Unsere Emotionen sind ein innerer Kompass, der uns leitet und warnt. Doch bestimmte Gefühle können unser Gehirn so überwältigen, dass rationales Denken kaum möglich ist. Dieses Phänomen, bei dem der emotionale Teil des Gehirns die Kontrolle übernimmt und der denkende Teil sich abschaltet, wird im Folgenden näher betrachtet.
Die Macht der Emotionen
Neuropsychologe Dr. Theo Tsaousides betont, dass Gefühle unser Leben stärker bestimmen, als wir oft annehmen. Im Laufe des Tages erleben wir viele Gefühle, aber drei bestimmte Emotionen haben die Macht, unser Gehirn vollständig zu kapern: Angst, Wut und Lust. Diese Gefühle können unsere Reflexion übersteuern, die Vernunft umgehen und uns zu impulsiven Handlungen treiben, die wir später oft bereuen.
Wenn diese Emotionen von uns Besitz ergreifen, verlieren wir unsere emotionale Gelassenheit und handeln wie auf Autopilot. Der denkende Teil unseres Gehirns schaltet sich ab, und der emotionale Teil übernimmt das Steuer. Je länger diese Gefühle unbeachtet bleiben, desto stärker werden sie und desto mehr bringen sie uns von dem ab, was uns im Moment wichtig ist.
Es ist wichtig zu betonen, dass es keine "schlechten" Gefühle gibt. Emotionen sind Boten, keine Feinde. Sie versorgen uns mit Informationen und haben in der Regel einen Zweck. Die drei Gefühle, die unser Gehirn derart überwältigen können, haben einiges gemeinsam:
- Sie verengen unseren Fokus auf das Objekt oder Ereignis, das sie ausgelöst hat.
- Sie erzeugen einen intensiven inneren Druck, der gelöst werden möchte.
- Sie lenken uns von wichtigeren Prioritäten ab - ohne, dass wir es bemerken.
Die drei "Gehirn-Kapitäne": Angst, Wut und Lust
1. Angst: Der Überlebensmodus
Wenn wir auf etwas auch nur leicht Beängstigendes stoßen, registriert unser Gehirn es als Bedrohung. Sobald eine Bedrohung erkannt wird - sei es ein knurrender Hund oder ein missbilligender Blick - setzt unsere Kampf-oder-Flucht-Reaktion ein. Wenn die Angst die Kontrolle übernehme, werde unsere Aufmerksamkeit schmaler, die Körpersysteme bereiten sich auf Verteidigung vor, langfristiges Denken werde ausgeschaltet. Diese Reaktion hat einen klaren evolutionsbiologischen Nutzen - doch im modernen Leben wirkt sie oft gegen uns.
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2. Wut: Die Reaktion auf Verletzung
Während Angst einsetzt, wenn wir uns bedroht fühlen, übermannt Wut uns, wenn wir uns verletzt fühlen. Verletzung geht hier über beleidigende Bemerkungen hinaus. Sie umfasst auch das Gefühl, ungerecht behandelt, missverstanden, nicht respektiert, abgewiesen oder sogar direkt angegriffen zu werden. Wenn die Wut die Kontrolle übernehme, richte sich unsere Aufmerksamkeit ganz auf die Beleidigung und die dafür verantwortliche Person. Unser Instinkt ist es, uns zu verteidigen - oft, indem wir zum Angriff übergehen. Und was uns in diesem Moment fehle, sei rationales, reflektiertes Denken. Der Teil unseres Gehirns, der vielleicht sagen würde: 'Poste diesen Kommentar lieber nicht', ist dann offline. Dieses Gefühl des Ärgers könne sich anfühlen, als würden wir von einer Welle erfasst werden.
3. Lust: Fixierung und Verlangen
Lust ist eine universelle menschliche Emotion - aber eine, über die wir selten offen sprechen. Selbst in der Therapie wird sie oft umgangen. Sie ist etwas sehr Persönliches. Aber genau wie Angst oder Wut kann Lust unser Gehirn vollkommen überwältigen. Dabei geht es nicht nur um Sex. Es geht um Fixierung, Belohnung und Verlangen. Wenn wir Lust nicht unter Kontrolle haben, kann sie zu zwanghaften Verhaltensweisen, Ablenkung vom Wesentlichen und fehlender Verbindung führen. Häufig führe sie dazu, dass wir jemanden idealisieren, den wir kaum kennen, offensichtliche Warnsignale ignorieren oder Entscheidungen treffen, die wir später bereuen - weil unser Gehirn einem Hochgefühl hinterherjagt.
Emotionale Regulierung als Schlüssel
Auch wenn diese drei Gefühle - Angst, Wut und Lust - sehr herausfordernd sein können, müssen wir ihnen nicht hilflos ausgeliefert sein. Wir können uns in emotionaler Regulierung üben und einen gesunden Umgang mit schwierigen Emotionen finden. Dr. Theo Tsaousides empfiehlt konkret die sogenannte "LAPS-Strategie".
"LAPS" steht hier für "Label" (benennen), "Allow" (erlauben), "Pause" (pausieren) und "Shift" (verändern):
- Im ersten Schritt benennen wir die starke Emotion, die wir gerade fühlen.
- Als Nächstes geben wir uns die Erlaubnis, dass es in Ordnung ist, zu fühlen, was wir gerade fühlen.
- Nun halten wir bewusst inne. Wir reagieren nicht sofort, sondern nehmen uns Zeit, das Gefühl abebben zu lassen.
- Als letzten Schritt können wir versuchen, unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, das uns beruhigt und ablenkt.
Grundsätzlich sollten wir laut dem Neuropsychologen nicht vergessen, dass alle Gefühle einen Zweck haben. Wir sollten daher nicht einfach versuchen, sie wegzuschieben oder zu ignorieren, sondern sie bewusst annehmen und sie untersuchen, ohne zu werten.
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Mind Blanking: Wenn die Gedanken verschwinden
»Mind blanking«, das bedeutet: Die Gedanken sind wie ausgeschaltet, der Kopf fühlt sich leer an, der Blick geht ins Nichts. Dabei ist man eigentlich hellwach. Wenn man wieder zu sich findet, fragt man sich oft: »Wie lange habe ich gerade vor mich hingestarrt?«
Ein Team um Sepehr Mortaheb von der Universität Lüttich in Belgien hat nun ein Hirnsignal entschlüsselt, das mit der vollständigen Abwesenheit von Gedanken - dem »mind blanking« - einhergeht. In dem Versuch lagen 36 Versuchspersonen mit geöffneten Augen im Hirnscanner. Zu zufälligen Zeitpunkten ertönte ein kurzes Geräusch. Daraufhin sollten die Probandinnen und Probanden angeben, was gerade in ihnen vorging. Konzentrierten sie sich auf ihre Umgebung oder die Aufgabe? Wanderten die Gedanken unkontrolliert? Oder dachten sie gerade an rein gar nichts?
Wie schon in vorangegangenen Experimenten traf Letzteres am seltensten zu. Mittels künstlicher Intelligenz gelang es den Wissenschaftlern aber trotzdem, ein für »mind blanking« spezifisches Hirnaktivitätsmuster zu finden, eine so genannte Ultra-Konnektivität: In diesem Zustand arbeiten über das gesamte Gehirn verteilte Regionen synchroner als sonst. Die Autoren vermuten, dass es hierbei für das Gehirn schwieriger sei, neue Informationen in das Bewusstsein zu integrieren, was in der erlebten Leere resultieren könnte.
Das Gefühl, alles um sich herum zu vergessen, dürfte jedem vertraut sein. Während eines einfachen Experiments untersuchten Wissenschaftler des Weizmann Institute of Science im israelischen Rehovot die Gehirnaktivität ihrer Probanden in einem funktionellen Magnetresonanztomographen.
Der Neurologe Ilan Goldberg bat die Versuchspersonen, sich Karten mit Fotos anzuschauen. Mit einem Knopfdruck sollten sie dann markieren, ob auf der Karte ein Tier oder etwas anderes zu sehen war - eine simple kognitive Aufgabe. Während eines langsameren Durchgangs wurden die Versuchspersonen dann gebeten, mit den Bildern ein Gefühl zu verbinden - damit wollte Goldberg bei seinen Probanden Selbstbeobachtung auslösen - auch Introspektion genannt: Was fühle ich bei diesem Bild? Als Goldberg nun die Geschwindigkeit der Abfolge erneut erhöhte, blieb dieser Selbstwahrnehmungs-Mechanismus im Gehirn gänzlich inaktiv. Die Regionen des Gehirns, die für die Introspektion benötigt werden, und solche für die sensorische Wahrnehmung sind völlig voneinander getrennt. Goldberg glaubt, darin einen Schutzmechanismus zu erkennen. Wenn es eine plötzliche Gefahr gibt, etwa wenn eine Schlange auftaucht, hilft es nicht, lange herumzustehen und sich zu fragen, welche Gefühle man dieser Situation entgegenbringt.
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Das Worterkennungszentrum im Gehirn
Den Streit um eine viel jüngere Fähigkeit des Gehirns konnten französische Forscher voranbringen, wenn nicht sogar klären - nämlich ob es ein Worterkennungszentrum im Gehirn gibt. Erst seit wenigen tausend Jahren sind Menschen mit geschriebenen Worten vertraut, gemessen an den Hunderttausenden Jahren der menschlichen Evolution, ein echtes Novum also. Daher streiten Neurologen seit dem späten 19. Der Franzose Jules Déjerine hatte diese Hypothese vor mehr als hundert Jahren formuliert. Nun bot sich seinem Kollegen Laurent Cohen vom Hôpital de la Salpêtrière in Paris eine seltene Möglichkeit, dies zu überprüfen: Ein Epilepsie-Patient sollte am Gehirn operiert werden. Um sein Leiden zu lindern, planten die Chirurgen, Gewebe just in der Nähe der sogenannten Visual Word Form Area im hinteren oberen Teil der linken Hirnhälfte zu entfernen.
Vorher hatten Cohen und seine Kollegen sechs Elektroden an dieser Stelle tief im Gehirn angebracht und den Patienten Wörter mit einer Länge von drei bis neun Buchstaben lesen lassen. Die Forscher stoppten die Zeit, die er dazu benötigte: Sie war nicht von der Menge der Buchstaben abhängig. Diese Beobachtung - dass das Gehirn Wörter als Ganzes wahrnimmt - bestätigte die bisherige Lehrmeinung. Nach der Operation wiederholten die Neurologen das Experiment. Zu ihrer Verblüffung hing die Lesegeschwindigkeit nun sehr wohl von der Länge der Wörter ab - und war auch insgesamt viel langsamer. In der Visual Word Form Area zeigte ein Magnetresonanzscan keinerlei Aktivität während des Lesens. Die Region war bei der Operation offenbar beschädigt worden, berichten die Wissenschaftler ebenfalls im Fachblatt Neuron.
Das bedeutet, dass echte Leseprozesse auf halbem Wege zwischen Sehen und Sprachverarbeitung anfangen. Neurowissenschaftler Alex Martin aus Bethesda in Maryland spricht von "zwingenden Belegen für die Auffassung, die Déjerine bereits vor hundert Jahren vertreten hat" - dass das Hirn eine eigene Region für das Erkennen ganzer Wörter besitzt.
Reizüberflutung und ihre Folgen
Die ständige Erreichbarkeit durch Digitalisierung hat einen neuen Stressfaktor in unser Leben gebracht. Viele Menschen gehen in die Knie, weil sie keine Phasen mehr haben, in denen sie alles auslassen können. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass wir in einer Welt der kompletten Reizüberflutung leben und lernen müssen, damit umzugehen.
Brain Fog, oder Gehirnnebel, ist ein Zustand mentaler Eingeschränktheit, der sich wie eine Schicht zwischen einem selbst und der Welt anfühlt. Er entsteht durch Stress, ständige Reizeinwirkungen und kann als Schutzfunktion des Gehirns betrachtet werden. Wenn man Brain Fog erlebt, ist es ein Zeichen, sofort zu agieren und sich aus Reizeinwirkungen rauszunehmen, Phasen der Ruhe zu schaffen.
Digitalisierung ist einer der größten Stressfaktoren geworden, da wir rund um die Uhr mit der ganzen Welt in Kontakt sein können. Es ist wichtig, einen bewussten Umgang mit digitalen Medien zu finden. Sorgen um die Gesundheit, die Zukunft oder liebe Menschen sind ebenfalls große Stressfaktoren. Jede Zeit hat ihre größeren Stressfaktoren, aber manche sind immer präsent.
Brain Hacks gegen Reizüberflutung
Es gibt pragmatische und machbare Maßnahmen, um mit Reizüberflutung umzugehen. Man kann klein anfangen, indem man im Moment wahrnimmt, welche Reize man noch aufnimmt, und dann versucht, diese so schnell wie möglich abzustellen, ohne großen Aufwand.
Dopamindetox: Ein kritischer Blick
Dopamin ist unser sogenanntes Tu-Es-Wieder-Hormon, das uns antreibt, ein bestimmtes Verhalten, was uns gut getan hat, zu wiederholen. Viele Menschen hetzen von einem Glückskick zum anderen, fühlen aber nicht mehr diese Glückskicks, weil sie schon gesättigt sind.
Die Idee des Dopamin-Detox ist, Impulse nicht sofort zu befriedigen, sondern auszuhalten, um dem Körper die Chance zu geben, Glückshormone und Dopamin wieder runterzufahren. Es geht nicht darum, sich alles zu verbieten, was Spaß macht, sondern darum, diese Impulse ein bisschen zu steuern, ein bisschen zu kontrollieren.
Es ist wichtig, sich aktiv Glücksmomente in der echten Welt zu schaffen, Menschen wieder in echt zu treffen. Kreative Chaoten schütten Glückshormone aus, wenn sie Neues lernen, Neues erfahren, Neues ausprobieren.
Konzentration und Aufmerksamkeit in der digitalen Welt
In der heutigen Arbeitswelt klagen viele Menschen über Zerstreutheit und Nervosität. Unser Gehirn besitzt zwei Informationstransportsysteme: Das Top-down-System, bei dem unsere Aufmerksamkeit wie ein Suchscheinwerfer willentlich ausgerichtet wird, und das Bottom-up-System, das durch Reize von außen gesteuert wird. Ständige Störungen und Unterbrechungen führen zu mehr Fehlern. Multitasking ist mit erheblichen Kosten verbunden, da es länger dauert und mehr Fehler verursacht.
Die Lösung gegen Abgelenktheit und Multitasking lautet: Konzentration. Konzentration ist aktiv steuerbar und trainierbar. Eine der besten Konzentrationsübungen ist das Lesen. Es ist wichtig, mögliche Störungen von vornherein zu verhindern, anstatt sie später zu ignorieren. An personalisierte und/oder emotionale Reize gewöhnen wir uns nicht.
Von Digital Detox hält der Autor wenig. Wichtig ist, dass wir lernen, uns eigenverantwortlich durch die digitale Welt zu steuern. Zur Erledigung anspruchsvoller Aufgaben empfiehlt er eine tägliche Tiefe Stunde der Konzentration. Nach spätestens 60 Minuten sollten wir eine Erholungspause einlegen. Viele kurze Pausen sind besser als wenige lange Pausen. Wir sollten uns in den Pausen bewegen, statt im Internet zu surfen oder zum Handy zu greifen.
Kreativität und das Ruhezustandsnetzwerk
Kreativität basiert auf unserer Fähigkeit zum Assoziieren, also Informationen miteinander zu verknüpfen und zueinander in Bezug zu setzen. Es herrscht heute kein Mangel an Bausteinen, sondern ein Mangel an Zeit und Ruhe, sie zu verarbeiten. Kreativität hilft gegen Stress.
Eine Studie hat ergeben, dass unser Geist 47 Prozent unserer Wachzeit im Reich der Fantasie unterwegs ist. Die Wissenschaftler sprechen von mind wandering (Tagträumen). Das reizunabhängige Denken bringt auch neue Perspektiven und Lösungsansätze für konkrete Probleme und unsere Zukunft hervor. Das Ruhezustandsnetzwerk ermöglicht uns, eine Verbindung zwischen unserer Umwelt und unseren Bedürfnissen, Emotionen und Anliegen herzustellen.
Die Angst vor der Leere im Kopf
Die meisten von uns haben Angst vor Leere im Kopf - wir setzen sie gleich mit Langeweile. Wir sind evolutionsbedingt so geeicht, dass wir immer auf Gefahren aus unserer Umwelt gefasst sind. Generell wird Leere von Menschen als Bedrohung erlebt.
Um Leere in den Kopf zu bekommen, gibt es verschiedene Methoden. Es ist wichtig, die Leere aktiv einzuschalten, die kommt nicht ohne weiteres.
Neurowissenschaftliche Forschung zu Depressionen und Verhalten
Die Neurowissenschaftlerin Hanna Hörnberg sucht nach molekularen und zellulären Veränderungen, die bei Depression oder Entwicklungsstörungen in Nervenzellen auftreten - und will Wissen schaffen, das bei der Diagnose helfen und Menschen unterstützen kann. Sie beobachtet das Verhalten von Mäusen und sucht nach biologischen Unterschieden zwischen den Hirnen jener Mäuse, die eher gestresst reagieren, und solcher, die sich eher entspannt verhalten.
Hörnberg fand heraus, dass bei dem veränderten Sozialverhalten der Mäuse ein Protein eine entscheidende Rolle spielt: Neuroligin-3. In der Zukunft könnte diese Erkenntnis helfen, neue Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit neurologischen Entwicklungsstörungen zu entwickeln.
Resilienz: Gestärkt aus Krisen hervorgehen
Resilienz ist die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen und Krisen unter Rückgriff auf eigene Ressourcen zu meistern.
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