Wie das Gehirn weiß, dass wir Augen haben: Einblick in die komplexe Welt der visuellen Wahrnehmung

Unsere visuelle Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess, bei dem viele einzelne Schritte in Auge und Gehirn ablaufen, bevor wir etwas bewusst sehen. Dieser Artikel beleuchtet, wie das Gehirn die Informationen der Augen verarbeitet und wie es uns ermöglicht, die Welt um uns herum wahrzunehmen.

Die Sehbahn: Vom Auge zum Gehirn

Vereinfacht gesagt funktioniert das Sehen so: Das menschliche Auge nimmt Licht aus der Umgebung auf und bündelt es auf der Hornhaut. Dadurch entsteht ein erster Seheindruck. Dieses Bild wird nun von jedem Auge über den Sehnerv weitergeleitet an das Gehirn und dort zu dem verarbeitet, was wir als „Sehen“ erleben. Licht ist dabei die Grundlage von allem, was wir sehen.

Damit wir einen Gegenstand überhaupt wahrnehmen können, muss Licht auf ihn fallen. Dieses Licht wird dann vom Gegenstand zurückgeworfen und von unserem Sehsystem verarbeitet. Betrachten wir zum Beispiel einen Baum, so nehmen wir das davon reflektierte Licht über unsere Augen auf: Die Lichtstrahlen durchdringen zunächst die Bindehaut und die Hornhaut. Von dort durchqueren sie die vordere Augenkammer, dann die Pupille. Im Anschluss trifft das Licht auf die Augenlinse, wird gebündelt und an die photosensible Netzhaut weitergeleitet.

Dort werden die Informationen über das Gesehene zunächst gesammelt und sortiert: Die Stäbchen kümmern sich hierbei um das Hell-Dunkel-Sehen, die Zapfen um Schärfe und Farben. Anschließend werden die Informationen an den Sehnerv weitergegeben, der sie auf direktem Weg zum Gehirn transportiert.

Die Rolle des Gehirns bei der visuellen Wahrnehmung

Das Gehirn spielt eine entscheidende Rolle bei der visuellen Wahrnehmung. Es verarbeitet die Informationen, die von den Augen empfangen werden, und erzeugt ein inneres Bild der Welt um uns herum.

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Verarbeitung von Augenbewegungen

Wenn wir kniffelige Handlungen ausführen, etwa einen Faden durch ein Nadelöhr ziehen, müssen unsere Augen viele kleine und sehr präzise Bewegungen ausführen. Wissenschaftlern war bisher nicht klar, wie das Gehirn solche Augenbewegungen kontrolliert. Demnach spielt eine Region im Mittelhirn, der Colliculus superior, eine entscheidende Rolle.

Es zeigte sich, dass rund ein Viertel bis ein Drittel aller Nervenzellen im Colliculus superior für die Verarbeitung von Informationen aus der Sehgrube zuständig ist. Damit vergrößert sich im Vergleich zu vorigen Annahmen die Zahl der Nervenzellen, die an der Verarbeitung von hochaufgelösten Bildbereichen beteiligt sind, drastisch.

Das Gehirn füllt Lücken

Schließen Sie einmal ein Auge. Sehen Sie jetzt ein Loch im Text, einen schwarzen Fleck auf der Zeitungsseite? Nein? Dann haben Sie allen Grund, misstrauisch zu sein. Denn auf ihrer Netzhaut ist ein solcher Fleck. Weil die Netzhaut falsch herum aufgebaut ist, mit den Sinneszellen nach innen und den Nervenfortsätzen nach außen zum Licht gewandt, benötigt sie dieses Loch, durch das die gesammelten Nervenbahnen, wie ein dickes Kabel, die visuellen Informationen Richtung Gehirn schicken. Dennoch nimmt kein Mensch so einen schwarzen Fleck im Sichtfeld wahr, weil das Gehirn die Lücke auffüllt und uns eine heile Welt vorgaukelt.

Vorhersagen des Gehirns

Das Gehirn ist bemüht ein möglichst schlüssiges Modell der Welt zu liefern. Was nicht passt, wird passend gemacht. Dafür füllt das Gehirn nicht nur Lücken auf, es rechnet auch voraus, was in der Zukunft zu erwarten ist. Am einfachsten ist das bei dem, was wir selber tun. „Wenn jemand ganz kurz das Licht ausschaltet, dann merken wir das natürlich. Aber wenn wir blinzeln, dann merken wir nicht, dass die Wahrnehmung kurz ausgeschaltet ist“, sagt John Dylan-Haynes vom Bernstein Center for Computational Neurosciences in Berlin. Weil das Gehirn selbst den Befehl zum Blinzeln gibt, kann es auch den kurzen Ausfall des Blickfeldes vorhersagen - und ignorieren. Das Bewusstsein wird einfach umgangen.

Ähnliches gilt für jede Augenbewegung. Schließen Sie noch einmal ein Auge und bewegen Sie dann Ihren anderen Augapfel mit einem Finger hoch und runter. Es sieht aus, als würde die Welt sich auf und ab bewegen. Jetzt gucken Sie einmal nach oben und wieder nach unten. Obwohl auf der Netzhaut dasselbe geschieht, fühlt es sich im zweiten Fall nicht so an, als würde sich die Welt bewegen. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Das Gehirn schickt nicht nur den Befehl, sich zu bewegen, an die Augen, es schickt auch eine Kopie an die Wahrnehmungszentren. „Das Gehirn weiß also, dass es eine Bewegung zu erwarten hat und unterdrückt die Wahrnehmung dieser Bewegung“, sagt Haynes. Das tut es bei jeder Bewegung, bei jedem Schritt, bei jedem Handgriff. Deshalb ist es auch nicht möglich, sich selbst zu kitzeln. Das Gehirn ist sich selbst immer einen Schritt voraus.

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Das Gehirn und die Erwartungen

So haben Wissenschaftler am Max-Planck-Institut (MPI) für Hirnforschung in Frankfurt im Februar eine Studie veröffentlicht, in der sie zeigten, dass unser Gehirn vor allem dann aktiv wird, wenn es einen Sehreiz nicht vorhersagen kann. Die Forscher zeigten Versuchspersonen auf einem Bildschirm einen Balken der sich bewegte. Gleichzeitig maßen sie die Aktivität in dem Teil des Gehirns, der visuelle Informationen verarbeitet. Dort fanden sie immer dann ein starkes Signal, wenn ein Balken aus dem erwarteten Bewegungsmuster ausbrach. „Wir schließen daraus, dass das Gehirn nicht einfach nur auf Signale aus den Sinnenorganen wartet. Stattdessen versucht es aktiv, mögliche Sinneseindrücke vorherzusagen. Treffen die Vorhersagen zu, kann das Gehirn die tatsächlich eintreffenden Informationen besonders effektiv verarbeiten“, sagt MPI-Direktor Wolf Singer.

Das Gehirn "sieht" Geräusche

Vor wenigen Tagen hat der Hirnforscher Antonio Damasio im Fachblatt „Nature Neuroscience“ eine Studie veröffentlicht, in der er zeigt, dass der Teil unseres Gehirns, der Geräusche verarbeitet, auch dann aktiv ist, wenn es gar nichts zu hören gibt. Damasio zeigte acht Testpersonen kurze Stummfilme, die zum Beispiel einen krähenden Hahn, einen heulenden Hund oder eine zerbrechende Vase zeigten. Gleichzeitig maß er die Aktivität im Hörzentrum des Hirns. Es war bei allen Testpersonen aktiv, obwohl es völlig still war, als die Filme gezeigt wurden. Innerlich hörten die Probanden offensichtlich Hahn und Hund. Die Muster waren sogar so unterschiedlich, dass die Forscher allein an Hand der Hirnsignale vorhersagen konnten, ob die Testperson ein Tier, ein Instrument oder eine andere Szene gesehen hatte.

Die Grenzen der Wahrnehmung

Wer glaubt, die Welt um sich herum wirklich scharf zu sehen, der irrt. Tatsächlich können unsere Augen nur einen Bruchteil der Umgebung präzise abbilden. Wie das Gehirn das Scharf-Sehen vorgaukelt, das haben Psychologen der Universität Bielefeld mit einer Experimentreihe untersucht. Ihre Ergebnisse stellen sie in der Oktober-Ausgabe des Fachmagazins „Journal of Experimental Psychology: General“ vor.

Allein die Fovea - die zentrale Stelle der Netzhaut - kann Objekte scharf abbilden. Deshalb dürften wir eigentlich nur einen schmalen Bereich unserer Umwelt wirklich präzise sehen. Dieser Bereich entspricht etwa dem Daumennagel am Ende eines ausgestreckten Arms. Alle Seheindrücke, die außerhalb der Fovea auf die Netzhaut treffen, werden hingegen zunehmend unscharf abgebildet. Dennoch haben wir für gewöhnlich den Eindruck, einen Großteil unserer Umwelt scharf und detailliert wahrzunehmen.

Das Gehirn ersetzt unscharfe Eindrücke

Mit einer Reihe von Lernexperimenten sind Herwig und Schneider diesem Phänomen auf den Grund gegangen. Ihr Ansatz geht davon aus, dass Menschen im Laufe ihres Lebens in unzähligen Blickbewegungen lernen, den unscharfen Seheindruck von Objekten außerhalb der Fovea mit dem scharfen Seheindruck nach der Blickbewegung zum interessierenden Objekt zu verknüpfen.

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So wird zum Beispiel der unscharfe Seheindruck eines Fußballs (verschwommenes Bild des Fußballs) mit dem scharfen Seheindruck nach der Blickbewegung zum Fußball verknüpft. Sieht eine Person im Augenwinkel unscharf einen Fußball, vergleicht ihr Gehirn dieses aktuelle Bild mit gespeicherten Bildern von unscharfen Objekten. Findet das Gehirn ein passendes Bild, ersetzt es den unscharfen Eindruck durch ein präzises Bild aus dem Gedächtnis. Der unscharfe Seheindruck wird ersetzt, bevor sich die Augen tatsächlich bewegen. Die Person glaubt somit, dass sie den Ball bereits genau erkennen kann, obwohl das noch nicht der Fall ist.

Die Geschwindigkeit der Wahrnehmung

"Also das heißt, alles was wir eigentlich gerade sehen, ist in der Vergangenheit passiert, 150-200 ms in der Vergangenheit. Und das ist meist nicht besonders schlimm. Aber bei einigen Sachen wie auf der Autobahn, kann es dann doch relevant sein", sagt der Hirnforscher Matthias Ekman von der Radboud Universität in Nijmegen.

Das Gehirn komplementiert die Sequenz

Seine Versuchspersonen sahen auf einem Bildschirm, wie sich ein Lichtpunkt in vier Schritten von links nach rechts bewegt, immer und immer wieder. Hundertmal. Dabei beobachtete Matthias Ekman die Nervenaktivität in der Sehrinde. Außenwelt und Gehirn laufen parallel, nur etwas Zeit verzögert.

Spannend wurde es, als Matthias Ekmann dann den Punkt nicht in der gewohnten Vierersequenz erscheinen ließ, sondern nur einmal in der Anfangsposition am linken Rand. "Und da könnte man sagen, ok dann sollte das Gehirn auch nur einen Punkt abbilden, weil das ist ja das, was gezeigt wird. Aber was wir gefunden ist, dass der visuelle Kortex alle vier Punkte zeigt. Das heißt, von dem Startpunkt aus komplementiert er die Sequenz so, dass dort vier Punkte auch zu sehen sind." Offenbar erwarten höhere Gehirnzentren, dass hier vier Punkte nacheinander auftauchen und das färbt sozusagen auf die Sehrinde ab, bereitet sie vor, auf das, was wahrscheinlich kommen wird. Wahrnehmung hat also nicht nur etwas mit der Welt zu tun, sondern auch mit den Erwartungen des Gehirns. Entscheidend ist: die Erwartung ist der Realität zeitlich voraus.

Der schnelle Vorlauf der neuronalen Erwartungen

Der schnelle Vorlauf der neuronalen Erwartungen hilft also tatsächlich auch in der Praxis. Durch diesen Trick kann das Gehirn und damit der Mensch auf der Autobahn oder dem Tennisplatz schnell reagieren, obwohl die Wahrnehmung doch eigentlich langsam ist. Das legt zumindest das Experiment mit dem hüpfenden Lichtpunkt nahe.

Wie das Gehirn lernt, die Welt zu sehen

Soweit ich weiß (Vorsicht, Halbwissen!) ist es so, dass das Gehirn in einem bestimmten Zeitfenster in der frühen Kindheit lernen muss, die vom Auge weitergeleiteten Sehreize zu verarbeiten. Geschieht dies nicht (z.B. unter der hypothetischen Annahme, dass ein Kind die ersten Jahre in vollkommener Dunkelheit aufwächst), bleibt die Person blind, auch wenn das Auge physiologisch eigentlich funktionstüchtig ist.

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