Myasthenia gravis diagnostizieren

Myasthenia gravis (MG), in Deutschland oft auch nur Myasthenie genannt, ist eine Autoimmunerkrankung, bei der die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln gestört ist. Die Erkrankung führt zu einer belastungsabhängigen Muskelschwäche, die sich im Laufe des Tages verstärken kann. Die Diagnose der Myasthenia gravis erfordert eine sorgfältige Anamnese, körperliche Untersuchung und den Einsatz verschiedener diagnostischer Tests.

Anamnese und körperliche Untersuchung

Bei Verdacht auf Myasthenia gravis wird der Arzt zunächst nach den Beschwerden fragen. Dabei sind insbesondere folgende Symptome von Bedeutung:

  • Hängende Augenlider (Ptosis), ein- oder beidseitig
  • Doppelbilder
  • Kloßige oder näselnde Sprache
  • Schluckbeschwerden und/oder Kaubeschwerden (=> Aspirationsgefahr, Gewichtsabnahme)
  • Schwäche der mimischen Muskulatur (Facies myopathica)
  • Häufige Betonung der Schultergürtel- und Halsmuskulatur bzw. stammnahe Muskelgruppen
  • Muskelatrophie (bei chronisch schweren Verlaufsformen)
  • Selten Schwäche der Atemmuskulatur

Im Anschluss an das Gespräch über die Symptome wird der Arzt eine körperliche Untersuchung durchführen. Dabei achtet er u. a. auf:

  • Facies myopathica
  • Ptosis (ggf. Kompensation durch in den Nacken legen des Kopfes)

Zusätzlich können verschiedene klinische Tests durchgeführt werden, um die Muskelfunktion zu beurteilen:

  • Simpson-Test: Blick nach oben für mindestens 1 Minute => Auftreten oder Verstärkung einer vorbestehenden Ptose.
  • Jolly-Test: Wiederholtes Faustöffnen/-schließen mit Nachlassen der Kraft (auch mittels Dynamometer - quantitative Messung).
  • Cogan-Lidschlagzeichen: Entlastung des M. levator palpebrae (Blick nach unten) => Blick geradeaus => überschießende kurze zuckende Lidhebung, dann erneutes Absinken des Lides (Ptose).
  • Kältetest: Kühlung des Auges (z.B. mit Eisbeutel) und anschließende Beurteilung der Ptosis.

Elektrophysiologische Diagnostik

Zur Diagnostik der Myasthenia gravis gehört die Elektrophysiologie, mit der sich muskuläre Schwächen frühzeitig objektivieren und ein Behandlungserfolg kontrollieren lassen. Hierzu zählen:

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  • Elektromyographie (EMG) mit repetitiver Stimulation: Bei der Durchführung eines Elektromyogramms (EMG) werden Nerven einer wiederholten elektrischen Reizung ausgesetzt. Die dadurch entstehende elektrische Spannung am entsprechenden Muskel wird gemessen. So kann festgestellt werden, ob die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel funktioniert. Werden hier bestimmte Auffälligkeiten beobachtet, kann dies den Verdacht auf eine Myasthenia gravis erhärten. Supramaximale repetitive Stimulation eines peripheren Nerven mit einer Frequenz von 2-3 Hz, Ableitung am entsprechenden Muskel mit Oberflächenelektroden. Pathologisch: Amplitudenabfall (Dekrement) zwischen 1. und 5. Stimulation von >10% ggf. Wiederholung nach 1 Minute Maximalinnervation des untersuchten Muskels. Bevorzugte Muskeln: M. nasalis, M. deltoideus, M. trapezius, bei okulärer Myasthenie M. orbicularis oculi.
  • Einzelfaser-EMG (SFEMG): Bei Myasthenia gravis wird zumeist die sogenannte Einzelfaser-EMG (single-fiber EMG, SFEMG) durchgeführt. Erhöhter Jitter, gel. mit Blockierungen: Erhöhte Variabilität des zeitlichen Abstands der Muskelaktionspotentialen zweier benachbarter Fasern einer motorischen Einheit Folge variierender zeitlicher Intervalle der neuromuskulären Übertragung Jitter abhängig vom untersuchten Muskel.

Labordiagnostik

Die Testung auf Antikörper im Blut ist eine wichtige Maßnahme zur Diagnosesicherung. Hierzu gehören:

  • Acetylcholinrezeptor-Antikörper (AChR-AK): So liegen beispielsweise bei 9 von 10 Betroffenen mit generalisierter Myasthenia gravis Antikörper gegen Acetylcholin-Rezeptoren vor. Positiv: 80-90% bei generalisierter Myasthenia gravis. Positiv: 50-70% bei okulärer Verlaufsform. Positiv: nahezu 100% bei paraneoplastischer Myasthenie und Thymom. Keine Korrelation mit der Klinik! IgG Subklassen: IgG1, IgG3, bivalent.
  • Antikörper gegen muskelspezifische Tyrosinkinase (MuSK): Bei einigen Betroffenen werden zudem Antikörper gegen MuSK oder auch LRP4 nachgewiesen. Bei fehlendem Nachweis von AChR-AK, jedoch weiterem Verdacht auf Myasthenia gravis: Bestimmung des Antikörpers gegen muskelspezifischen Tyrosinkinase-Rezeptor (MuSK). Positiv: ca. 40-70% der AChR-AK negativen generalisierten MG.
  • Antikörper gegen Lipoprotein-related Protein 4 (LRP4)
  • Anti-Titin-AK: Auf Letztere wird das Blut untersucht, wenn der Verdacht auf Tumore der Thymusdrüse besteht, sogenannte Thymome.

Pharmakologische Tests

  • Tensilontest: Intravenöse Gabe von Edrophoniumchlorid (Acetylcholinesterasehemmer) unter Monitoring => Besserung der myasthenen Symptomatik für wenige Minuten. Durchführung: Aufziehen von 10mg (=1ml) Edrophoniumchlorid auf 10 ml NaCl, Applikation von 2 mg Edrophonium, bei Ausbleiben von Nebenwirkungen nach 30 Sekunden Gabe von weiteren 3 mg Edrophonium, dann nach 1 Minute Applikation des Restes von 5 mg. 1 mg Atropin als Antidot aufgezogen bereithalten bei Kreislaufdysregulation (z.B. Bradykardie).
  • Pyridostigmin-Test: Der Pyridostigmin-Test funktioniert ähnlich wie der Edrophiniumchlorif-Test, lediglich mit einem anderen Cholinesterasehemmer, nämlich mit dem namensgebenden Pyridostigmin. Der Test läuft ebenfalls ähnlich ab und wird ambulant durchgeführt. Primär wird er bei älteren Patientinnen und Patienten durchgeführt, indem 30-60 mg Pyridostigmin verabreicht werden. Allerdings nicht als Injektion, sondern oral.

Bildgebende Verfahren

Bei Verdacht auf eine Myasthenie sollte eine Bildgebung des Thorax durchgeführt werden, um etwaige Thymusveränderungen aufzuzeigen. Hierzu zählen:

  • CT vom Thorax
  • MRT vom Thorax

Sowohl gutartige als auch bösartige Tumore des Thymus können Myasthenia gravis verursachen. Auf dieser Basis können auch bestimmte Behandlungsentscheidungen, zum Beispiel für die Entfernung des Thymus, getroffen werden. Davon profitieren mitunter auch Patientinnen und Patienten ohne Thymome, da die Antikörper, die sich gegen die ACh-Rezeptoren oder andere wichtige Enzyme richten, vor allem in der Thymusdrüse gebildet werden.

Scores zur Beurteilung des Schweregrades

Zur Beurteilung des Schweregrades der Myasthenia gravis können verschiedene Scores eingesetzt werden:

  • Myasthenia-Gravis-Activities-of Daily-Living (MG-ADL)-Test: Anhand des Myasthenia-Gravis-Activities-of Daily-Living (MG-ADL)-Tests wird erfasst, in welchem Ausmaß die Erkrankung Aktivitäten des täglichen Lebens beeinflusst. Auch dieser Test kann bei der Diagnose und zur Verlaufskontrolle eingesetzt werden. Der sogenannte Myasthenia Gravis Activities of Daily Living-Fragebogen, kurz MG-ADL, ist wissenschaftlich anerkannt und ermöglicht es dir, einen langfristigen Überblick über deinen Krankheitsverlauf zu erhalten.
  • MGAF-Klassifikation: Klassifikation der Myasthenia Gravis Foundation of America Unterteilung in 5 Schweregrade.
  • Besinger Score: Test mit Punktwerten von 0-24. Beinhaltet Beurteilung der okulären, fazialen, oralen (Schlucken/Sprechen), Nacken- und Extremitätenmuskulatur als auch Vitalkapazität.
  • Ossermann Klassifikation: Grobe Klassifikation der Myasthenia gravis von I - okuläre Form bis Grad IV, schwere generalisierte Form.
  • QMG Score: Test mit Punktwert von 0-39. Beinhaltet Beurteilung der okulären, fazialen, oralen (Schlucken/Sprechen), Nacken- und Extremitätenmuskulatur , Handkraft als auch Vitalkapazität International gebräuchlich - inhaltlich weitgehend dem Besinger Score entsprechend.

Differentialdiagnosen

Vor allem zu Beginn der Erkrankung kann es sinnvoll sein, vor der Diagnosestellung andere Erkrankungen auszuschließen. Abhängig von den vorliegenden Beschwerden können u. a. folgende weitere Erkrankungen in Frage kommen:

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  • Lambert-Eaton-Syndrom
  • Medikamenteninduzierte myasthene Syndrome
  • Polymyositis
  • Dermatomyositis
  • Mitochondriale Muskeldystrophie
  • Okulopharyngeale Muskeldystrophie
  • Guillain-Barré-Syndrom
  • Hirntumor
  • Kongenitale Myasthene Syndrome (CMS)

Wichtig zu beachten

15-20 % der Betroffenen erleiden einen schweren Schub mit rasch zunehmender Schwäche unter anderem der Atem- und Schluckmuskulatur (z. B. reduzierter Hustenstoß, Artikulationsstörungen bis hin zu einer Atem- und Schlucklähmung).

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