Myasthenia gravis, auch als Myasthenie bekannt, ist eine seltene Autoimmunerkrankung, die durch Muskelschwäche und schnelle Ermüdung gekennzeichnet ist. Diese Erkrankung beeinträchtigt die willkürliche Steuerung der Muskeln, was zu Schwierigkeiten bei alltäglichen Aktivitäten führen kann. Schätzungen zufolge sind in Deutschland etwa 15 von 100.000 Menschen betroffen.
Was ist Myasthenia gravis?
Myasthenia gravis ist eine Erkrankung, bei der fehlgesteuerte Antikörper die Signalübertragung von der Nervenzelle zum Muskel blockieren. Bei der Myasthenie wird die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln blockiert, was dazu führt, dass verschiedene Muskeln im Körper bei Belastung schnell ermüden. Häufig sind die Beschwerden in der zweiten Tageshälfte stärker. Durch Infektionen, extreme Hitze oder Kälte, bestimmte Medikamente, Stress oder kurz vor der Periode können sie verstärkt auftreten.
Neben Myasthenia gravis, die durch eine fehlgeleitete Immunreaktion des Körpers verursacht wird, gibt es auch genetisch bedingte, also angeborene Muskelschwächen (kongenitale myasthene Syndrome = CMS).
Ursachen von Myasthenia gravis
Die Ursache der Myasthenia gravis ist eine gestörte Impulsübertragung an der Kontaktstelle zwischen Nerv und Muskel, der sogenannten neuromuskulären Endplatte. Der Grund für die gestörte Impulsübertragung liegt in einer fehlgesteuerten Reaktion des Immunsystems. Dabei bildet das Immunsystem Abwehrstoffe (Antikörper) gegen Bestandteile der neuromuskulären Endplatte.
Bestimmte Antikörper blockieren oder verändern Andockstellen, sogenannte Rezeptoren, für den Botenstoff Acetylcholin, der an der Steuerung der Muskulatur einen wesentlichen Anteil hat. Acetylcholin kann seine Wirkung folglich nicht mehr voll entfalten. Die sogenannte neuromuskuläre Endplatte ist der Übergang zwischen Nerv und Muskelfaser. Um den Muskel zu einer Bewegung anzuregen, muss der elektrische Impuls aus dem Rückenmark in ein chemisches Signal umgewandelt werden. Dies geschieht, indem als Folge eines elektrischen Impulses an der Endigung der Nervenzelle der Botenstoff Acetylcholin in den Spalt zwischen Nerv und Muskelfaser freigesetzt wird.
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Es ist noch nicht abschließend geklärt, durch welche Faktoren eine Myasthenia gravis verursacht wird, allerdings wird vermutet, dass u. a. die Thymusdrüse eine entscheidende Rolle dabei spielen könnte. Die Thymusdrüse ist ein lymphatisches Organ, das in der oberen Brusthöhle liegt und wichtige Funktionen bei der Entwicklung des Immunsystems erfüllt. Bei 50-60 % der Patient:innen mit Myasthenia gravis kann eine Vergrößerung der Thymusdrüse festgestellt werden. Die Thymusdrüse steht daher unter Verdacht, bei der Produktion der Autoantikörper bei Myasthenia gravis beteiligt zu sein.
Risikofaktoren
Es wird vermutet, dass bestimmte Hormone wie z. B. Östrogene oder Progesteron das Risiko einer Myasthenia gravis erhöhen oder die Erkrankung zumindest beeinflussen können. Bei einer Myasthenia gravis mit frühem Krankheitsbeginn konnte beobachtet werden, dass Frauen dreimal öfter betroffen sind als Männer. Außerdem berichten einige erkrankte Frauen von einer Verschlechterung ihrer Symptome kurz vor dem Einsetzen ihrer Periode, wenn die Progesteron-Konzentration im Körper abfällt. Neben hormonellen Schwankungen können auch verschiedene Stressfaktoren die Symptome einer Myasthenia gravis verschlimmern. Zu diesen Stressfaktoren gehören beispielsweise fieberhafte Infekte, bestimmte Medikamente, grelles Licht oder Wärme/Hitze. Ruhe und Erholung führen hingegen häufig zu einer Abmilderung der Symptome.
Symptome von Myasthenia gravis
Wichtigstes Symptom der Myasthenia gravis ist die belastungsabhängige Muskelschwäche. Sie beginnt meist im Bereich der Augen und kann im Laufe der Zeit alle Körperregionen betreffen. Auffällig ist eine Ermüdung der Muskulatur, die im Laufe des Tages zunimmt. Zunächst sind vor allem kleinere Muskelgruppen betroffen, wie etwa die Augenmuskulatur. Den Betroffenen fällt es schwer, die Augenlider zu öffnen oder es entstehen Doppelbilder nach längerem Lesen. Auch ein zunehmend herabhängendes Augenlid - auf einer Seite ausgeprägter als auf der anderen - kann auffallen. Bei etwa 70 bis 80 Prozent der Betroffenen breitet sich die Schwäche meist innerhalb von zwei bis drei Jahren auch auf andere Muskelgruppen aus, man spricht dann von der Generalisierung der MG.
Bei der generalisierten Myasthenie können potenziell alle Muskeln beteiligt sein, typischerweise sind aber die Muskeln von Armen und Beinen betroffen. Erkrankte haben daher zum Beispiel Schwierigkeiten, Wäsche aufzuhängen oder Dinge über Kopf einzuräumen. Auch die Muskulatur des Gesichts kann betroffen sein, wodurch die Ausdrucksfähigkeit abnimmt und die Mimik erstarrt. Ungünstiger wird es, wenn die Muskeln von Zunge, Schlund oder Kehlkopf betroffen sind. Betroffene haben Schwierigkeiten beim Kauen von harten Speisen, verschlucken sich häufig oder haben eine verwaschene Sprache.
Ist die Atemmuskulatur gestört, äußert sich das durch eine schwache, tonlose Stimme, einen schwachen Hustenstoß oder häufiges Zwischenatmen beim Sprechen. Bei dieser Erkrankungsform besteht ein erhöhtes Risiko für eine sogenannte myasthene Krise: Sie gefährdet Betroffene durch eine Atemlähmung und schwere Schluckstörungen.
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Symptome im Überblick
- Schwäche der Augenmuskeln
- Hängende Augenlider
- Verschwommenes oder doppeltes Sehen
- Müdigkeit, Schmerzen, Schwäche und Krämpfe im Nacken, Rücken und Schultern
- Schwäche in Armen und Beinen
- Schwierigkeiten beim Kauen, Sprechen und Schlucken
- Veränderungen der Stimme
- Kurzatmigkeit
Diagnose von Myasthenia gravis
Die Diagnose der Myasthenia gravis beruht vor allem auf den typischen Beschwerden, dem Alter des Patienten und der Beschaffenheit der Thymusdrüse. Dafür erfragt der Arzt die Vorgeschichte und untersucht den Betroffenen auf körperliche Symptome wie ermüdende Muskeln, unterschiedlich stark ausgeprägte Muskelschwäche sowie die betroffenen Körperregionen. Auch eine Untersuchung der Thymusdrüse kann sinnvoll sein. Darüber hinaus unterstützen Labortests dabei, eine fehlerhafte Impulsübertragung zwischen Nerven und Muskeln, den Erkrankungstyp anhand der ursächlichen Antikörper sowie den Schweregrad zu bestimmen.
Diagnoseverfahren
- Neurologische Untersuchung: Eine gezielt durchgeführte neurologische Untersuchung kann weitere Hinweise auf das Vorliegen einer Myasthenia gravis geben.
- Antikörpertests: Eine Testung auf Antikörper gegen den Acetylcholin-Rezeptor im Blut Betroffener ist der erste empfohlene Schritt bei Verdacht auf Myasthenia gravis. Auch Antikörper gegen MuSK und LRP4 können im Blut erfasst werden.
- Elektromyogramm (EMG): Bei der Durchführung eines Elektromyogramms (EMG) werden Nerven einer wiederholten elektrischen Reizung ausgesetzt. Die dadurch entstehende elektrische Spannung am entsprechenden Muskel wird gemessen. So kann festgestellt werden, ob die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel funktioniert.
- Bildgebende Verfahren: Bei etwa 10 bis 15 von 100 Myasthenia gravis-Patienten ist ein Tumor der Thymusdrüse, ein sogenanntes Thymom, vorhanden. Auch eine Vergrößerung des Thymus tritt bei Patienten mit Myasthenia gravis häufiger auf als bei gesunden Menschen. Daher kann eine Computertomografie (CT), Magnetresonanztomographie (MRT) oder Positronen-Emissions-Tomographie (PET) sinnvoll sein.
Differentialdiagnose
Vor allem zu Beginn der Erkrankung kann es sinnvoll sein, vor der Diagnosestellung andere Erkrankungen auszuschließen. Abhängig von den vorliegenden Beschwerden können u. a. folgende weitere Erkrankungen in Frage kommen: Lambert-Eaton-Syndrom, medikamenteninduzierte myasthene Syndrome, Polymyositis, Dermatomyositis, mitochondriale Muskeldystrophie, okulopharyngeale Muskeldystrophie, Guillain-Barré-Syndrom oder auch ein Hirntumor.
Behandlung von Myasthenia gravis
Die Erkrankung ist zwar nicht heilbar, es existieren jedoch medikamentöse Therapien, die durch eine Verbesserung der Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel die Symptome der Erkrankung lindern können. Gleichzeitig können sie den Verlauf der Erkrankung günstig beeinflussen. Wird die entzündlich neuromuskuläre Autoimmunerkrankung dagegen frühzeitig erkannt und behandelt, können Betroffene mithilfe einer medikamentösen Therapie ein nahezu unbeeinträchtigtes Leben führen.
Medikamentöse Therapie
Hierfür stehen verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung:
- Acetylcholinesterasehemmer: Mit diesem Wirkstoff wird der Abbau des Botenstoffes Acetylcholin gebremst und damit die Reizübertragung von den Nerven zu den Muskeln verbessert.
- Kortison: Kortison zählt zu den Standardtherapeutika. Mit dem körpereigenen Hormon wird die Überaktivität des Immunsystems gedämpft.
- Immunsuppressiva: Sie werden eingesetzt, um die Neubildung von Antikörpern zu bremsen. Sie haben in der Regel während einer Langzeitbehandlung weniger starke Nebenwirkungen als Kortison. Der Behandlungserfolg tritt mit diesen Medikamenten jedoch erst mit einer gewissen Verzögerung ein.
- Biologika: Neuartige monoklonale Antikörper wie Rituximab und Eculizumab, greifen spezifisch in den Krankheitsprozess ein und können das Krankheitsgeschehen in bestimmten Konstellationen nachhaltig positiv zu beeinflussen.
Weitere Behandlungsansätze
- Thymektomie: Lässt sich jedoch ein Thymustumor nachweisen, reicht eine medikamentöse Therapie allein meist nicht mehr aus und eine Operation wird notwendig. Ist eine Erkrankung des Thymus ursächlich für die Myasthenia gravis, sollte die Thymusdrüse in einer Operation entfernt werden.
- Immuntherapie: Am Deutschen Zentrum Immuntherapie kann die Erkrankung in interdisziplinärere Zusammenarbeit mit den beteiligten Kliniken zudem mittels Immuntherapie behandelt werden. Bei dieser kommen spezielle Immuntherapeutika zum Einsatz, die die Bildung schädigender Antikörper unterdrücken.
- Plasmapherese und Immunadsorption: Befinden sich Betroffene in einer myasthenen Krise, ist eine Intensivtherapie nötig, oft auch künstliche Beatmung. Zusätzlich werden Verfahren wie die Plasmapherese - eine Art „Blutwäsche“ - oder Immunadsorption angewandt, um Antikörper aus dem Blut zu entfernen.
Unterstützende Maßnahmen
Erwiesen ist inzwischen auch, dass sich Bewegung positiv auf den Krankheitsverlauf auswirkt und eine vergrößerte Muskelkraft zu einer besseren Lebensqualität führt. Neben Bewegungs- und Trainingstherapien können auch ergänzende Maßnahmen wie Physio- oder Ergotherapie, Logopädie, neuropsychologische Therapie und Entspannungsmaßnahmen zu einem positiven Krankheitsverlauf beitragen.
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Leben mit Myasthenia gravis
Patientinnen und Patienten mit myasthenen Syndromen möchten und können, trotz ihrer Erkrankung, in den Urlaub fahren. Im Vorfeld bedarf es einiger Organisation und eventuell auch, je nach Schweregrad und Behandlung, eine individuelle Abstimmung mit der behandelnden Ärztin / dem behandelnden Arzt. Beachten Sie bei der Planung ihre Therapieintervalle von regelmäßigen Infusionen (z. B. IVIG, Eculizumab, Efartigimod, Rituximab, etc.) und, dass diese eventuell vor Ort verabreicht werden müssen. Vermeiden Sie Temperaturextreme. Patientinnen und Patienten mit myasthenen Syndromen vertragen Hitze meist schlechter.
Es gibt viele Medikamente, die die Symptome einer Myasthenie verstärken können. Dazu gehören einige Antibiotika wie etwa Makrolide, Fluorchinolone und Aminoglykoside. Auch Mittel zur Blockade der neuromuskulären Übertragung wie Botulinumtoxin und Betablocker können eine Myasthenie verschlechtern, ebenso bestimmte Mittel in der Anästhesie.
Selbsthilfe
Selbsthilfeorganisationen wie die Deutsche Myasthenie-Gesellschaft können Betroffene unterstützen.
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