Die menschliche Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess, der weit über die reine Aufnahme von Informationen durch die Augen hinausgeht. Tatsächlich ist es das Gehirn, das die eingehenden visuellen Reize interpretiert und uns ein zusammenhängendes Bild der Welt vermittelt. Die Neurobiologie der Wahrnehmung untersucht, wie diese Prozesse im Gehirn ablaufen und wie sie unsere bewusste Erfahrung beeinflussen.
Die Rolle des Gehirns bei der visuellen Wahrnehmung
Während unsere Augen als Sensoren fungieren, die Lichtinformationen sammeln, ist es das Gehirn, das diese Informationen verarbeitet und interpretiert. Verschiedene Bereiche des Gehirns sind an diesem Prozess beteiligt, darunter der visuelle Kortex, der für die Verarbeitung visueller Reize zuständig ist.
Visuelle Reizverarbeitung im Gehirn
Botond Roska und sein Team haben einige frühe Schritte der visuellen Reizverarbeitung untersucht, bei denen konfiguriert wird, wie Säugetiere bestimmte Reize wahrnehmen und auf sie reagieren. Beginnend mit grundlegenden Strukturen der Retina beschrieb Roska Anordnungen einzelner Stäbchen und Zapfen, die zuerst durch visuelle Reize stimuliert werden. Die Struktur ihrer Verbindungen sieht er als erste Ebene neuronaler Rechenleistung, die unter anderem durch die Verteilung von Aufgaben auf 70 Arten von Zellen in der Netzhaut abgewickelt wird.
Spezialisierte Zelltypen und ihre Aufgaben
Wie Roska betont, zeigt dies unter anderem, dass bei der jeder Sinneswahrnehmung zugrundeliegenden Informationsverarbeitung und der Abwicklung von Verhaltensreaktionen spezialisierte Zelltypen ganz bestimmte Aufgaben übernehmen.
Genetische Grundlagen von Verhaltensreaktionen
Um die genetische Grundlage dieser Verbindung zu erforschen, brauchte die Forschungsgruppe um Roska eine einfache und gut messbare Art von Reaktion. Gefunden wurde sie in einem Verhaltensmuster namens „horizontaler optokinetischer Reflex.“ Das erleben wir zum Beispiel, wenn wir aus dem Zugfenster schauen und die Landschaft rasch an uns vorbeiziehen lassen. Bei einem menschlichen genetischen Defekt namens „kongenitaler (angeborener) Nystagmus“ ist dieser Reflex gestört.
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Wie das Gehirn Sinneseindrücke kombiniert
Die Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess, bei dem verschiedene Sinnesorgane Daten liefern, die im Gehirn zu einem einheitlichen Bild zusammengefügt werden. Marc Ernst und seine Kollegen haben gezeigt, dass das Gehirn die verfügbaren Informationen auf mathematisch-statistisch optimale Weise verrechnet. Reichen die aktuellen Sinnesdaten nicht aus, kommen Vorannahmen zum Tragen, die auf der Statistik unserer Umwelt beruhen. Verändert sich die Umwelt, kann das Gehirn flexibel umlernen.
Das Zusammenspiel von Sehen und Tasten
Ernst täuscht in seinem Labor gezielt einzelne Sinne, um herauszufinden, wie das Gehirn Sinneseindrücke kombiniert. In einem Versuch mit Auge und Tastsinn ließ er Probanden die Dicke eines Balkens einschätzen, wobei die gesehene und gefühlte Dicke unterschiedlich sein konnten. Es zeigte sich, dass das Auge unter normalen Umständen die zuverlässigere Information liefert und die Wahrnehmung dominiert.
Die statistisch optimale Verrechnung von Informationen
Ernsts Fazit ist, dass das Gehirn alle Informationen nimmt und sie zusammenrechnet, wobei schlechtere Informationen entsprechend schwächer gewichtet werden. Diese Verrechnung kann in mathematische Formeln gefasst werden, die für Fachleute alte Bekannte sind: Das Gehirn nutzt die Informationen statistisch optimal.
Vorannahmen und Erfahrung
Nicht immer reichen die aktuellen Sinnesinformationen für eine schlüssige Interpretation aus. Dann kommt Vorwissen ins Spiel. Ein Beispiel dafür ist die Wahrnehmung einer Hohlmaske, die sich dreht. Obwohl die Schattierungen zweideutig sind, sehen wir sowohl von vorn als auch von hinten ein normales Gesicht, weil wir sehr viel Erfahrung mit Gesichtern haben und wenig mit Hohlgesichtern.
Die selektive Natur der Wahrnehmung
Das Gehirn entscheidet ständig, welche Informationen wichtig genug sind, um ins Bewusstsein vorgelassen zu werden. Wahrnehmung ist immer selektiv.
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Gehirnwellen und Wahrnehmungswechsel
Ein internationales Forschungsteam hat nun untersucht, welche Gehirnaktivitäten mit Änderungen in der subjektiven Wahrnehmung einhergehen, und dabei charakteristische Muster von Gehirnwellen im präfrontalen Cortex gefunden. Anhand der Gehirnwellen im präfrontalen Cortex lassen sich die Wechsel in der Wahrnehmung vorhersagen.
Die Rolle des präfrontalen Cortex
Die Ergebnisse stellen eine weitverbreitete neurowissenschaftliche Auffassung in Frage. Bislang führten Forschende die Wahrnehmungswechsel darauf zurück, dass Neuronen im primären visuellen Cortex miteinander im Wettstreit liegen und um Aufmerksamkeit konkurrieren. Nun stellt sich heraus, dass die langsamen Schwingungen größerer Gehirnregionen die eigentliche Arbeit erledigen; sie entscheiden als Türhüter, welche Sinnesinformation Zugang zu unserem Bewusstsein bekommt.
Optische Täuschungen und Illusionen
Optische Täuschungen und Illusionen zeigen, dass unsere Wahrnehmung nicht immer die Realität widerspiegelt. Sie entstehen häufig dadurch, dass die von den Augen kommenden Informationen von verschiedenen Regionen des visuellen Kortex komplex aufbereitet werden, bevor wir unsere Umgebung als Bild wahrnehmen.
Scheinbewegungen
Ein Beispiel für eine optische Täuschung ist das Phänomen der Scheinbewegung: Werden uns zwei visuelle Reize abwechselnd in bestimmten zeitlichen und räumlichen Abständen gezeigt, nehmen wir sie als ein bewegtes Objekt wahr. Die Studie macht deutlich, dass sich das menschliche Gehirn in unserem Alltag als ein kreativer Brückenbauer bewährt und in der Lage ist, aus wenigen Bruchstücken einen kontinuierlichen Zusammenhang zu konstruieren.
Visuelle Stabilität
Wird die Aufmerksamkeit plötzlich von einem Punkt auf einen anderen gezogen, so bewegen sich die Augen in Sekundenbruchteilen von einem zum anderen Fokus. Trotzdem verschwimmt der Hintergrund nicht. Das Gehirn scheint sich an erwartete Bewegungen zu gewöhnen.
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Die Bedeutung der Neurobiologie der Wahrnehmung
Das Verständnis der neurobiologischen Grundlagen der Wahrnehmung ist entscheidend, um zu verstehen, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und wie unser Gehirn diese Informationen verarbeitet. Diese Erkenntnisse können dazu beitragen, neue Therapien für Menschen mit Wahrnehmungsstörungen zu entwickeln und unser Verständnis des Bewusstseins zu erweitern.
Anwendungen in der Medizin
Die Erforschung der visuellen Stabilität kann auch Menschen mit entsprechenden Beeinträchtigungen geholfen werden. Sind die entsprechenden Vorgänge im Gehirn verstanden.
Die Zukunft der Bewusstseinsforschung
Die Ergebnisse berührt eine tiefergreifende Frage, über die in Philosophie und Neurowissenschaft gleichermaßen gestritten wird: Wie können bewusste Erfahrungen im Gehirn entstehen?