Migräne ist mehr als nur ein starker Kopfschmerz. Sie ist eine neurologische Erkrankung, die das Gehirn und seine Leistungsfähigkeit auf vielfältige Weise beeinflussen kann. Lange Zeit wurde angenommen, dass Migräne keine dauerhaften Schäden im Gehirn hinterlässt. Jüngste Forschungsergebnisse und klinische Beobachtungen deuten jedoch darauf hin, dass Migräne, insbesondere bei Frauen mit Aura, mit Veränderungen im Gehirn assoziiert sein kann. Dieser Artikel beleuchtet die komplexen Zusammenhänge zwischen Migräne und Gehirnleistung, beginnend mit den neuesten Forschungsergebnissen bis hin zu den Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten und den Möglichkeiten zur Behandlung und Prävention.
Migräne: Mehr als nur Kopfschmerzen
Migräne ist eine neurobiologisch bedingte Funktionsstörung des Gehirns, der Hirnhaut (Dura) und der jeweiligen Blutgefäße, für die eine erbliche Veranlagung besteht. Typischerweise äußert sie sich in wiederkehrenden, starken Kopfschmerzen, die oft von Symptomen wie Lichtempfindlichkeit, Übelkeit und Wahrnehmungsstörungen begleitet werden. Die Reizwahrnehmung von Patienten, die unter Migräne leiden, unterscheidet sich nicht nur während der akuten Attacke von der Gesunder. Auch in der anfallsfreien Zeit weisen sie eine erhöhte Netzwerkaktivität im Gehirn auf, die sich unmittelbar auf die akustischen, visuellen und sensorisch-motorischen Schaltkreise auswirkt.
Früher wurde Migräne oft als hysterische Erkrankung abgetan, was zu einer Stigmatisierung der Betroffenen führte. Heute ist jedoch bekannt, dass Migräne eine neurologische Erkrankung ist, die körperliche Ursachen hat. Professor Max Nedelmann, Chefarzt der Abteilung für Neurologie in den Pinneberger Regio Kliniken, erklärt: “Migräne hat körperliche Ursachen und entsteht durch eine vom Nervensystem ausgelöste Entzündungsreaktion.”
Die Rolle von Entzündungen und Botenstoffen
Bei einer Migräne ist der Hirnstamm besonders empfindlich und überreizt. Ähnlich wie eine falsch eingestellte Alarmanlage, die schon bei kleinsten Reizen losgeht. Spezielle Nerven werden aktiv, die in der Nähe der Blutgefäße im Gehirn verlaufen. Sie setzen Stoffe frei, die Entzündungen auslösen, beispielsweise den Botenstoff CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptid). Das führt dazu, dass sich die Blutgefäße erweitern und in der Folge der typische Migräneschmerz entsteht. Eine Schlüsselrolle in diesem Gehirn-Unwetter spielt der Gesichtsnerv, der Nervus trigeminus.
Die Überaktivität der Nervenzellen im Hirnstamm führt dazu, dass die (C-)Fasern des Trigeminusnervs Schmerz-signale an das Gehirn senden (über den trigemino-thalamischen Trakt). Dies hat auch eine vermehrte Ausschüttung so genannter Botenstoffe (vasoaktive Neuropeptide) zur Folge, die eine Dehnung der Blutgefäße bewirken und die Gefäßwände für Blutflüssigkeit durchgängig machen (Extravasation) und bestimmte Blutbestandteile (z.B. entzündliche Eiweißstoffe) freisetzen. Es kommt zu einer Aufschwemmung und einer Art Entzündung des Hirngewebes und der Hirnhäute. Diese so genannte neurogene Entzündung verursacht wiederum Schmerzimpulse, welche ausstrahlen und den Migränekopfschmerz bewirken.
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Migräne mit Aura und Veränderungen im Gehirn
Einige Migränepatienten erleben vor oder während ihrer Kopfschmerzen neurologische Symptome, die als Aura bezeichnet werden. Diese können visuelle Störungen, sensorische Veränderungen oder Sprachschwierigkeiten umfassen. Eine Studie im Amerikanischen Ärzteblatt JAMA (2009; 301: 2563-2570) deutet darauf hin, dass Frauen, die lange Jahre unter einer Migräne mit Aura leiden, im Alter häufiger kernspintomografische Läsionen im Kleinhirn aufweisen.
Ann Scher vom Uniformed Services University in Bethesda/Maryland und Mitarbeiter setzten die Ergebnisse zu den Angaben der Teilnehmer zu Kopfschmerzen in Beziehung, die diese 25 Jahre früher gemacht hatten. Es zeigte sich, dass Frauen (nicht aber Männer), die regelmäßig unter Migräne (mit Aura) litten, häufiger kernspintomografische Läsionen im Gehirn aufwiesen, wobei diese Läsionen vor allem im Kleinhirn zu finden waren: Betroffen waren 23 Prozent der Frauen, die ein Vierteljahrhundert zuvor unter Migräne mit Aura gelitten hatten, aber nur bei 14,5 Prozent der anderen Frauen. Selbst nach Berücksichtigung anderer bekannter Risikofaktoren ergibt dies eine Odds Ratio von 1,9 (95-Prozent-Konfidenzintervall 1,4-2,6).
Als Erklärung bieten sich wiederholte Durchblutungsstörungen im Kleinhirn an, zu denen es bei den episodischen Schmerzattacken der Migräne kommt. Warum sie nur bei Migräne-Anfällen mit Aura auftreten und warum Männer im Gegensatz zu Frauen nicht betroffen sind, dürfte Gegenstand weiterer Untersuchungen sein, die das US-National Institute of Aging in der Pressemitteilung ankündigt.
Die beobachteten MRI-Läsionen werden als Folge von Mikro-Infarkten gedeutet. Sie sind im Alter keineswegs selten. Bei den im Durchschnitt fast 77 Jahre alten Teilnehmern der AGES-RS-Studie wurden sie bei 40 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen gefunden. Die meisten einzelnen Läsionen haben vermutlich keine Auswirkungen auf die Hirnleistung.
Migräne und kognitive Fähigkeiten: Eine komplexe Beziehung
Die Frage, ob Migräne die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt, ist Gegenstand intensiver Forschung. Während einige Studien keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen lebenslanger Migräne und kognitiven Defiziten im Alter finden, deuten andere darauf hin, dass Migräneattacken und chronische Migräne negative Auswirkungen auf die Kognition haben können.
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Eine umfangreiche Überblicksstudie aus dem Jahr 2019 wertet unterschiedliche Arbeiten aus, die auf mögliche kognitive Einschränkungen während der verschiedenen Phasen einer Migräneattacke eingehen. Laut den Autorinnen lässt sich feststellen, dass kognitive Symptome die herannahende Attacke anzukündigen scheinen. Demnach kommt es dann bei den Betroffenen häufig zu Sprach- und Lesestörungen sowie Konzentrationsschwäche. Überdies berichten sie von weiteren Belastungen wie etwa Niedergeschlagenheit und Angstzuständen. In der akuten Phase der Attacke lassen sich dann z.B. Sprachstörungen und Konzentrationsschwäche ausmachen: Die Patientinnen geben unter anderem eine Verlangsamung ihres Denkens, Orientierungsprobleme im Denken oder Retardierung von Denkprozessen an. Außerdem beschreiben sie, dass sie sich müde, abgeschlagen, kraftlos oder depressiv fühlen.
Im Fall der chronischen Migräne (≥15 Migränetage pro Monat) verkürzen sich oft die Erholungsphasen zwischen den Attacken. Bildgebende Verfahren zeigen, dass die Übererregbarkeit bestimmter Nervenareale zwischen den Attacken nicht ganz zurückgeht, in besonders schweren Fällen sogar bestehen bleibt. Zudem kann sich eine chronische Aktivierung des Trigeminus-Nervs einstellen, die zu einer permanent veränderten Schmerzverarbeitung führt. Eine Studie von 2017 betrachtet den Zusammenhang kognitiver Beeinträchtigung mit der Dauer und Frequenz von Migräneattacken und stellt fest, dass die durch Chronizität erhöhte Häufigkeit der Attacken negative Auswirkungen auf die Kognition der Betroffenen mit sich bringt. Sie finden signifikante Defizite im Sprach- und Erinnerungsvermögen, bei der sogenannten „kognitiven Kontrolle“ von bewusstem und aufmerksamem Handeln sowie im Rechen- und Orientierungsvermögen.
Die besondere Reizverarbeitung des Migräne-Gehirns
Das Gehirn von Menschen mit Migräne zeichnet sich durch eine besondere Reizverarbeitung aus. Die Kopfschmerzforschung geht davon aus, dass das Gehirn eines Migränebetroffenen Reize früher und schneller verarbeitet, als es bei einem Menschen ohne Migräneveranlagung der Fall ist. Man kann es sich so vorstellen, dass das Nervensystem von Migränebetroffenen wegen der gesteigerten Reizverarbeitung ständig unter ‚Hochspannung‘ steht. Bei zu schneller oder zu lang anhaltender Reizverarbeitung kann es zu einem Zusammenbruch der Energieversorgung der Nerven kommen. Die Steuerung der Nervenfunktionen entgleist und schmerzauslösende Botenstoffe werden ungehindert freigesetzt - die hämmernden Migränekopfschmerzen stellen sich ein.
Professorin Dagny Holle-Lee, Leiterin des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums am Universitätsklinikum Essen, erklärt: „Migräne-Patienten sind die Menschen, die alles bemerken und hören: jedes kleine Klicken oder Klopfen. Die die Baustelle vor der Haustür genauso wahrnehmen wie den tropfenden Wasserhahn.“ Diese erhöhte Sensibilität kann zu einer Reizüberflutung führen, die wiederum eine Migräneattacke auslösen kann.
Auslöser und Trigger: Was eine Migräneattacke begünstigt
Bestimmte innere und äußere Faktoren, so genannte Trigger, können bei entsprechender Veranlagung eine Migräne begünstigen. Jeder Migräne-Patient kann durch Selbstbeobachtung und konsequente Führung eines Kopfschmerz-Tagebuchs/Kalenders seine verschiedenen, persönlichen Auslöser ermitteln:
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- Wechselnder Schlaf-Wach-Rhythmus (z.B. zu viel oder zu wenig Schlaf)
- Unregelmäßigkeiten im Tagesablauf
- Unterzuckerung/Hungerzustand (z.B. aufgrund des Auslassens von Mahlzeiten)
- Hormonveränderungen, z.B. während des Zyklus (Eisprung oder Menstruation) bzw. aufgrund der Einnahme von Hormonpräparaten
- Stress in Form körperlicher oder seelischer Belastungen - Migräne tritt meist in der Entspannungsphase danach auf
- Verqualmte Räume
- Bestimmte Nahrungsmittel - z.B. Schokolade, Käse, Zitrusfrüchte, Alkohol (Rotwein!)
- Äußere Reize wie (Flacker)Licht, Lärm oder Gerüche
- Wetter- und Höhenveränderungen (Föhn, Kälte etc.)
- Starke Emotionen, z.B. ausgeprägte Freude, tiefe Trauer, heftige Schreckreaktion, Angst
- evtl. Medikamente
Es ist wichtig zu beachten, dass nicht jeder Trigger bei jedem Menschen eine Migräne auslöst. Die Identifizierung und Vermeidung persönlicher Trigger kann jedoch dazu beitragen, die Häufigkeit und Intensität von Migräneattacken zu reduzieren.
Neue Erkenntnisse über die Ursachen von Migräne-Auren
Ein Forschungsteam aus Tübingen und München unter Federführung von Professor Tobias Freilinger ist im Tiermodell einem der zugrundeliegenden Mechanismen auf die Spur gekommen. Bei sogenannten Migräne-Mäusen, die die Erkrankung beim Menschen nachbilden, ist eine bestimmte Art von Nervenzellen überaktiv. Die Studie ist von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert worden.
Die Forschenden beobachteten nun bei den Mäusen, dass Nervenzellen dadurch übermäßig aktiv wurden. „Allerdings nicht alle Neurone, sondern nur die, die Aktivität sogenannter Pyramidenzellen hemmen“, berichtet Freilinger. „Eine Überraschung für uns: Bislang hatte man überwiegend Pyramidenzellen unter Verdacht, Auslöser der Migräne-Auren zu sein“, sagt Neurowissenschaftler und Co-Studienleiter Professor Nikolaus Plesnila vom Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung des LMU Klinikums München.
Die krankhafte Hirnaktivität bei den Mäusen besserte sich, als die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Substanz verabreichten, die die übermäßige Natriumkanalaktivität blockiert. „Damit haben wir einen Ansatzpunkt für die medikamentöse Behandlung von Patientinnen und Patienten - zumindest bei dieser bestimmten Form der Migräne“, schlussfolgert die Tübinger Wissenschaftlerin und Co-Erstautorin Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch.
Auren können bei verschiedenen Migräneformen vorkommen und betreffen fast ein Drittel aller Patientinnen und Patienten. Sie gehen dem Kopfschmerz voraus und dauern typischerweise zwischen 15 und 30 Minuten an. Meist handelt es sich um Sehstörungen, wie etwa ein Flimmern vor den Augen, das langsam durch das Sehfeld wandert. Auren können sich aber auch als andere vorübergehende neurologische Symptome zeigen.
Veränderungen in den perivaskulären Räumen bei Migräne
Forscher der University of Southern California haben auf den Bildern signifikante Veränderungen in den perivaskulären Räumen einer Gehirnregion entdeckt, die als Centrum semiovale bezeichnet wird. Perivaskuläre Räume sind flüssigkeitsgefüllte Blasen, die Blutgefäße im Gehirn umgeben. Die Forscher vermuten, dass signifikante Unterschiede in den perivaskulären Räumen bei Patienten mit Migräne im Vergleich zu gesunden auf eine glymphatische Störung im Gehirn hindeuten. Das glymphatische System ist dafür zuständig, lösliche Proteine und Metaboliten, die Abfälle sind, aus dem zentralen Nervensystem zu eliminieren.
Behandlung und Prävention von Migräne
Obwohl Migräne nicht heilbar ist, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Häufigkeit und Intensität von Attacken zu reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Medikamentöse Behandlung
- Akuttherapie: Schmerzmittel wie Triptane können helfen, die Symptome einer akuten Migräneattacke zu lindern.
- Prophylaxe: Medikamente wie Betablocker, Antidepressiva oder Antiepileptika können eingesetzt werden, um die Häufigkeit von Migräneattacken zu reduzieren. Im September erschien die neue Patientenleitlinie zur Migräne: Neurologische Patienten-Leitlinien | Deutsche Hirnstiftung
- CGRP-Antikörper: Eine neuere Klasse von Medikamenten, die CGRP-Antikörper, zielt auf den Botenstoff CGRP ab, der eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Migräne spielt.
Nicht-medikamentöse Behandlung
- Anpassung des Lebensstils: Regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus, ausgewogene Ernährung und Stressmanagement können dazu beitragen, Migräneattacken vorzubeugen.
- Ernährungstagebuch: Das Führen eines Ernährungstagebuchs kann helfen, individuelle Trigger zu identifizieren und zu vermeiden.
- Regelmäßige Bewegung: Ausdauersport, möglichst dreimal pro Woche, ist eine gute Maßnahme zur Vorbeugung von Migräne.
- Entspannungstechniken: Yoga, Meditation und andere Entspannungstechniken können helfen, Stress abzubauen und die Entspannungseinheiten im Alltag unterzubringen.
- Psychotherapie: Eine Psychotherapie kann helfen, Ängstlichkeit und katastrophisierendes Denken zu reduzieren, die das Risiko für eine Chronifizierung der Migräne-Erkrankung steigern können.
Spezialisierte Kliniken und Therapieangebote
Für Patienten mit chronischer Migräne oder komplizierten Verläufen gibt es spezialisierte Kliniken und Therapieangebote, wie z.B. die Neurologisch-verhaltensmedizinische Schmerzklinik Kiel unter der Leitung von Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Hartmut Göbel. Dort werden spezielle Therapien für Migräne mit und ohne Aura, Migräne-Komplikationen und andere Kopfschmerzformen angeboten.
Leben mit Migräne: Akzeptanz und Selbstmanagement
Die Migräne gehört zu mir, sie ist meine Begleiterin, ob ich das will oder nicht. Ich kann sie zähmen und in ihre Schranken weisen, mal besser, mal schlechter - auch das ist normal. Ganz loswerden werde ich sie wohl nicht. Migräne ist nicht heilbar. Der Weg zur Akzeptanz sei auch ein Trauerprozess, sagt Clarissa Verschoof: „Anzunehmen, dass man das Leben ein Stück weit anders gestalten muss, als man sich das gewünscht hat. Aber auch Gefühle wie Wut oder Trauer zuzulassen.“
Heute versuche ich, die Migräne auch als Warnsignal meines Gehirns zu sehen. Als Aufforderung, mich wieder besser um mich zu kümmern. Ich kann diese Signale mittlerweile besser lesen. Eine plötzliche Müdigkeit ist zum Beispiel ein Zeichen dafür, dass mein Gehirn gerade zu viel Input bekommt. Manchmal gelingt es mir dann sogar, mich zurückzuziehen, mich auszuruhen und neue Energie zu tanken. Den tropfenden Wasserhahn kann ich reparieren. Die laute Party früher verlassen. Vielleicht kann ich damit sogar die nächste Attacke abwenden.
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