ADHS: Unterschiede im Gehirn und neurologische Grundlagen

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Betroffene zeigen je nach Typ der Erkrankung entweder Unaufmerksamkeit oder zusätzlich Hyperaktivität und Impulsivität. Um diese Verhaltensauffälligkeiten zu behandeln, gibt es verschiedene Strategien, die vom Erlernen spezifischer Verhaltensweisen über psychotherapeutische Ansätze bis hin zur medikamentösen Behandlung reichen. Moderne Hirnforschung zeigt, dass ADHS mehr als nur eine Modeerscheinung oder Einbildung ist.

Neurologischer Hintergrund von ADHS

Bei ADHS, auch in geringerem Umfang bei der ADS, kommt es zu einer verminderten Aktivität der stratiofrontalen Strukturen, insbesondere des präfrontalen Cortex und des Striatums. Diese Bereiche sind essentiell für die Steuerung und Modulation von Handlungen, einschließlich Planung, Ordnung, Periodisierung und Ausführung gezielter Handlungen unter Abgrenzung von Außenreizen.

Die Rolle des Dopamins

Ein wichtiger Botenstoff in diesem Zusammenhang ist Dopamin, der die Kommunikation von Nervenzellen untereinander steuert. Hyperaktive Kinder haben in einem Teil des Gehirns (dem sogenannten Hinterhirn) zu viel Dopamin, was die sehr ausgeprägten Impulse von Neugier, Bewegung und die Suche nach Stimuli begründet. Im Vorderhirn (präfrontaler Cortex und Striatum), das für Hemmung und Steuerung zuständig ist, liegt eine zu geringe Aktivität (und damit Konzentration von Dopamin) vor.

Dopamin macht das Gehirn schnell, neugierig, impulsiv, glücklich und ausdauernd. Substanzen wie Zucker und Kokain führen zu einer erhöhten Ausschüttung von Dopamin. Bei ADHS wurde durch bildgebende Verfahren eine geringere Aktivität im Striatum und im präfrontalen Cortex gemessen, was auf eine Erhöhung der Anzahl von Dopamin-Transportern (DAT) in diesen Strukturen zurückzuführen ist.

Dopamin-Transporter und ihre Funktion

Die erhöhte Dichte an Dopamintransportern (DAT) führt dazu, dass Dopamin aus dem synaptischen Spalt abtransportiert wird, was zu einer geringeren Signalübertragung in diesen Bereichen führt. Die Dopaminüberschusshypothese geht davon aus, dass ein Zuviel an Dopamin zu einer Erhöhung der Dopamintransporterdichte (DAT) als kompensatorische Antwort des Gehirns führt.

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Medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat

Der Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin) blockiert das Dopamintransporter-System (DAT), wodurch die Konzentration von Dopamin im synaptischen Spalt erhöht wird. Methylphenidat fällt unter das Betäubungsmittelgesetz unter der Gruppe der Amphetamine. Kurzfristig kommt es damit zu einer Aktivierung des präfrontalen Cortex sowie des Striatums. Die Erhöhung der stratiofrontalen Aktivität führt dazu, dass die Hemmungsfunktion des Cortex auf das limbische System aufgebaut wird, was zu besseren Konzentrationsleistungen und weniger Störungsanfälligkeit führt.

Nach Absetzen des Medikaments kann es jedoch zu einem Rebound-Effekt kommen, und langfristig kann es zu einer Erhöhung der Dopamintransporter (DAT) kommen. Unerwünschte Nebeneffekte können Wachstumsstörungen, Tics, Sehstörungen, Schlafstörungen, Bauchschmerzen, Herzrasen, erhöhter Blutdruck und gesteigerte Nervosität sein. Langzeituntersuchungen stehen noch aus.

Alternative Behandlungsansätze

Studien zeigen, dass komplexe Bewegungstrainings zu einer signifikanten Aktivierung und Neuronenzunahme der frontostratialen Strukturen führen. Auch im Bereich des Hippocampus, von dem aus das räumliche, sprachliche und situative Gedächtnis gebildet wird, liegen Befunde einer Erhöhung der Aktivierung und Anzahl von Neuronen vor. Durch die Kombination von funktionalem Bewegungstraining und Neurofeedbacktraining werden nicht nur die Strukturen aktiviert, die normalerweise durch Ritalin aktiviert werden, sondern es finden auch weitere Verbesserungen wie Raumorientierung, Sozialverhalten und Kreativität statt.

Neurologische Biomarker für ADHS-Typen

Wissenschaftler haben neurologische Biomarker für die beiden häufigsten ADHS-Typen gefunden. Sie testeten 57 Kinder mit ADHS und erstellten ein EEG, während die Kinder Aufgaben am Computer lösten, bei denen sie immer wieder den Impuls unterdrücken mussten, zu früh einen Knopf zu betätigen. Bei der Auswertung konzentrierten sich die Forscher auf die Analyse der Alpha- und Betahirnwellen. Alphawellen geben Aufschluss über die visuelle Verarbeitung einer Information. Je stärker die Alphawellen innerhalb eines bestimmten Zeitfensters schwankten, desto weniger aufmerksam waren die Kinder.

Modelle zur Erklärung von ADHS

ADHS kann nicht allein durch symptomorientierte Beschreibungen oder durch ein einzelnes neurologisches Wirkprinzip erklärt werden. Ältere Modelle beschränkten sich darauf, die sichtbaren Symptome wie Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit zu benennen.

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Inhibitionsstörung

Ein Modell sieht eine Inhibitionsstörung als zentrales Merkmal von ADHS. Die Inhibitionsprozesse regulieren laut Barkley die exekutiven Funktionen. Barkley sieht dabei keine grundsätzliche Unfähigkeit in diesen Bereichen, sondern ein Problem in der Steuerung, die grundsätzlich vorhandenen Fähigkeiten angemessen einzusetzen.

Belohnungsreaktionsverhalten und Motivation

Ein verändertes Belohnungsreaktionsverhalten und eine veränderte Motivation werden ebenfalls als mögliche Erklärungsansätze genannt. Wender postulierte bereits 1971, dass bei ADHS Anomalien im Belohnungszentrum des Gehirns die Reaktionsfähigkeit auf Belohnungen wie auf Strafen verringern. Haenlein und Caul entwickelten auf dieser Grundlage die Hypothese einer “erhöhten Belohnungsschwelle” bei ADHS, was dazu führe, dass eine bestimmte Belohnung für ADHS-Betroffene einen geringeren Belohnungswert habe als für Nichtbetroffene. Ebenso sind Impulsivität und zumindest teilweise das Arbeitsgedächtnis betroffen.

Dynamische Entwicklungstheorie

Die dynamische Entwicklungstheorie betont die Rolle der veränderten dopaminergen Funktion und erklärt die Verhaltensprobleme und Symptome von ADHS durch die Interaktion von genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen.

Dopamin-Transfer-Defizit-Modell

Das Dopamin-Transfer-Defizit-Modell beschreibt eine abgeschwächte phasische Dopaminreaktion auf Belohnungshinweise.

Kognitiv-energetisches Modell

Das kognitiv-energetische Modell nach Sergeant sieht einen Mangel an kortikaler Gesamtaktivierung aufgrund einer Dysfunktion im retikulären System des Hirnstamms.

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Mehrursachenmodelle

Das 2- bzw. 3-Ursachen-Modell von Sonuga-Barke geht davon aus, dass unterschiedliche Regelkreise im Gehirn für verschiedene Symptome wie z.B. Hemmungsstörungen, Belohnungsprobleme und Zeitverarbeitungsstörungen verantwortlich sind. Das 4-Kategorien-Modell nach Hunt beschreibt vier Hauptprobleme bei ADHS: eine Störung der selektiven Aufmerksamkeit, ein exzessives Arousal, behaviorale Desinhibition bzw. Impulsivität/Hyperaktivität und Probleme im Belohnungssystem.

Stresshypothese

Die Hypothese von Ulrich Brennecke (ADxS.org) besagt, dass das Gehirn bei ADHS dauerhaft in einem Funktionsprofil arbeitet, das eigentlich für schweren Stress vorgesehen ist. Die so hervorgerufenen Symptome wären bei schwerem Stress funktional, bei ADHS sind sie jedoch nachteilig.

ADHS im Erwachsenenalter

Das menschliche Gehirn ist erst im Alter von 23 bis 25 Jahren ausgereift. Bei ADHS ist die Entwicklung des präfrontalen Kortex verzögert oder gestört, was zu Symptomen wie Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität führen kann. Bei manchen Betroffenen kann das Gehirn die Entwicklungsverzögerung im Erwachsenenalter aufholen.

Ende der Neunzigerjahre setzte sich die Erkenntnis durch, dass ADHS zwar im Kindesalter entsteht, sich aber nicht zwingend nach der Pubertät verliert, sondern zu 50 bis 80 % im Erwachsenenalter fortbesteht, wobei die Symptome sich dabei ändern. ADHS ist mit einer Entwicklungsverzögerung (oder dauerhaften Entwicklungsstörung bei bis ins Erwachsenenalter persistierender ADHS) bestimmter Gehirnfunktionen / Gehirnbereiche verbunden, vornehmlich hinsichtlich der Reifung dopaminerger und noradrenerger Bahnen.

Die verzögerte Gehirnentwicklung lässt sich auf einen Dopaminmangel in bestimmten Gehirnbereichen (PFC, Striatum) zurückführen, da bestimmte Gehirnregionen zu ihrer Reifung auf Dopamin angewiesen sind.

Dimensionale vs. kategoriale Definition von ADHS

Es wird kaum noch diskutiert, ob ADHS kategorial definiert werden könnte. Dimensional bedeutet demgegenüber, dass nicht einzelne bestimmte Symptome das Vorhandensein von ADHS definieren, sondern die Häufigkeit und das Maß, in denen diese auftreten. Barkley hat für ADHS bei Erwachsenen 18 Symptome gesammelt und festgestellt, dass alle diese Symptome auch bei Nichtbetroffenen auftreten können. Der Unterschied zwischen ADHS und Nicht-ADHS ist die Häufigkeit des Auftretens der Symptome.

ADHS als motivationale Dysfunktion

ADHS kann auch als motivationale Dysfunktion betrachtet werden, die durch Versuche gekennzeichnet ist, einer Verzögerung zu entgehen oder sie zu vermeiden.

Evolutionäre Theorien

Gegen die meisten evolutionsbedingten Theorien spricht, dass ADHS zwei sehr konträre Subtypen hat, die kaum gleichzeitig einen evolutionsbedingten Vorteil versprechen.

Abweichende Funktionsprofile

Mit abweichenden Funktionsprofilen sind Modelle gemeint, die ADHS nicht als unmittelbare Folge einer krankhaften Fehlfunktion des Gehirns oder einzelner Teile davon betrachten, sondern ADHS als Folge eines anderen Funktionsmodus des Gehirns betrachten, der nicht selbst unmittelbar krankhaft ist, sondern (unter anderen Umständen) eine gesunde Funktionsweise darstellt.

Ursachen von ADHS

Metauntersuchungen haben gezeigt, dass ADHS durch eine Kombination von genetischen Risiken und Umweltfaktoren verursacht wird. In einer Studie analysierte ein internationales Team das Erbgut von über 20.000 Menschen mit ADHS und über 35.000 ohne ADHS aus den USA, Europa, Skandinavien, China und Australien. ADHS ist also vererbbar.

Viele Menschen denken, dass ein hoher Zuckerkonsum ADHS auslösen kann. Studien konnten das jedoch nicht belegen. Zwar stellen Forschende in Studien immer wieder einen Zusammenhang zwischen ADHS-Symptomen und hohem Zuckerkonsum fest. Auf ein ähnliches Ergebnis kommen Forschende bei der Frage, ob ein erhöhter Medienkonsum ADHS begünstigt. Auch hier konnten Studien zeigen, dass Kinder mit höherem Medienkonsum zwar häufiger ADHS-Symptome aufweisen.

Wichtig ist, dass bei einer deutlichen ADHS-Symptomatik eine medikamentöse Behandlung notwendig ist, da ADHS zuallererst eine neurobiologische Erkrankung ist. Die Sichtung aller bisher veröffentlichten Studien hat gezeigt, dass Psychotherapie leider nicht den gleichen Effekt hat wie eine medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat (Ritalin) oder Amphetaminen (Elvanse, Attentin).

Dopaminmangel und Behandlung

Bei ADHS wird das Gehirnhormon Dopamin zu schnell abgebaut. Dopamin regelt Aufmerksamkeit, Motivation, Stimmungsstabilität und Konzentration. Durch den zu schnellen Abbau entsteht somit im Gehirn ein Dopaminmangelsyndrom.

Methylphenidat, wie auch Amphetamine, müssen auf einem Betäubungsmittelrezept verordnet werden, weil Menschen ohne ADHS darauf eine andere Wirkung haben. Bei „Normalos“ können bei Einnahme dieser Medikamente Euphorie und Antriebssteigerung auftreten, was zu einer Abhängigkeit führen kann. ADHS-Betroffene spüren eine völlig andere Wirkung. Hier wirkt sich die Dopaminerhöhung durch die Medikamente so aus, dass ADHS-Betroffene ruhiger, klarer, besonnener und besser reizabgeschirmt werden.

Umgang mit dem ADHS-Gehirn

ADHS ist eine besondere Art zu sein, und das bedeutet, dass das Gehirn nicht schlechter arbeitet als andere Hirne, aber eben anders. Es ist gut, die Gebrauchsanweisung dafür zu kennen, um die Genialität und Besonderheiten dieses Gehirns nutzen zu können.

Schwierigkeiten bei der Nutzung des ADHS-Gehirns

Das ADHS-Gehirn funktioniert nicht immer, wenn es soll oder man es braucht. Es arbeitet besonders gut, wenn eine Tätigkeit Spaß macht oder eine spannende Belohnung winkt. Dann kann es zur Höchstform auflaufen und Berge versetzen, denn es hat die Eigenschaft zu hyperfocussieren.

Ganz anders sieht es für Tätigkeiten aus, die keinen Spaß und keine Belohnung verheißen. Dann kann das ADHS-Gehirn sich völlig verweigern und selbst kleine Verpflichtungen werden zum unüberwindbaren Hindernis, weil sich Prokastination (Aufschieberitis) und Trägheit einstellen.

Tipps für den Alltag

  • Flow-Effekte nutzen: Erklären Sie Ihren Mitmenschen, dass Sie ungestörte Zeit brauchen, um sich auf Ihre Interessen zu konzentrieren.
  • Spontane Einfälle festhalten: Schreiben Sie alle guten Gedanken sofort auf, sonst sind sie schnell vergessen.
  • Vom Chaos in die Struktur: Halten Sie Ihre Gedanken fest, sortieren Sie sie, ordnen Sie sie zu und arbeiten Sie sie ab.
  • Reizüberflutung vermeiden: Jede Ablenkung und jeder neuer Reiz verschlechtert die Konzentration.
  • Lernschwierigkeiten überwinden: Wiederholen Sie das Gelernte laut und immer wieder.
  • Komplementäre Partner suchen: Suchen Sie sich Menschen, die strukturiert arbeiten und genau und sorgfältig sind.
  • Pflichten erledigen: Stellen Sie sich selbst Belohnungen für die getane Arbeit in Aussicht.
  • Nicht mehrere Sachen gleichzeitig anfangen: Springen Sie nicht von einer Tätigkeit zur anderen.
  • Sachen zu Ende bringen: Neigen Sie nicht dazu, Dinge nur bis zu 80% zu erledigen.

Strukturelle Unterschiede im Gehirn

Mit Hilfe einer neuen Aufnahmetechnik (Diffusion Tensor Imaging, DTI) konnten amerikanische Wissenschaftler zeigen, dass das Gehirn von Kindern mit ADHS im Vergleich zu gesunden Kindern Veränderungen aufweist. Unterschiede traten vor allem bei Nervenbahnen auf, die bestimmte Regionen des Gehirns miteinander verbinden. Diese Regionen sind an der Kontrolle der Aufmerksamkeit, der Aktivierung und Hemmung von impulsivem Verhalten sowie der Steuerung der körperlichen Aktivität beteiligt.

In einer weiteren Studie wurde die Wirkung einer medikamentösen Therapie untersucht. Auch hier verwendeten die Wissenschaftler die neue Aufnahmetechnik zur Darstellung der Gehirnstrukturen. Sie verglichen die Aufnahmen von ADHS-Kindern, die über einen Zeitraum von 2 1/2 Jahren Medikamente erhalten hatten, mit den Untersuchungsbildern von 10 unbehandelten Kindern. Bei den behandelten Kindern waren die Abweichungen bei den veränderten Nervenbahnen deutlich geringer als bei den unbehandelten Kindern.

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