Absteigende Bahnen des Gehirns: Funktion und Zusammenspiel mit dem Rückenmark

Das zentrale Nervensystem (ZNS) ist ein komplexes Netzwerk, das die Steuerung und Koordination aller Körperfunktionen ermöglicht. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Rückenmark, das als Hauptleitungsweg zwischen Gehirn und Körper fungiert. In diesem Artikel werden die absteigenden Bahnen des Gehirns, ihre Funktion und ihre Interaktion mit dem Rückenmark detailliert beschrieben.

Das Rückenmark: Verbindung zwischen Gehirn und Körper

Das Rückenmark ist ein Teil des ZNS und erstreckt sich vom Foramen magnum im Os occipitale bis zur Höhe des 1. bis 2. Lendenwirbelkörpers. Es ist in Zervikal-, Thorakal-, Lumbal- und Sakralregionen unterteilt, wobei diese Regionen nicht exakt mit den entsprechenden Wirbelniveaus übereinstimmen. Im Querschnitt ist das Rückenmark in einen H-förmigen Bereich grauer Substanz (bestehend aus neuronalen Zellkörpern) und einen umgebenden Bereich weißer Substanz (bestehend aus auf- und absteigenden Bahnen myelinisierter Axone) unterteilt.

Das Rückenmark wird von drei Meningen (Hirnhäuten) umhüllt und von einer vorderen und zwei paarigen hinteren Spinalarterien versorgt. Entwicklungsgeschichtlich entsteht es aus dem Neuralrohr, das sich im trilaminaren Embryo während der Gastrulation und Neurulation bildet.

Funktionelle Anatomie des Rückenmarks

Die graue Substanz des Rückenmarks enthält verschiedene Kerngruppen im Vorderhorn, darunter:

  • Mediale Kerngruppen: Ncl. dorsomedialis und Ncl. ventromedialis
  • Laterale Kerngruppen: Ncl. dorsolateralis, Ncl. ventrolateralis
  • Zentrale Kerngruppen (im Zervikalmark): Ncl. phrenicus
  • Laterale Kerngruppen (im Halsmark): Ncl. accessorius (Arm), Ncl. intermedio-lateralis (Hand)

Diese Kerngruppen sind an der Steuerung der Skelettmuskulatur und des autonomen Nervensystems beteiligt.

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Die weiße Substanz des Rückenmarks enthält auf- und absteigende Bahnen, die Informationen zwischen Gehirn und Körper übertragen. Die wichtigsten absteigenden Bahnen (rot dargestellt) leiten motorische Befehle vom Gehirn zur Körpermuskulatur.

Spinalnerven: Verbindung zur Peripherie

Entlang der Wirbelsäule treten 31 Paare von Nervenbündeln aus, die Spinalnerven. Diese gehören bereits zum peripheren Nervensystem und bestehen aus gebündelten Axonen. Sensorische Fasern (afferent) leiten Impulse über das Hinterhorn ins Rückenmark, während motorische Fasern (efferent) über das Vorderhorn in den Körper laufen und motorische Impulse an die Muskeln übergeben. Jeder Abschnitt des Rückenmarks versorgt dabei einen anderen Bereich des Körpers.

Absteigende Bahnen: Motorische Kontrolle vom Gehirn zum Körper

Die absteigenden Bahnen des Rückenmarks sind Trakte, die motorische Befehle aus dem Gehirn zur Körpermuskulatur leiten. Eine wichtige Instanz ist die Großhirnrinde, von der die Pyramidenbahn ausgeht, die größte motorische Bahn. Andere Instanzen sind Kerne im Hirnstamm, die ihrerseits Informationen z.B. vom Kleinhirn erhalten.

Die Namensgebung der Trakte folgt dem Prinzip: der erste Teil der Bezeichnung richtet sich nach dem Ursprung des Traktes, der zweite nach dem Zielgebiet (z.B.: Tractus rubrospinalis = vom Ncl. ruber zum Rückenmark).

Die Pyramidenbahn (Tractus corticospinalis)

Die Pyramidenbahn ist die wichtigste absteigende Bahn und spielt eine zentrale Rolle bei der Willkürmotorik. Sie entspringt in der motorischen Rinde (Area 4 und 6) des Frontallappens und zieht durch die Capsula interna, den Hirnstamm und das Rückenmark. Die Fasern der Pyramidenbahn kreuzen sich zum größten Teil in der Medulla oblongata (verlängertes Mark) und ziehen dann als Tractus corticospinalis lateralis im Seitenstrang des Rückenmarks abwärts. Ein kleinerer Teil der Fasern kreuzt sich nicht und verläuft als Tractus corticospinalis anterior im Vorderstrang des Rückenmarks.

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Die Pyramidenbahn endet an den α-Motoneuronen der Vorderhörner der grauen Substanz und steuert direkt die Muskelaktivität. Sie ermöglicht uns willkürliche Bewegungen wie das Wackeln mit den Zehen, das Einziehen des Bauches oder das Zusammenkneifen des Hinterns.

Extrapyramidale Bahnen

Neben der Pyramidenbahn gibt es weitere absteigende Bahnen, die als extrapyramidale Bahnen bezeichnet werden. Diese Bahnen sind an der Steuerung von Haltung, Gleichgewicht und unwillkürlichen Bewegungen beteiligt. Zu den wichtigsten extrapyramidalen Bahnen gehören:

  • Tractus rubrospinalis: Entspringt im Nucleus ruber im Mittelhirn und zieht zum Rückenmark. Er ist an der Steuerung der Muskelspannung und der Feinmotorik beteiligt.
  • Tractus vestibulospinalis: Entspringt in den Vestibulariskernen im Hirnstamm und zieht zum Rückenmark. Er ist wichtig für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und die Anpassung der Körperhaltung an Veränderungen der Kopfposition.
  • Tractus reticulospinalis: Entspringt in der Formatio reticularis im Hirnstamm und zieht zum Rückenmark. Er ist an der Steuerung von Muskeltonus, Reflexen und autonomen Funktionen beteiligt.
  • Tractus tectospinalis: Entspringt im Tectum mesencephali (Vierhügelplatte) im Mittelhirn und zieht zum Rückenmark. Er ist an der Steuerung von Kopf- und Augenbewegungen als Reaktion auf visuelle und akustische Reize beteiligt.

Interneurone: Schaltstellen im Rückenmark

Eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung und Modulation der absteigenden Signale spielen die Interneurone. Diese Schaltneurone stellen die Verbindung zwischen ein- und ausgehenden Signalen her. Sie nutzen verschiedene Botenstoffe wie Glycin, GABA, Serotonin oder Dopamin und wirken auf ihre Nachbarn entweder hemmend oder aktivierend.

Die Motoneurone erhalten den Großteil ihres Inputs von Interneuronen, sowohl aus dem gleichen als auch aus weiter entfernten Abschnitten des Rückenmarks. Viele Interneurone sind zudem untereinander in Form von Netzwerken verbunden, die einen rhythmischen Output erzeugen - die Grundlage für relativ automatische Bewegungen wie Kauen, Kratzen oder Gehen.

Zusammenspiel von Gehirn und Rückenmark: Ein komplexes Netzwerk

Das Rückenmark ist nicht nur eine einfache Umschaltstation, sondern ermöglicht es, die eingehenden Signale zu filtern, anzuheben und fein zu justieren. Dieses Tuning findet teils im Rückenmark selbst statt, teils in verschiedenen Regionen des Gehirns.

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Aufsteigende Bahnen wie der Goll-Strang (Fascilus gracilis) und der Burdach-Strang (Fasciculus cuneatus) führen von Haut- und Muskelrezeptoren der unteren bzw. oberen Körperhälfte über Spinalganglienzellen weiter ins Rückenmark, zum Hirnstamm und über Anschlussbahnen ins Zwischenhirn und die Hirnrinde. Erst dort entsteht ein Körperbewusstsein - ein Gefühl für die Oberflächen und die Tiefen des Leibes.

Der Gowers-Strang (Tractus spinocerebellaris anterior) und der Flechsig-Strang (Tractus spinocerebellaris posterior) verbinden die Mechanorezeptoren des Körpers mit dem Kleinhirn. Schmerz- und Temperaturempfinden laufen ebenfalls auf eigenen aufsteigenden Bahnen, den vorderen und seitlichen Tractus spinothalamicus.

In ihrer Gesamtheit ermöglicht die komplexe Verschaltung bis hinauf in verschiedene Regionen des Gehirns zusätzlich zu den „einfachen“ Reflexen mitunter auch eine bewusste Einflussnahme des Geistes auf „eigentlich“ automatische Funktionen wie die Schmerzwahrnehmung oder die Atmung.

Klinische Bedeutung: Erkrankungen und Verletzungen des Rückenmarks

Erkrankungen und Verletzungen des Rückenmarks können schwerwiegende neurologische Ausfälle verursachen. Die Art und der Schweregrad der Symptome hängen von der Lokalisation und dem Ausmaß der Schädigung ab.

Rückenmarksyndrome

Verschiedene Rückenmarksyndrome können auftreten, je nachdem, welche Bereiche des Rückenmarks betroffen sind:

  • Zentromedulläres Syndrom: Verletzung des Zentrums des Rückenmarks, betrifft die spinothalamischen Bahnen (Sensorik) und die medialen Anteile der Tractus corticospinales (Motorik).
  • Vorderes Quadrantensyndrom: Verletzung des ventralen Rückenmarks, Verlust der motorischen und sensorischen Funktion unterhalb des Verletzungsniveaus.
  • Hinteres Quadrantensyndrom: Betrifft die dorsalen Säulen, die Tractus corticospinales und die absteigenden autonomen Bahnen zur Blase.
  • Brown-Séquard-Syndrom: Halbseitige Rückenmarkschädigung.

Erkrankungen des Rückenmarks

Zu den häufigsten Erkrankungen des Rückenmarks gehören:

  • Amyotrophe Lateralsklerose (ALS): Neurodegenerative Erkrankung der oberen und unteren Motoneurone.
  • Multiple Sklerose: Chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung, die zur Demyelinisierung des ZNS führt.
  • Bandscheibenvorfall (Prolapsus nuclei pulposi): Druck auf das Rückenmark durch einen Bandscheibenvorfall.
  • Myelitis: Entzündung des Rückenmarks, meist immunologisch oder allergisch bedingt.
  • Neuralrohrdefekte: Fehlerhafter Verschluss des Neuralrohrs während der Embryonalentwicklung.

Diagnostik und Therapie

Die Diagnose von Rückenmarkserkrankungen umfasst in der Regel eine neurologische Untersuchung, bildgebende Verfahren (MRT, CT) und eine Liquoruntersuchung. Die Therapie richtet sich nach der Art und Schwere der Erkrankung und kann medikamentöse Behandlungen, Physiotherapie, Ergotherapie und in manchen Fällen auch Operationen umfassen.

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