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigt.

Frühgeborene haben ein erhöhtes Risiko für verschiedene Komplikationen, darunter:

  • PVL (periventrikuläre Leukomalazie): Schädigung der weißen Substanz im Gehirn.
  • NEC (nekrotisierende Enterocolitis): Lebensbedrohliche Darmerkrankung.
  • ROP (Retinopathie des Frühgeborenen): Netzhautschädigung.
  • Hirnblutungen: Insbesondere bei sehr unreifen Frühgeborenen.
  • Chronische Lungenerkrankung (bronchopulmonale Dysplasie): Folge von Beatmung und Sauerstoffgabe.

Langzeitfolgen einer Frühgeburt können sein:

  • Kognitive Beeinträchtigungen: Etwa 20 % der Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g sind schwerbehindert.
  • Motorische Störungen: Muskeläre Schwäche, Bewegungsstörungen oder Cerebralparese.
  • Epilepsie: Erhöhtes Risiko für Epilepsie.
  • Verhaltensprobleme: Erhöhtes Risiko für ADHS und andere psychische Probleme.
  • Sehbeeinträchtigungen: Durch Retinopathie.
  • Sprachliche und geistige Entwicklungsverzögerungen: Ähnlich denen von Frühchen.

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind komplexe neurodevelopmentale Entwicklungsstörungen, deren Ursachen noch nicht vollständig geklärt sind. Schätzungen zufolge ist etwa eines von 100 Kindern betroffen, wobei Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen.

Eine Untersuchung der University of Alagoas legt nahe, dass Umwelteinflüsse während der Schwangerschaft eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von ASS spielen können. Zu den potenziellen Risikofaktoren gehören:

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  • Luftverschmutzung: Schwangere, die Schadstoffen wie PM2.5 und PM10 ausgesetzt sind, haben ein erhöhtes Risiko, Kinder mit ASS zur Welt zu bringen.
  • Chemische Substanzen: Pestizide, insbesondere Organophosphate, können die Plazentaschranke überwinden und die neurodevelopmentale Entwicklung beeinträchtigen.
  • Mütterliche Erkrankungen: Präeklampsie und Virusinfektionen während der Schwangerschaft können das Risiko für ASS erhöhen.
  • Bestimmte Medikamente: Valproinsäure, die zur Behandlung von Epilepsie eingesetzt wird, ist mit einem höheren Risiko für ASS verbunden.

Stress und Trauma in der Schwangerschaft

Traumatische Erlebnisse der Mutter während der Schwangerschaft können weitreichende Folgen für das ungeborene Kind haben. In Stresssituationen werden Hormone wie Cortisol ausgeschüttet, die über die Plazenta zum Fötus gelangen und dessen Entwicklung beeinflussen können.

Studien haben gezeigt, dass Traumata in der Schwangerschaft mit einem verminderten Geburtsgewicht, einer geringeren Körpergröße und einem erhöhten Risiko für Frühgeburten verbunden sind. Auch die Entwicklung des Gehirns kann beeinträchtigt werden, insbesondere die Amygdala, die für die Verarbeitung von Emotionen und die Stressregulation zuständig ist.

Langzeitfolgen von pränatalem Stress können sein:

  • Stoffwechselveränderungen: Erhöhtes Risiko für Diabetes und Übergewicht.
  • Beeinträchtigung des Immunsystems: Erhöhtes Risiko für Asthma und Allergien.
  • Verzögerungen in der sprachlichen und geistigen Entwicklung.
  • Erhöhtes Risiko für ADHS, affektive Störungen und Verhaltensauffälligkeiten.

Bedeutung der frühen Intervention

Um die negativen Auswirkungen von Risikofaktoren auf die Gehirnentwicklung zu minimieren, ist eine frühzeitige Erkennung und Intervention entscheidend. Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum hat eine Smartphone-App namens „BrainProtect“ entwickelt, die es Eltern ermöglicht, die Gehirnentwicklung ihres Babys auf Basis möglicher Risikofaktoren zu überwachen. Die App analysiert die wahrscheinliche Entwicklung des Kindes basierend auf IQ-Tests, Einschulungstests und Motorik-Bewertungen. Ziel ist es, Risiken zu erkennen und rechtzeitig Maßnahmen ergreifen zu können.

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