Die Frage, welche Gehirnhälfte primär für das Sehen zuständig ist, führt uns in die komplexen Netzwerke des menschlichen Gehirns und seine faszinierende Fähigkeit zur Verarbeitung visueller Informationen. Entgegen der populären Vorstellung, dass jede Gehirnhälfte spezifische, isolierte Aufgaben erfüllt, zeigt die moderne Neurowissenschaft ein Bild von stark vernetzten und kooperierenden Hirnarealen. Dieser Artikel beleuchtet die Rolle beider Gehirnhälften beim Sehen, die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse und wie das Gehirn sich anpasst, wenn eine Hälfte ausfällt.
Aufbau des visuellen Systems: Von der Netzhaut zum visuellen Kortex
Das Sehen beginnt mit der Aufnahme von Licht durch die Augen. Die Lichtrezeptoren in der Netzhaut wandeln Licht in elektrische Signale um, die von Nervenzellen vorverarbeitet werden. Rund eine Million Fasern des Sehnervs leiten diese Signale weiter ins Gehirn. Dabei kreuzen sich die Fasern von rechtem und linkem Auge teilweise. Jede Gehirnhälfte erhält also Informationen aus beiden Augen - die rechte Gehirnhälfte von dem, was links in unserem Gesichtsfeld passiert, die linke Gehirnhälfte bearbeitet die Informationen aus dem rechten Gesichtsfeld.
Dieser Aufbau erleichtert die Vernetzung und Koordination der Augenbewegungen. "Sehen ist nicht nur Bildwahrnehmung, sondern ein Großteil unseres Gehirns ist mit der Koordination der Augenbewegungen, der Abstimmung mit dem Gleichgewichtssinn und unseren Körperbewegungen beschäftigt", erklärt Christian Ohrloff, Direktor der Universitäts-Augenklinik in Frankfurt. Nervenzellen aus dem seitlichen Kniehöcker, einer der ersten "Umschaltstationen" fürs Auge im Gehirn, geben direktes Feedback ans Auge, ob Helligkeit und Schärfe stimmen, passen also zum Beispiel die Pupille an die jeweiligen Helligkeitsverhältnisse an und regulieren das Scharfsehen.
Vom seitlichen Kniehöcker aus ziehen die Nervenzellen in die so genannte primäre Sehrinde, auch "Visueller Cortex" genannt. Dort liegen etwa 500 Millionen Nervenzellen, die fürs Sehen zuständig sind. Sie bilden funktionelle Einheiten, die jeweils bestimmte Aufgaben übernehmen. Einige Gruppen reagieren zum Beispiel auf diffuse Lichtreize, andere nur auf bestimmte Farbkombinationen, auf Hell-Dunkel-Kontraste oder wenn sich ein Lichtreiz in eine bestimmte Richtung bewegt, etwa von rechts nach links. Solche Eindrücke vergleicht das Gehirn mit gespeicherten Bildern. "Nur deshalb können wir zum Beispiel ein Gesicht wiedererkennen", erläutert Ulrich Schiefer. Aus diesen Gesamteindrücken nimmt das Gehirn letztlich Form, Farbe und Bewegungen wahr und ist dazu in der Lage, Muster oder Formen wiederzuerkennen.
Die Rolle des visuellen Kortex (V1)
Der primäre visuelle Kortex (V1) ist ein entscheidender Bereich für die Verarbeitung visueller Informationen. Er befindet sich im Okzipitallappen und empfängt Input vom seitlichen Kniehöcker. V1 enthält etwa 500 Millionen Neuronen, die in funktionellen Netzwerken organisiert sind. Diese Netzwerke sind spezialisiert auf die Analyse verschiedener Aspekte des visuellen Inputs.
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Die Neuronen in V1 sind selektiv für bestimmte Reizeigenschaften wie Orientierung, Farbe und Bewegung. Hubel und Wiesel entdeckten, dass viele Neuronen in V1 am besten auf Lichtstreifen einer bestimmten Orientierung reagieren. Diese Neuronen sind in Säulen organisiert, wobei jede Säule eine bestimmte Orientierung repräsentiert.
V1 enthält auch sogenannte "Blobs", die selektiv auf Reize verschiedener Wellenlängen und Farben antworten. Die Bereiche außerhalb der Blobs, die "Interblobs", sind an der Verarbeitung von Forminformationen beteiligt.
Weitere visuelle Areale
Über V1 hinaus gibt es zahlreiche andere visuelle Areale im Gehirn, die an der Verarbeitung visueller Informationen beteiligt sind. Dazu gehören V2, V3, V4 und V5.
- V2: Empfängt Input von V1 und ist an der weiteren Verarbeitung von Form, Farbe und Bewegung beteiligt.
- V3: Beteiligt an der Verarbeitung dynamischer Form.
- V4: Selektiv für Farbe und Form.
- V5: Spezialisiert auf die Verarbeitung von Bewegung.
Die visuellen Informationen werden in zwei Hauptströmen verarbeitet: dem ventralen "Was"-Pfad und dem dorsalen "Wo"-Pfad. Der ventrale Pfad verläuft vom visuellen Kortex zum Temporallappen und ist an der Objekterkennung beteiligt. Der dorsale Pfad verläuft vom visuellen Kortex zum Parietallappen und ist an der räumlichen Verarbeitung und Steuerung von Handlungen beteiligt.
Lateralisierung von Gehirnfunktionen: Mythos und Realität
Es hält sich hartnäckig die Annahme, dass jede Gehirnhälfte ihre eigenen spezifischen Aufgaben hat. Es wird immer wieder über die „emotionale rechte Gehirnhälfte“ und die „analytische linke Gehirnhälfte“ gesprochen. So soll bei analytisch denkenden und berechnenden Menschen die linke Gehirnhälfte ausgeprägter sein. Bei kreativen Menschen sei die rechte Gehirnhälfte dominant. Es stimmt: Das menschliche Gehirn ist in zwei Gehirnhälften geteilt. Diese Hälften funktionieren jedoch nicht so isoliert voneinander, wie viele denken. Stattdessen arbeiten sie zusammen und stehen in ständigem Kontakt miteinander. Dabei sind sie in der Mitte durch einen Balken verbunden. Die Aufgaben des Gehirns verteilen sich nicht auf eine rechte und eine linke Seite, sondern auf verschiedene Areale. Und diese Areale findest du meistens sowohl links als auch rechts über das Gehirn verteilt. Aber wir müssen uns nicht komplett vom Bild der zwei Gehirnhälften verabschieden. Ein paar Unterscheidungen lassen sich nämlich immer noch machen. So ist die linke Gehirnhälfte für die Steuerung und Reizverarbeitung der rechten Körperhälfte zuständig. Es gibt zudem einige Gehirnareale, die bei den meisten Menschen nur in einer Gehirnhälfte liegen. Das ist zum Beispiel beim Broca- und Wernicke-Areal der Fall. Diese beiden Regionen sind für die Sprache verantwortlich und liegen bei Rechtshändern größtenteils in der linken Hemisphäre. Das Broca-Areal ist dabei hauptsächlich für die Sprachproduktion verantwortlich.
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Die Idee, dass es "links-" oder "rechts-denkende" Menschen gibt, ist jedoch eine Vereinfachung. Neurowissenschaftler untersuchen die Lateralisierung von Gehirnfunktionen, d.h. die Dominanz einer Seite für eine bestimmte Funktion. Dank bildgebender Verfahren beobachten sie die Aktivität in beiden Hirnhälften und berechnen das Verhältnis von links zu rechts, den Lateralitätsindex. Sie sehen also, welche Seite dominanter für eine Funktion ist. Das kann sich allerdings von Mensch zu Mensch unterscheiden! Außerdem ist diese Dominanz spezifisch für eine Aufgabe oder Fähigkeit. "Links-" oder "rechts-denkende" Menschen gibt es also so allgemein nicht.
Der Ballerina-Test: Eine optische Täuschung
Der Ballerina-Test, bei dem man die Drehrichtung einer sich drehenden Tänzerin interpretiert, ist ein populäres Beispiel für die Mythenbildung um die Gehirnhälften. Tatsächlich ist die Animation intensiv untersucht in neurowissenschaftlichen Studien. Sie zeigen, dass die rechte Gehirnhälfte stärker involviert ist in die Verarbeitung von menschlichen Bewegungen als die linke. Das könnte erklären, wieso die Drehung von vielen als Rechtsdrehung (d.h., im Uhrzeigersinn) wahrgenommen wird. Diese Interpretation ist allerdings umstritten.
Außerdem wurde gezeigt, dass einige Menschen bewusst beeinflussen können, ob sich die Ballerina für sie links- oder rechtsherum dreht. Die wahrgenommene Drehrichtung sagt also nichts darüber aus, ob jemand "mehr links oder rechts denkt". Die rechte Hirnhälfte aktiviert sich bei den meisten Menschen verstärkt, egal in welche Richtung sich die Tänzerin dreht. Forscher:innen haben entdeckt, dass Momente des Richtungswechsels mit spezifischen Fluktuationen in der Aktivität des rechten Scheitellappens zusammenfallen. Sie könnten erklären, woher die plötzliche Änderung unserer Wahrnehmung kommt.
Emotionen und die rechte Gehirnhälfte
Es gibt Hinweise darauf, dass die rechte Gehirnhälfte eine größere Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen spielt, insbesondere negativer Emotionen. Die Valenzhypothese besagt, dass eine Hyperaktivität der rechten Gehirnhälfte dazu führe, dass negative Gefühle stärker verarbeitet werden, pessimistische Gedanken auftauchen und unkonstruktive Denkmuster entstehen. Aktivität in der rechten Hirnhälfte sei außerdem verknüpft mit Selbstreflektion, die bei depressiven Patient:innen häufig intensiver ist als bei gesunden Menschen. Die rechte Hirnhälfte spielt auch eine wichtige Rolle bei der Anpassung unseres Erregungszustands. Das könnte erklären, wieso depressive Menschen häufig an Schlafproblemen leiden.
Neglect: Wenn die rechte Gehirnhälfte ausfällt
Eine Schädigung der rechten Hirnhälfte, meist am Scheitellappen, kann zu einem sogenannten Neglect führen. Bei diesem Krankheitsbild wird die linke Hälfte der Welt normal wahrgenommen, aber kaum verarbeitet und deshalb ignoriert. Die rechte Gehirnhälfte ist hauptverantwortlich für einen Großteil der Wahrnehmung von linksseitigen Sinneseindrücken und Bewegung unserer linken Körperhälfte. Daher führt eine Schädigung in der rechten Hirnhälfte zu Beeinträchtigungen in der Aufmerksamkeit für die linke Hälfte der Umwelt, genannt linksseitiger Neglect.
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Die linke Gehirnhälfte wiederum steuert (die meisten) Bewegungen und Wahrnehmungen der rechten Körperhälfte. Trotzdem folgt auf eine Schädigung der linken Gehirnhälfte nur selten ein rechtsseitiger Neglect. Forscher:innen schließen daraus, dass die rechte Gehirnhälfte eine Dominanz hat für die Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit und zwar sowohl nach links als auch nach rechts.
Plastizität des Gehirns: Anpassung bei Ausfall einer Gehirnhälfte
Eine bemerkenswerte Studie des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung zeigte, dass das Gehirn das Fehlen einer ganzen Hirnhälfte teilweise ausgleichen kann. Bei einer Patientin, bei der sich aufgrund einer Entwicklungsstörung im Mutterleib die rechte Großhirnhälfte nicht ausgebildet hat, übernahm die linke Hirnhälfte die Aufgaben der rechten und verarbeitete die Signale aus dem Auge nun alleine. "Der Fall, dass beim Menschen eine Hirnhälfte das gesamte Gesichtsfeld repräsentiert, wurde bislang noch nie beschrieben", sagte Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt.
In diesem Fall empfängt die linke Hälfte Signale aus dem gesamten Blickfeld. Mithilfe der funktionellen Kernspintomografie konnten sie beobachten, dass ein Schachbrettmuster, das der Patientin gezeigt wurde, Nervenzellen der verbleibenden linken Großhirnrinde auch dann aktiv werden ließ, wenn es sich auf der linken Seite des Blickfeldes befand. Die zusätzlichen Informationen bewirken dort einen umfangreichen Umbau der Hirnrinde, sodass die neuen Sinneseingänge "Platz finden" und verarbeitet werden können. Diese Umorganisation des Gehirns macht es möglich, dass die Patientin über das gesamte Gesichtsfeld hinweg gut sehen kann.
Gehirntraining: Stärkung der Aufmerksamkeit
Obwohl die Idee, spezifisch die rechte Gehirnhälfte zu trainieren, um die Aufmerksamkeit zu steigern, nicht wissenschaftlich fundiert ist, ist es dennoch möglich, die Aufmerksamkeit zu trainieren. NeuroNation bietet im Bereich Aufmerksamkeit über 20 Übungen an, die gezielt diese Funktionen und Fähigkeiten ansprechen: Bei regelmäßigem Training verlängern sie die Aufmerksamkeitsspanne und verbessern den Fokus.