Zehenspitzengang: Neurologische Ursachen und umfassender Überblick

Als Zehenspitzengang oder Zehengang wird das Gehen auf den Zehen oder Ballen bezeichnet, ohne dass die Fersen den Boden berühren. Dieses Gangbild kann verschiedene Ursachen haben, von harmlosen Gewohnheiten bis hin zu neurologischen Erkrankungen. Im Folgenden werden die neurologischen Ursachen des Zehenspitzengangs detailliert betrachtet und ein umfassender Überblick über das Thema gegeben.

Zehenspitzengang im Kindesalter

Der Zehenspitzengang ist bei Kleinkindern nicht ungewöhnlich. Fast 5 % der Kinder laufen zeitweise auf Zehenspitzen. Meistens beginnen sie damit, sobald sie anfangen zu laufen. Im Alter von etwa zwei Jahren stellt sich normalerweise ein physiologischer Fersen-Ballen-Gang ein. Bis dahin ist ein Zehenspitzengang häufig zu beobachten und gilt als physiologischer Entwicklungsschritt.

Eine schwedische Studie mit über 1400 Kindern ergab, dass fast 5 % aller Kleinkinder eine Zeit lang auf Zehenspitzen laufen. Kinder mit kognitiven oder neuropsychiatrischen Beeinträchtigungen, wie Autismus oder ADHS, zeigen häufiger einen Zehenspitzengang. Studien zufolge weisen etwa 20 % der Kinder im Autismus-Spektrum und 20 % der ADHS-Kinder einen Zehenspitzengang auf.

Ursachen des Zehenspitzengangs

Die Ursachen für den Zehenspitzengang sind vielfältig:

  • Idiopathischer Zehenspitzengang: Wenn kein körperlicher Grund für den Zehenspitzengang festgestellt werden kann, spricht man vom idiopathischen Zehenspitzengang.
  • Neurologische Ursachen: Neurologische Erkrankungen können das Zusammenspiel zwischen ZNS, Nerven und Muskeln stören und zu einem Zehenspitzengang führen.
  • Muskuläre Ursachen: Eine kurze Achillessehne oder Wadenmuskulatur kann ebenfalls einen Zehenspitzengang verursachen.
  • Andere Ursachen: In einigen Fällen kann der Zehenspitzengang auch auf eine geistige Behinderung oder Entwicklungsstörung hinweisen.

Neurologische Ursachen im Detail

Ein persistierender oder erst später auftretender Zehenspitzengang kann ein erstes Anzeichen einer zugrunde liegenden neurologischen Erkrankung sein. Bis zu 62 % der Kinder mit Zehenspitzengang, die von einem Orthopäden an einen Neurologen überwiesen werden, haben eine neurologische Ursache.

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Zu den neurologischen Erkrankungen, die mit einem Zehenspitzengang assoziiert sein können, gehören:

  • Infantile Zerebralparese (ICP): Bei der Zerebralparese ist der Teil des Gehirns, der die Muskelfunktion steuert, anders entwickelt oder durch eine Verletzung geschädigt.
  • Tethered-Cord-Syndrom: EineFixierung des Rückenmarks, die zu neurologischen Symptomen führen kann.
  • Spina bifida: Eine angeborene Fehlbildung des Rückenmarks.
  • Diastematomyelie: Eine seltene angeborene Erkrankung, bei der das Rückenmark geteilt ist.
  • Charcot-Marie-Tooth-Krankheit: Eine genetisch bedingte Erkrankung, die die peripheren Nerven betrifft.
  • Muskeldystrophie: Eine genetisch bedingte Krankheit, bei der die Muskelfasern mit der Zeit schwächer werden. Kinder mit Muskelschwund verwenden manchmal den Zehenspitzengang.

Neuropsychiatrische Aspekte

Der Zehenspitzengang ist häufiger bei Kindern mit neuropsychologischen Erkrankungen wie Autismus, globaler Entwicklungsverzögerung und Schizophrenie. Die Prävalenz des Zehenspitzengangs bei Kindern mit neuropsychiatrischer Grunderkrankung oder Entwicklungsverzögerung kann bis zu 41 % betragen.

Die Gründe, warum autistische Kinder manchmal auf Zehenspitzen gehen, sind nicht vollständig geklärt. Fast alle autistischen Kinder haben Unterschiede in der Wahrnehmungsverarbeitung. Möglicherweise haben die Kinder visio-vestibuläre Probleme, was bedeutet, dass das Zusammenspiel zwischen Sehsinn und Gleichgewichtssinn beeinträchtigt ist.

Diagnose des Zehenspitzengangs

Die detaillierte Anamnese liefert wichtige Informationen über die Schwangerschaft, Geburt und postpartale Phase. Bis zu 28 % der Zehenspitzengänger sind ehemalige Frühgeborene. Auch die bisherige medizinische Anamnese und Familienanamnese können Hinweise auf eine zugrunde liegende Erkrankung geben.

Bei der klinischen Untersuchung sollte der Fokus nicht nur auf den Fuß und Unterschenkel gelegt werden, sondern der gesamte Bewegungsapparat untersucht werden. Auffälligkeiten in der ersten Untersuchung können Hinweise auf einen sekundären Zehenspitzengang geben.

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Die visuelle Ganganalyse mit Beobachtung des Gangbildes beginnt optimalerweise schon beim Betreten des Sprechstundenzimmers, da sich das Kind dann unbeobachtet fühlt. Im Stand wird auf das Vorliegen eines Schulter- oder Beckentiefstands untersucht, ob beide Knie durchgestreckt werden oder sogar ein Genu recurvatum vorliegt und ob die Füße plantigrad aufgesetzt werden.

Der Bewegungsumfang der Hüft- und Kniegelenke sowie des oberen und unteren Sprunggelenks werden ebenso wie die Rotationsverhältnisse von Femur und Tibia getestet. Die Länge des M. triceps surae wird mithilfe des Silfverskjöld-Tests ermittelt.

Auch eine neurologische Untersuchung inklusive Testung der Sensibilität, Kraft, Muskeleigenreflexe, Muskeltonus, Vorhandensein von Kloni und der Babinski-Test, aber auch das Durchführen des Gowers-Tests sollte in der orthopädischen Untersuchung nicht fehlen.

Eine radiologische Diagnostik ist initial nicht bei jedem Zehenspitzengänger notwendig. Bei klinisch auffälliger Fußform ist ein konventionelles Röntgenbild vom Fuß stehend d.p./seitlich sowie eine a.p.-Aufnahme des oberen Sprunggelenks stehend indiziert.

Mittels instrumenteller Ganganalyse kann der Zehenspitzengang genauer analysiert werden. Hierdurch können Gelenkmomente und Gelenkleistung sowie die Dynamik der Muskelaktivität und Gelenksbeweglichkeit beim Gehen auch in ihren Einschränkungen gemessen und ausgewertet werden.

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Besteht der Verdacht auf eine neuromuskuläre Grunderkrankung, kann ein MRT des Gehirns und/oder der ganzen Wirbelsäule oder auch die Bestimmung der Kreatinkinase (CK) im Serum als Screening genutzt werden. Bei Verdacht auf Muskeldystrophie oder Myopathie kann eine Muskelbiopsie indiziert sein.

Therapie des Zehenspitzengangs

Vor Therapiebeginn eines Zehenspitzengangs bedarf es einer genauen Anamnese und klinischen Untersuchung. Der idiopathische Zehenspitzengang ist eine Ausschlussdiagnose. Alle diese Untersuchungen liefern wertvolle Informationen für die Therapieentscheidung.

Die konservative Therapie wird bei drohenden und noch leichten strukturellen Deformitäten eingesetzt oder wenn eine indizierte operative Therapie nicht möglich oder nicht gewünscht ist.

Zu den konservativen Behandlungsmethoden gehören:

  • Dehnübungen: Kinder, die lange auf den Zehenspitzen laufen, können Muskelsteife, Muskelverhärtungen und Schmerzen in der Achillessehne erfahren. Regelmäßiges Dehnen kann helfen, die Flexibilität zu verbessern.
  • Sensorische Integrationstherapie: Wenn eine sensorische Integrationsstörung die Ursache ist, kann eine Sensorische Integrationstherapie helfen (diese findet in der Ergotherapie statt).
  • Orthesen: Funktionelle Orthesen werden beim Gehen getragen, Lagerungsorthesen dagegen werden nachts getragen, wenn das Bein keiner Belastung ausgesetzt ist. Eine Unterschenkelorthese mit ringförmiger Fußfassung kann bei korrekter Indikationsstellung eine hohe Erfolgsquote bei der Behandlung des Spitzfußes aufweisen.
  • Botulinumtoxin A (Botox): Bei erhöhter Spannung in der Wadenmuskulatur kann Botulinumtoxin A eingesetzt werden, um die Muskelspannung zu verringern.

Falls eine verkürzte Achillessehne oder Wadenmuskulatur die Ursache ist, kann eine Operation nötig werden. Die Wirksamkeit dieser Behandlungen ist nicht abschließend geklärt. Es gibt Kinder, die auch nach zahlreichen Behandlungen einschließlich einer Operation noch Zehengänger sind.

Der Spitzfuß

Beim Spitzfuß (Pes equinus) handelt es sich um eine Fußdeformität, bei der die Ferse so hoch steht, dass sie keinen Bodenkontakt erreicht. Die Patienten gehen deshalb im Zehenspitzgang. Grundsätzlich wird zwischen neurologischen bzw. neurogenen und idiopathischen Spitzfüßen unterschieden.

Eine Spitzfuß-Fehlstellung ist entweder angeboren oder sie wird im Laufe des Lebens erworben. Am häufigsten tritt der Spitzfuß in Zusammenhang mit einer neurologischen Grunderkrankung auf, bei der die Interaktion zwischen Nerven und Muskeln gestört ist.

Genetische Aspekte

Eine Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen idiopathischem Zehenspitzengang und Veränderungen im Erbgut, insbesondere im PMP22-Gen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass PMP22-Mutationen eine bedeutende Ursache für ITW sein könnten, was die Bedeutung genetischer Tests für die Diagnose und Behandlung dieser Gangstörung unterstreicht.

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