Neuropathische Erkrankungen stellen in der medizinischen Praxis eine häufige Herausforderung dar und beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen erheblich. Insbesondere die distale, symmetrische sensible oder sensomotorische Polyneuropathie (DSPN) ist eine weit verbreitete Form der diabetischen Neuropathie. Es wird geschätzt, dass über 30 % aller Diabetiker an einer DSPN leiden, die sich typischerweise schleichend entwickelt, chronisch fortschreitet und vor allem die distalen Bereiche der unteren Extremitäten betrifft, seltener auch die oberen.
Symptome und Ursachen der Polyneuropathie
Die Symptome einer Polyneuropathie sind vielfältig und können Kribbeln, Parästhesien, Taubheitsgefühle, eine Reduktion oder den Verlust von Schmerz-, Temperatur-, Berührungs-, Druck- und Vibrationsempfindungen, Stand- und Gangunsicherheit sowie neuropathische Schmerzen umfassen.
Ursachen für Polyneuropathie:
- Diabetes Mellitus: Erhöhte Blutzuckerspiegel können zu Veränderungen und Schädigungen der kleinen Nervenfasern führen.
- Vitamin-B12-Mangel: Wichtig für die Regeneration und Bildung der Myelinscheiden der Nervenfasern.
- Fehlernährung: Eine langjährige Fehlernährung kann zu einer PNP führen und die Gefahr einer Insulinresistenz erhöhen.
- Vergiftungen: Chemikalien wie Pflanzenschutzmittel (Glyphosat) oder Quecksilber können eine PNP auslösen.
- Medikamente: Manche Medikamente, insbesondere Chemotherapeutika, Antibiotika und HIV-Medikamente, können eine Polyneuropathie verursachen.
- Weitere Krankheiten: Borreliose, HIV und Autoimmunerkrankungen können ebenfalls eine Polyneuropathie verursachen.
- Alkoholabusus: Chronischer Alkoholmissbrauch kann zu einem Thiaminmangel führen, der das Wernicke-Korsakow-Syndrom verursacht.
Therapieansätze bei Polyneuropathie
Die Therapie der Polyneuropathie zielt darauf ab, die Ursachen zu behandeln, die Symptome zu lindern und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen oder aufzuhalten. Zu den wichtigsten Therapieansätzen gehören:
- Kausale Therapie: Optimierung der Blutzuckereinstellung bei Diabetes (mit oralen Antidiabetika und/oder Insulin) sowie Kontrolle und Management von Risikofaktoren wie Hypertonie, Adipositas und Hyperlipidämie.
- Pathogenetische Therapie: Ansetzen an den Folgen der Hyperglykämie.
- Symptomatische Therapie: Linderung der neuropathischen Symptome.
Vitamin B1 und seine Bedeutung bei Polyneuropathie
Thiamin, auch bekannt als Vitamin B1, ist ein wasserlösliches Vitamin, das eine entscheidende Rolle im Kohlenhydratstoffwechsel spielt. Es ist als Coenzym an vielen Reaktionen beteiligt, die für die Energiegewinnung aus Kohlenhydraten notwendig sind. Da der Körper Thiamin nicht selbst bilden und nur in geringen Mengen speichern kann, ist eine regelmäßige Zufuhr über die Ernährung erforderlich.
Thiaminmangel und seine Folgen
Ein Thiaminmangel kann zu Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels führen, insbesondere in Organen, die zur Energiegewinnung Glukose verbrauchen, wie dem Nervensystem und der Muskulatur, einschließlich der Herzmuskulatur.
Lesen Sie auch: Der Mythos der 10%-Gehirnnutzung
Mögliche Folgen eines Thiaminmangels:
- Periphere Neuropathien mit Empfindungsstörungen (Kribbeln, Brennen, Taubheitsgefühl) und neuropathischen Schmerzen, insbesondere bei Diabetikern.
- Zerebrale Störungen mit Schwindel, Gangunsicherheit, Bewusstseinsstörungen, Schlaflosigkeit und Leistungsschwäche.
- Kognitive Störungen, die sich bis zur Entwicklung einer Demenz ausweiten können.
- Kardiovaskuläre Störungen, insbesondere Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz.
- Störungen im Magen-Darm-Trakt mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall.
- Muskelschwäche, Muskelschmerzen und Muskelkrämpfe.
- Wernicke-Korsakow-Syndrom bei chronischem Alkoholabusus.
- Beri-Beri (in Ländern der Dritten Welt).
Vitamin B1-Bedarf und Zufuhrempfehlungen
Der Tagesbedarf an Thiamin hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter Alter, Geschlecht, körperliche Aktivität und bestimmte Lebenssituationen wie Schwangerschaft und Stillzeit. Die D-A-CH-Fachgesellschaften (Gesellschaften für Ernährung in Deutschland, Österreich und der Schweiz) empfehlen folgende Mengen für gesunde Personen:
Empfohlene Tageszufuhr von Thiamin:
- Männer (19-24 Jahre): 1,3 mg/Tag
- Männer (25-65 Jahre): 1,2 mg/Tag
- Männer (über 65 Jahre): 1,1 mg/Tag
- Frauen (ab 19 Jahren): 1,0 mg/Tag
- Schwangere (2. Trimester): 1,2 mg/Tag
- Schwangere (3. Trimester): 1,3 mg/Tag
- Stillende: 1,3 mg/Tag
Therapeutische Anwendung von Vitamin B1 bei Polyneuropathie
Bei einem nachgewiesenen Thiaminmangel kann die therapeutische Zufuhr des Biofaktors um ein Vielfaches höher liegen als von den D-A-CH-Gesellschaften empfohlen. Insbesondere bei Patienten mit diabetischer Polyneuropathie können Studien zur Wirkungsweise von Benfotiamin herangezogen werden, bei denen Empfehlungen von 300 bis 600 mg pro Tag gegeben werden.
Benfotiamin: Eine besser bioverfügbare Form von Vitamin B1
Benfotiamin ist eine fettlösliche Vorstufe von Thiamin, die im Vergleich zu wasserlöslichem Thiamin eine deutlich höhere Bioverfügbarkeit aufweist. Studien haben gezeigt, dass Benfotiamin etwa fünfmal besser vom Körper aufgenommen wird als Thiaminmononitrat. Aufgrund seiner Fettlöslichkeit kann Benfotiamin die Zellmembranen leichter passieren und in die Zellen gelangen, wo es in seine aktive Form, Thiamindiphosphat (TDP), umgewandelt wird.
Vorteile von Benfotiamin bei diabetischer Polyneuropathie
- Linderung neuropathischer Symptome: Benfotiamin kann neuropathische Symptome wie Missempfindungen, Taubheitsgefühle und Schmerzen in den Füßen lindern.
- Verbesserung des Neuropathy Symptom Scores (NSS): Studien haben gezeigt, dass Benfotiamin im Vergleich zu Placebo zu einer Verbesserung des NSS führen kann.
- Normalisierung von Stoffwechselwegen: Benfotiamin kann Stoffwechselwege normalisieren, die durch Diabetes beeinträchtigt sind.
Dosierungsempfehlungen für Benfotiamin
Die Dosierung von Benfotiamin richtet sich nach dem Schweregrad des Vitamin-B1-Mangels und dem Vorliegen einer Polyneuropathie.
Allgemeine Dosierungsempfehlungen:
- Vorbeugung eines Vitamin-B1-Mangels: 1-mal täglich 1 Tablette (150 mg).
- Behandlung eines Vitamin-B1-Mangels: 1-2 Tabletten (150-300 mg) täglich, in seltenen Fällen auch mehr.
- Polyneuropathien durch Vitamin-B1-Mangel: Anfangs mindestens 2-mal täglich 1 Tablette (150 mg), in besonderen Fällen bis zu 3-mal täglich. Nach einem Zeitraum von mindestens 3 Wochen kann die Weiterbehandlung mit 1-2 Tabletten täglich erfolgen.
Weitere Behandlungsmöglichkeiten bei Polyneuropathie
Neben der Vitamin-B1-Supplementierung gibt es weitere Behandlungsmöglichkeiten, die bei Polyneuropathie in Betracht gezogen werden können:
Lesen Sie auch: Was steckt hinter dem Mythos der 10-Prozent-Gehirnnutzung?
- Alpha-Liponsäure: Kann die neuropathische Symptomatik verbessern und das Fortschreiten neuropathischer Beeinträchtigungen verhindern.
- Vitamin B12: Wichtig für die Regeneration von geschädigten Nerven. Bei einem Mangel sollte eine hochdosierte Supplementierung erfolgen.
- Elektroakupunktur: Eine nichtmedikamentöse Behandlungsmöglichkeit der neuropathischen Schmerzen der Füße.
- Weitere Maßnahmen: Gesunde Ernährung, Stressmanagement, Bewegung und Entgiftung können ebenfalls zur Linderung der Symptome beitragen.
- Heilpflanzen: Einige Heilpflanzen wie Kalmus, Estragon, Salbei oder Kurkuma können bei Polyneuropathie hilfreich sein. Auch Capsaicin kann bei der Schmerzbekämpfung gute Dienste erweisen.
Wichtiger Hinweis
Es ist wichtig zu beachten, dass Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel bei neuropathischen Schmerzen möglicherweise keinen Wirkungsnachweis haben. Eine Studie hat gezeigt, dass Vitamin E bei diabetischer peripherer Neuropathie keine signifikanten Vorteile bietet. Es ist ratsam, vor der Einnahme von Vitaminpräparaten oder Nahrungsergänzungsmitteln einen Arzt zu konsultieren und sich über die potenziellen Risiken und Nutzen zu informieren.
Lesen Sie auch: Gehirngewicht: Was ist normal?
tags: #Vitamin #B1 #Dosierung #bei #Polyneuropathie