Affektlabilität nach einem Schlaganfall ist ein Zustand, der durch rasche und unkontrollierte Stimmungsschwankungen gekennzeichnet ist. Betroffene erleben plötzliche Gefühlsausbrüche, die oft nicht mit ihrer tatsächlichen Gefühlslage übereinstimmen. Dieses Phänomen kann für Patienten und Angehörige sehr belastend sein, da es zu sozialer Isolation und einem Gefühl des Kontrollverlusts führen kann.
Was ist Affektlabilität?
Affektlabilität, auch bekannt als emotionale Labilität oder Affektinkontinenz, beschreibt eine abnorme Variabilität der Affekte mit wiederholten, schnellen und abrupten Wechseln im affektiven Ausdruck. Im Gegensatz dazu steht die Affektinkontinenz, bei der die Affekte unerwartet rasch anspringen, aber tatsächlich in der Situation so empfunden werden. Ein Beispiel für Affektlabilität wäre, wenn jemand bei traurigen Filmszenen unkontrolliert weinen muss, obwohl er sich nicht wirklich traurig fühlt.
Die Betroffenen leiden unter der mangelnden Kontrolle ihrer Gefühlsäußerungen, die oft gar nicht so wie dargeboten empfunden werden. Die inadäquaten Gefühlsäußerungen sind den Patienten peinlich, auch wenn sie bei Themenwechsel oft rasch wieder abklingen.
Ursachen von Affektlabilität nach Schlaganfall
Die Affektlabilität nach einem Schlaganfall kann verschiedene Ursachen haben. Eine wichtige Rolle spielt die Schädigung bestimmter Hirnregionen, die für die Emotionsregulation zuständig sind.
- Hirnorganische Störungen: Das pathologische Lachen und Weinen als Ausdruck der Affektinkontinenz wird als Enthemmungsphänomen motorischer Synergismen gesehen, damit Folge hirnorganischer Störungen (wie sie z.B. nach einem Schlaganfall auftreten können).
- Schädigung der Capsula interna: Aus Fallberichten mit Stimulation mittels Hirnelektroden wird vermutet, dass eine Schädigung der caudalen Capsula interna für die Affektinkontinenz verantwortlich sein kann.
- Weitere neurologische Erkrankungen: Affektinkontinenz kommt beispielsweise bei Schlaganfällen, Binswanger Demenz, Vaskulärer Demenz, Multipler Sklerose, und bei anderen Hirnschädigungen bzw. organischen Psychosyndromen vor.
In seltenen Fällen kann anfallsweises pathologisches Lachen oder Weinen auch das erste oder einzige Zeichen eines Schlaganfalls oder einer akuten Hirnschädigung sein im Sinne eines so genannten „fou rire prodromique“. Auch und besonders wenn bisher keine neurologische Erkrankung bekannt ist, ist das Auftreten pathologischer Emotionsäußerungen immer ein Grund für eine neurologische Diagnostik.
Lesen Sie auch: Hüft-TEP und Nervenschmerzen
Symptome der Affektlabilität
Die Symptome der Affektlabilität können vielfältig sein und sich von Patient zu Patient unterscheiden. Häufige Anzeichen sind:
- Rasches Anspringen von Affekten: Die Gefühle können plötzlich und unerwartet auftreten, oft ohne erkennbaren Auslöser.
- Unkontrollierte Gefühlsausbrüche: Betroffene können beispielsweise plötzlich weinen, lachen oder wütend werden, ohne dass sie diese Gefühle wirklich empfinden.
- Übermäßige Stärke der Gefühle: Die Gefühlsausbrüche können intensiver sein als es die Situation eigentlich rechtfertigen würde. Beispielsweise plötzliches Losweinen, ohne dass man wirklich traurig wäre.
- Schnelle Wechsel im affektiven Ausdruck: Die Stimmung kann innerhalb kurzer Zeit mehrmals wechseln.
- Inkongruente Gefühlsäußerungen: Die gezeigten Gefühle passen nicht zur aktuellen Stimmung oder Situation. Unter pathologischem Weinen versteht man ein Krankheitsbild, bei dem meist wiederholte Anfälle von unfreiwilligem Weinen auftreten, die zur gegenwärtigen Stimmung des Betroffenen inkongruent sind und auch nicht zum situativen emotionalen, kognitiven, und sozialen Kontext passen, und ohne das Empfinden von Traurigkeit auftreten. Im selben Zusammenhang kann auch ein pathologisches Lachen in direkter Verbindung mit dem pathologischen Weinen auftreten.
Dem pathologischen Weinen und dem pathologischen Lachen liegen die selben Mechanismen zugrunde. Sie sind beide oft Bestandteile eines weitergehenden pseudobulbären Syndroms bei dem nicht selten auch Schluckstörungen, Dysarthrie sowie gesteigerte Reflexe der Gesichts-, Gaumen-, und Kiefermuskulatur vorliegen.
Diagnose der Affektlabilität
Die Diagnose der Affektlabilität erfolgt in der Regel durch eine umfassende neurologische und psychiatrische Untersuchung. Dabei werden die Symptome des Patienten erfasst und von anderen möglichen Ursachen abgegrenzt. Wichtig ist, andere psychische Erkrankungen auszuschließen oder zu behandeln.
Therapie der Affektlabilität
Obwohl die Affektlabilität eine erhebliche Belastung darstellen kann, gibt es verschiedene Therapieansätze, die den Betroffenen helfen können, ihre Symptome besser zu kontrollieren und ihre Lebensqualität zu verbessern.
- Medikamentöse Behandlung: Affektinkontinenz spricht in den meisten Fällen auf eine Behandlung mit Antidepressiva an.
- Psychotherapie: Eine Psychotherapie kann den Betroffenen helfen, ihre Emotionen besser zu verstehen und Strategien zur Emotionsregulation zu entwickeln.
- Neuropsychologische Therapie: In manchen Fällen kann eine neuropsychologische Therapie sinnvoll sein, um kognitive Defizite zu behandeln, die die Emotionsregulation beeinträchtigen.
- Logopädie: Dem pathologischen Weinen und dem pathologischen Lachen liegen die selben Mechanismen zugrunde. Sie sind beide oft Bestandteile eines weitergehenden pseudobulbären Syndroms bei dem nicht selten auch Schluckstörungen, Dysarthrie sowie gesteigerte Reflexe der Gesichts-, Gaumen-, und Kiefermuskulatur vorliegen.
- Unterstützung durch Angehörige: Ein verständnisvolles und unterstützendes Umfeld kann den Betroffenen helfen, mit ihren Symptomen besser umzugehen.
Depressionen nach Schlaganfall
Es ist wichtig zu beachten, dass bis zu einem Drittel der Patienten nach einem Schlaganfall eine Depression entwickelt. Diese wird vermutlich oft nicht erkannt. Die Mortalität ist beim Auftreten einer Post-Schlaganfall-Depression (PSD) deutlich erhöht. Für die Diagnose sollten die Patienten die ICD-Kriterien für eine depressive Episode erfüllen. Das heißt: es müssen mindestens vier Symptome über mehr als zwei Wochen bestehen. Nicht verwechselt werden darf die Depression mit der Post-Stroke-Fatigue, die bei 75 % der Schlaganfallpatienten auftritt und durch beschleunigte Ermüdbarkeit und Antriebslosigkeit gekennzeichnet ist.
Lesen Sie auch: Rehabilitation bei Gesichtsfeldausfall
Oftmals stellen sich die Symptome erst Monate nach dem akuten Ereignis ein. Viele Erkrankte und insbesondere Angehörige fühlen sich von den depressiven Entwicklungen überrumpelt. Diese zeigen sich ausgerechnet in einer Phase, in der die akute Bedrohung weitestgehend überwunden scheint. Die belastende Zeit im Krankenhaus, die kräftezehrenden Wochen der Rehabilitation liegen hinter den Betroffenen. Doch an die Stelle des erwarteten Aufatmens treten mit einem Mal Gefühle von Antriebs- und Kraftlosigkeit. Eine Stimmung von Gedrücktheit und Verzagtheit bahnt sich Raum. Die Zurückgekehrten scheinen ihre Welt nur noch mit trauriger oder unbeteiligter Distanz wahrzunehmen. Sie sind schweigsam, in sich zurückgezogen. Betroffene blicken mit Selbstzweifeln und Angst in die Zukunft, fühlen sich dem Leben nicht mehr gewachsen. Nicht selten äußern sie die Sorge, von anderen abhängig zu sein und ihnen dabei zur Last zu fallen. Zuweilen können diese quälenden Gefühle reizbares und ungehaltenes Verhalten begünstigen. Das wiederum wird als beschämender Kontrollverlust erlebt. Sie ziehen sich stärker zurück, um die Gefahr weiterer aggressiv aufgeladener Interaktionen zu umgehen.
Nun sind gedrückte Stimmung, Niedergeschlagenheit, ängstliches und zurückgenommenes Verhalten nicht stets und sofort mit einer behandlungswürdigen Depression gleichzusetzen. Vielmehr können sie Ausdruck der Krankheitsverarbeitung sein. Das ist ein notwendiger Prozess, der sich erst entfalten kann, wenn sich die Dinge wieder ein wenig „gelegt“ haben und Ruhe eingekehrt ist. Während in den ersten Wochen bis Monaten nach dem Schlaganfall Hoffnungen auf die baldige Rückkehr zum „alten“ und vertrauten Leben dominieren, entwickeln sich nach und nach sorgenvolle Gedanken, möglicherweise das Leben künftig mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen meistern zu müssen. Einige sind verunsichert, weil sie beobachten, wie die eigene Sinneswahrnehmung, das Denken oder Gedächtnis sich verändert haben. Nicht selten verschieben sich in Familie, Partnerschaft oder Freundschaften die Rollen- und Aufgabenverteilungen. Unter dem Eindruck des Schlaganfalls und seiner Folgen spüren viele die Notwendigkeit, soziale Beziehungen und Lebensziele auf den Prüfstand zu stellen. Manche hinterfragen Leistungsansprüche an die eigene Person und bewerten Prioritäten neu. Dabei können Betroffene äußerst hart mich sich ins Gericht gehen. Sie hadern vielleicht damit, nicht genug Selbstfürsorge betrieben oder ärztliche Empfehlungen nicht ausreichend befolgt zu haben und Ähnliches. Solche Gedankengänge werden von unangenehmen Emotionen wie Ärger, Wut, Angst oder Verzweiflung begleitet. Obwohl diese Gefühle verunsichernd und bedrohlich wirken können, sind sie dennoch ein unverzichtbarer Teil der psychologischen Bewältigung. Auf diese Weise lernen Betroffene, ihren Alltag schrittweise an die Veränderungen anzupassen. Das Ziel ist es, mittel- bis langfristig wieder zu einer zufriedenstellenden Lebensgestaltung zurückzufinden.
Ähnlich wie der plötzliche Verlust eines geliebten Menschen stellt auch der Schlaganfall eine abrupte Ohnmachtserfahrung dar. Schlagartig ist die körperliche und geistige Unversehrtheit im höchsten Maße bedroht oder gar teilweise verloren. In der Rückschau berichten viele Patientinnen und Patienten, dass sie sich im ersten Moment dieser schockartigen Erfahrung wie betäubt fühlten. Sie erlebten ihre Zeit im Akutkrankenhaus und in der Rehaklinik wie in einem „Autopilot-Modus“. Sobald sie ausreichend wach und bei Bewusstsein waren, ließen sie sich „mechanistisch“ auf den Behandlungsprozess, die Krankengymnastik oder Sprachtherapie etc. ein. Dabei realisierten sie nicht, was eigentlich passiert war. In einer körperlichen und emotionalen Ausnahmesituation „funktionieren“, also auf „Autopilot“ schalten zu können, ist eine überlebenssichernde Fähigkeit. Nach der überstandenen Bedrohung folgt die Evaluationsphase, in der man das Geschehene in seiner Bedeutsamkeit bewertet. Mögliche Konsequenzen für das weitere Leben werden be- und durchdacht. Im günstigen Fall gelingt es den Betroffenen im Laufe der Krankheitsverarbeitung, die erlebte Krise als einen Teil ihres Lebens zu akzeptieren. Als etwas, an dem sie wachsen und aus dem sie gestärkt in die Zukunft treten. Mitunter sind das Krankheitsereignis und seine Folgen sehr weitreichend. Einige Betroffene fühlen sich zudem bereits aufgrund früherer Krisen stark belastet oder es fällt ihnen schwer, das Erlebte in Worte zu fassen. Es kann dann geschehen, dass Gefühle von ängstlicher Verunsicherung, Zukunftsangst, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit überhandnehmen. Die Anzahl der festgestellten Symptome bestimmt die Schwere der depressiven Erkrankung. Unterschieden wird zwischen einzelnen Episoden einer leichten, mittelgradigen oder schweren Depression. Häufig sind Symptome wie Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit in der ersten Tageshälfte am stärksten ausgeprägt. In den frühen Abendstunden sind sie weniger intensiv. Auch wenn Angst und Depression zwei unterschiedliche psychische Erkrankungen darstellen, können sie als Mischbilder auftreten. Das heißt: Auch ein depressiv erkrankter Mensch kann von Ängsten gepeinigt sein.
Ein vertrauensvolles Gespräch, in dem verwirrende Gedanken, Sorgen oder Gefühle von Ratlosigkeit ausgesprochen werden, kann stets zur spontanen Entlastung beitragen. Dabei muss das Gegenüber nicht psychotherapeutisch ausgebildet sein. Ein Austausch im Kreise der Familie oder mit guten Freunden, kann gleichermaßen ein tröstendes Gefühl vermitteln, nicht alleine zu sein. Möglicherweise bleibt trotz dieses Austausches der Leidensdruck der Betroffenen unverändert hoch, weil eine anhaltende Antriebslosigkeit oder die fehlende Kraft ein aktives und bestärkendes Sozialleben erschweren. Eine depressive Erkrankung sollte stets fachärztlich und fachpsychologisch begleitet werden. Betroffene und deren Angehörigen sollten keine Scheu davor haben, sich Unterstützung einzufordern. Bei Verdacht auf eine depressive Entwicklung sollte das Beratungsgespräch mit der Hausärztin oder dem Hausarzt, der Neurologin oder dem Neurologen gesucht werden. Man kann sich ebenfalls direkt an eine psychotherapeutische Praxis wenden. Bei einigen Betroffenen herrschen körperliche Begleiterscheinungen, wie etwa eine hohe innere Unruhe, Gedankenrasen oder Schlafstörungen und Ähnliches vor. Zuweilen kommt es vor, dass Erkrankte nach einem Schlaganfall weder von Antidepressiva noch von einer Psychotherapie ausreichend profitieren. In diesen Fällen sollte stets bedacht werden, dass infolge einer neurologischen Erkrankung Aufmerksamkeit und Konzentration, Sprache und Gedächtnis beeinträchtigt bleiben können. Auch die Fähigkeit zur emotionalen Kommunikation kann in Mitleidenschaft gezogen sein. So kann das Zeigen von Gefühlen über Mimik und Stimmlage erschwert sein. In solchen Fällen spricht die Psychologie von den neuropsychologischen Folgen eines neurologischen Ereignisses. Dabei handelt es sich um Veränderungen, die nicht ohne weiteres offensichtlich sind. Dennoch können sie ihre Wucht entfalten, indem sie sowohl die kognitive Leistungsfähigkeit als auch das emotionale Erleben und Verhalten nachhaltig stören. Daher kann bei einer solchen Entwicklung eine ergänzende Abklärung durch eine neuropsychologische Untersuchung geboten sein. Von psychotherapeutischer und ärztlicher Seite kann dann eine sogenannte Differenzialdiagnostik eingeleitet werden.
Eine Depression nach einem neurologischen Ereignis kostet Betroffene unendlich viel Kraft. Sie kann auch den Prozess der Rehabilitation und den Weg zurück ins Leben jenseits von Kliniken verzögern. Sie kann diejenigen, die an ihr leiden, sozial isolieren. Begreift man jedoch die Depression als Abschnitt des „Bewältigungsweges“ des Schlaganfalls, verliert sie ihren Schrecken und wird „händelbar“. Gemeinsam mit Familie und Freunden sowie Fachleuten aller Disziplinen können Betroffene diesen Weg aus der emotionalen Isolation hin zu einem bereichernden Leben meistern.
Lesen Sie auch: Was Sie über epileptische Anfälle nach Hirnblutungen wissen sollten
tags: #affektlabilität #nach #schlaganfall #ursachen #therapie