Wie das Denken die Struktur des Gehirns verändert

Das menschliche Gehirn, ein Wunderwerk der Natur, ist weit mehr als nur eine Rechenmaschine. Obwohl es in puncto Geschwindigkeit nicht mit einem Computer mithalten kann, übertrifft es diesen bei Weitem in Bezug auf Lernfähigkeit und Erinnerungsvermögen. Die Grundlage hierfür bildet die flexible Vernetzung von über 100 Milliarden Nervenzellen, wobei den sogenannten Dornfortsätzen (dendritische Spines) eine Schlüsselrolle zukommt. Diese feinsten Ausläufer der Nervenzellen werden beim Lernen und Erinnern kontinuierlich umgebaut. Die Veränderbarkeit der neuronalen Signalübertragung stellt eine der herausragendsten Eigenschaften des Gehirns dar und wird von Neurowissenschaftlern als zelluläre Grundlage des menschlichen Gedächtnisses betrachtet.

Die Plastizität des Gehirns: Eine Einführung

Unser Gehirn ist ein dynamisches Organ, das sich ständig an neue Erfahrungen und Informationen anpasst. Diese Anpassungsfähigkeit, bekannt als Neuroplastizität, ermöglicht es uns, zu lernen, uns zu erinnern und uns an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Die Neuroplastizität ist die Fähigkeit unseres Gehirns, lebenslang veränderungs- und lernfähig zu sein. Die Wissenschaft war über 100 Jahre davon überzeugt, dass wir nur als Kinder lernen und uns anpassen können, als Erwachsene jedoch nicht mehr.

Die Rolle der Dornfortsätze

Eine zentrale Rolle bei der Neuroplastizität spielen die Dornfortsätze, auch dendritische Spines genannt. Diese winzigen Ausstülpungen an den Dendriten der Nervenzellen dienen als Kontaktstellen für Synapsen, die Verbindungen zwischen Nervenzellen, über die Informationen übertragen werden. Die Dornfortsätze sind äußerst dynamisch und können sich in Form, Größe und Anzahl verändern, je nachdem, wie stark eine bestimmte Synapse beansprucht wird.

Assoziatives Lernen und die Veränderung von Dornfortsätzen

Besonders deutlich wird die Bedeutung der Dornfortsätze beim assoziativen Lernen. Hierbei werden Informationen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, aufgenommen, verknüpft und als sinnvoller Zusammenhang gespeichert. Solche Verknüpfungen (oder Assoziationen) bilden die Grundlage für komplexe Denkvorgänge.

Professor Cornelius Schwarz vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Werner Reichhardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen erklärt: „Nur wenn die beiden höchst unterschiedlichen Signale miteinander verknüpft werden, erfolgt ein Umbau an den Kontaktstellen der miteinander kommunizierenden Nervenzellen. Kurz gesagt: Wir haben dann etwas gelernt.“

Lesen Sie auch: Anwendung des Konzepts: Lesen ist Denken

Experimentelle Belege aus der Forschung

Um die Vorgänge im Gehirn während des Lernens zu beobachten, trainierten Forscher Mäuse auf eine einfache Aufgabe: Sie lernten, einen Berührungsreiz an ihren Tasthaaren mit einem darauffolgenden Luftstoß gegen die Augen zu assoziieren. Das Tasthaarsystem der Nager ist hierfür von herausragender Bedeutung, da die sensorischen Eingänge jedes einzelnen Tasthaars an einem sehr kleinen, aber gut bekannten Ort auf der Großhirnoberfläche verarbeitet werden.

Während die Tiere lernten, ihre Augen nach der Tasthaarberührung zu schließen, um den Luftstoß aufs offene Auge zu vermeiden, beobachteten die Hirnforscher starke Umbauvorgänge der Dornfortsätze. Im Mittel wurden 15 Prozent der Dornfortsätze abgebaut, wobei der Abbau umso stärker war, je länger der Lernprozess voranschritt und je besser die individuelle Lernleistung der Maus war. Bemerkenswert war auch die hohe räumliche Präzision: Der Dornfortsatzumbau fand nur an dem Punkt der Großhirnoberfläche statt, wo der sensorische Eingang des fraglichen Tasthaares war.

Professor Schwarz betont: „Die beobachteten, hochspezifischen Eigenschaften des Dornfortsatzumbaus und die große zeitliche Korrelation mit dem Lernerfolg geben großen Anlass zur Hoffnung, dass der damit verbundene Netzwerkumbau kausal für die langfristige Speicherung des Lerninhalts verantwortlich ist.“

Negative Gedanken und ihre Auswirkungen auf das Gehirn

Nicht nur Lernprozesse, sondern auch unsere Gedanken und Emotionen können die Struktur unseres Gehirns beeinflussen. Wer ständig nörgelt und jammert, trainiert seine Wahrnehmung dahingehend, Situationen in Zukunft noch stärker als stress- oder angstbelastet zu erleben und weniger Glück zu empfinden.

Der Neurowissenschaftler Tobias Esch erklärt: „Das Gehirn ist erst mal ein Organ, und wie fast jedes Organ verändert es sich durch Aktivität. Und Denken ist sozusagen die primäre Funktion des Gehirns.“ Dabei ist nicht nur relevant, dass Denkprozesse aktiv sind, sondern auch die Frage, was wir denken. Positive Emotionen aktivieren unser Belohnungszentrum, während negative Emotionen den Mandelkern verstärken, der für Alarm- und Angstempfinden zuständig ist.

Lesen Sie auch: Lesen als Denken mit fremdem Gehirn

Die gute Nachricht: Positivität ist trainierbar

Die gute Nachricht ist, dass sich Positivität und Optimismus trainieren lassen. Studien zeigen, dass Achtsamkeitstraining das Mandelzentrum schrumpfen und die Fähigkeit verbessern kann, neutral auf Situationen zu reagieren, die vorher angstbesetzt waren.

Professor Esch gibt folgende Tipps, um negative Gedanken durch positive zu ersetzen:

  • Bewegung: Bewegung und das bewusste Spüren des Körpers können das Gehirn positiv beeinflussen.
  • Achtsamkeit: Versuchen Sie, in jeder Situation ganz anwesend zu sein und die Sinneswahrnehmungen bewusst zu erleben.
  • Kognitive Umstrukturierung: Stellen Sie sich in negativen Situationen drei Fragen: Ist das wirklich so? Kann man das auch anders sehen? Hilft mir das?

Psychotherapie und die Veränderung der Hirnstruktur

Auch Psychotherapie kann die Struktur des Gehirns messbar verändern. Eine Studie belegt, dass eine kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen das Volumen grauer Hirnmasse in Regionen erhöht, die für die Verarbeitung von Emotionen zuständig sind, insbesondere im Hippocampus und in der Amygdala.

Esther Zwiky von der Universität Halle erklärt: „Vor allem die Volumenzunahme der rechten Amygdala war mit einer verbesserten Fähigkeit zur Wahrnehmung von Emotionen verknüpft.“ Dies deutet darauf hin, dass Psychotherapie die Bildung neuer neuronaler Verbindungen und die Anpassung bestehender Netzwerke fördern kann.

Die Anpassungsfähigkeit des Gehirns im Laufe des Lebens

Die Veränderungen des Gehirns im Rahmen der Pubertät betreffen grundsätzlich jeden Menschen, während andere Prozesse individuell unterschiedlich sind und von den jeweiligen Lebensumständen geprägt werden. Dies wird besonders bei besonderer Beanspruchung einzelner Bereiche deutlich, wie es bei manchen Berufsgruppen vorkommt.

Lesen Sie auch: Denken, Fühlen, Handeln: Das Gehirn

Beispiele aus dem Berufsleben

  • Geiger: Bei Geigern sind die Bereiche des Gehirns, die für Bewegung und Gefühl der Finger der linken Hand zuständig sind, größer als bei anderen Menschen.
  • Musiker: Auch das Hörzentrum in den Schläfenlappen reagiert anders als bei musikalischen Laien.
  • Schachspieler: Bei Schachmeistern ist vor allem der frontale Kortex aktiv sowie eine Region in den Scheitellappen, die für das Erkennen geometrischer Strukturen zuständig ist.

Krankheiten und ihre Auswirkungen auf das Gehirn

Auch Krankheiten können zu Veränderungen im Gehirn führen. Besonders deutlich sichtbar sind diese Veränderungen bei Alzheimer-Patienten, deren Gehirn im Verlauf der Krankheit immer stärker schrumpft. Zunächst sind besonders Bereiche der Schläfenlappen und des limbischen Systems beeinträchtigt, vor allem Hippocampus und Amygdala. Im Verlauf der Krankheit schrumpft jedoch auch die Großhirnrinde.

Auch Depressionen hinterlassen sichtbare Spuren im Gehirn. Je länger ein Patient depressiv ist, desto kleiner ist bei diesem auch sein linker Hippocampus. Ausgelöst wird dies vermutlich durch Stresshormone im Blut.

Funktionale und strukturelle Veränderungen des Gehirns

Unser Gehirn verändert sich ständig und passt sich an Ereignisse an. Dabei handelt es sich zunächst um funktionale Veränderungen, das heißt veränderte elektrische Aktivität in bestimmten Hirnregionen. Funktionale Veränderungen des Gehirns sind mittlerweile recht gut erforscht.

Bei Schädigungen des Gehirns - zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder einem Unfall - können andere Regionen Funktionen jener Hirnbereiche übernehmen, die durch die Schädigung ausgefallen sind. Diesen Anpassungen liegt meist die Fähigkeit zur so genannten synaptischen Plastizität zugrunde, die in verschiedenen Altersgruppen zwar unterschiedlich stark ist, jedoch ein Leben lang stattfinden kann.

Ganz dramatische Veränderungen des Gehirns wurden zum Beispiel bei Kindern mit Verletzungen des Sprachzentrums beschrieben - da können die betroffenen Regionen sogar die Seite wechseln, sodass plötzlich die andere Hemisphäre zur Verarbeitung von Sprache gebraucht wird.

Brain-Computer-Interfaces und die Plastizität des Gehirns

Die Wirkung eines sogenannten Brain-Computer-Interfaces (BCI, Gehirn-Computer-Schnittstelle) beruht darauf, dass die bloße Vorstellung einer Handlung schon messbare Veränderungen der elektrischen Hirnaktivität auslöst. Diese Signale können über ein EEG (Elektro-Enzephalographie) ausgelesen, ausgewertet und dann über maschinelle Lernsysteme in Steuersignale umgesetzt werden, die zum Beispiel einen Computer bedienen oder auch eine Prothese bewegen können.

Studien haben gezeigt, dass bereits innerhalb kurzer Zeit (eine Stunde) mit dem BCI messbare Veränderungen in genau den Hirnregionen auftreten, die für die Art der auszuführenden Aufgabe spezifisch sind. Dies deutet darauf hin, dass diese Effekte des Trainings mit dem Brain-Computer-Interface eventuell therapeutisch genutzt werden könnten, um gezielt bestimmte Hirnregionen anzuregen.

Die Anzahl unserer Gedanken

In der Literatur findet man immer wieder Hinweise darauf, dass der Mensch angeblich pro Tag ungefähr 60.000 bis 80.000 Gedanken denkt. Eine Studie aus dem Jahre 2020 von JULIE TSENG und JORDAN POPPENK von der Queen’s University stellt diesen Mythos jedoch in Frage. Stattdessen deutet die Forschung darauf hin, dass wir eher auf etwa 6.000 Gedanken pro Tag kommen.

Die Forscher konzentrierten sich darauf, wie sich die neuronale Aktivität im Gehirn während des Denkens verändert, insbesondere auf die Übergänge zwischen verschiedenen Denkzuständen. Mit Hilfe von Hirnscans (fMRT-Technologie) beobachteten sie den Übergang von einem Gedanken zum nächsten und identifizierten dabei sogenannte "Gedankenwürmer".

Die Biochemie des Denkens

Jeder Gedanke löst im Gehirn eine biochemische Reaktion aus. Botenstoffe (Neurotransmitter, Neuropeptide und Hormone) werden ausgeschüttet. Bei negativen Gedanken werden zum Beispiel Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol, Cytokine und Histamine ausgeschüttet, bei positiven Gedanken Serotonin, Oxytocin, Dopamin, Endorphine und Vasopressin. Diese Botenstoffe führen zu negativen oder positiven Emotionen.

Mentaltraining und die Kontrolle des Denkens

Mentaltraining zeichnet aus, dass wir entscheiden können, wie wir denken. Wer ist verantwortlich für unser Denken? Ja genau, nur wir selbst! Und weil wir ohnehin den ganzen Tag denken, können wir entscheiden, unsere Gedanken in eine für uns positive Richtung zu lenken. Veränderungen sind jederzeit möglich. Positives Denken bedeutet aber nicht, alles durch die rosarote Brille zu sehen und negative Dinge im Leben einfach auszublenden.

Die Neuroplastizität in Aktion

Die Plastizität ist immer gegeben, in unserem Gehirn finden ständig Aufbau- und Abbauprozesse statt. Bei Veränderungen werden neue Schaltkreise werden gebildet, d. h. wenn wir Neues lernen, eine neue berufliche Herausforderung haben, uns sportlich betätigen oder meditieren. Alte Schaltkreise werden abgebaut, wenn wir sie nicht mehr nutzen, z. B. wenn wir einen alten Glaubenssatz, der uns blockiert hat, durch eine neue Überzeugung ersetzen.

Der Wissenschafter Donald Ording HEBB hat 1970 folgende Aussage formuliert: „What fires together wires together.“ Das bedeutet, jene Nervenzellen im Gehirn, die gleichzeitig aktiviert werden, verbinden sich zu einem Neuronen-Netzwerk.

Experimentelle Belege für die Veränderbarkeit des Gehirns durch Denken

PASCUAL-LEONE et al. haben in einer oft zitierten Untersuchung gezeigt, dass alleine die Gedanken in der Lage sind, die physische Struktur des Gehirns zu verändern. In seinem Experiment bildete er zwei Testgruppen, die noch nie in ihrem Leben Klavier gespielt haben. Mittels fMRT-Untersuchungen (funktionelle Magnetresonanztomographie) wurde vor dem Experiment die Struktur des Gehirns aufgezeichnet. Dann brachte man den Teilnehmern eine bestimmte Tonfolge bei, indem ihnen gezeigt wurde, welche Tasten auf dem Klavier sie zu spielen hatten. Das Experiment ging über fünf Tage mit täglich 2 Stunden Übungszeit.

Die erste Gruppe hatte im Training die Aufgabe, sich nur vorzustellen, die Tasten der Tonfolge zu drücken. Die zweite Gruppe spielte die Tonfolge im Training real am Klavier. Um Veränderungen sichtbar machen zu können, wurden am Ende der fünf Tage wieder Gehirnscans mittels fMRT aufgenommen. Pascual-Leone stellte dabei fest, dass sich die Gehirne beider Gruppen auf ähnliche Weise verändert haben. Sowohl die praktische Übung mit dem Klavier als auch die rein mentale Vorstellung schien eine Veränderung im Bewegungszentrum des Gehirns zu bewirken. Es wurden neue Synapsen gebildet und vorhandene Synapsen wurden verstärkt.

Wenn wir wirklich fokussiert sind, aktiviert unser Gehirn dieselben Synapsen = Schaltkreise, egal, ob wir uns etwas nur mental vorstellen oder tatsächlich real erleben.

tags: #wie #das #denken #die #struktur #des