Alkoholische Polyneuropathie: Ursachen, Diagnose und Behandlung

Die alkoholische Polyneuropathie ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, die durch chronischen Alkoholmissbrauch verursacht wird. Sie gehört zur Gruppe der Polyneuropathien, die durch Schädigung peripherer Nerven gekennzeichnet sind. Diese Nerven verbinden das Gehirn und das Rückenmark mit den Muskeln, der Haut und den inneren Organen. Die Schädigung dieser Nerven kann zu einer Vielzahl von Symptomen führen, darunter Schmerzen, Taubheitsgefühle, Muskelschwäche und autonome Funktionsstörungen.

Was ist eine Polyneuropathie?

Polyneuropathien (PNP) sind Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die durch Schädigung von Nerven außerhalb des Gehirns und Rückenmarks entstehen. Diese Schädigung beeinträchtigt die Reizweiterleitung in den Nervenbahnen, was zu Missempfindungen, Sensibilitätsstörungen oder Schmerzen führen kann. Polyneuropathien können akut, subakut oder chronisch verlaufen. Die Prognose einer Polyneuropathie hängt stark von der Ursache und der Möglichkeit der Behandlung ab.

Die häufigste Form ist die distal symmetrische Polyneuropathie. Die Krankheitshäufigkeit der Polyneuropathien beträgt ca. 5-8 % in der erwachsenen bzw. älteren Bevölkerung. Etwa 50 % aller Polyneuropathien gehen mit Schmerzen einher.

ICD-Codes für Polyneuropathien sind G63, G61 und G62. In der ambulanten Versorgung wird der ICD-Code auf medizinischen Dokumenten immer durch die Zusatzkennzeichen für die Diagnosesicherheit (A, G, V oder Z) ergänzt: A (Ausgeschlossene Diagnose), G (Gesicherte Diagnose), V (Verdachtsdiagnose) und Z (Zustand nach der betreffenden Diagnose).

Formen der Polyneuropathie

Je nach Ausprägung und Körperstelle, an dem die Nervenschäden auftreten, unterscheiden Ärzte:

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  • Symmetrische Polyneuropathien: Die Nervenschädigungen betreffen beide Körperhälften.
  • Asymmetrische Polyneuropathien: Die Nervenschädigungen betreffen nur eine Körperseite.
  • Distale Polyneuropathien: Die Schäden an den Nervenbahnen betreffen hauptsächlich Körperregionen, die vom Rumpf bzw. der Körpermitte entfernt liegen (bspw. Hände, Beine, Füße).
  • Proximale Polyneuropathie: Eine seltene Form der Neuropathie, bei der sich die Erkrankung auf die rumpfnahen Körperteile beschränkt.

Schädigung der Nervenzellen

Jede Nervenzelle besteht aus einem Zellkörper und einem Nervenfortsatz (Axon). Axone sind wie elektrisch leitende Kabel. Der Körper muss sie für die optimale elektrische Reiz- oder Signalweiterleitung mit einer Isolierschicht ummanteln, der Myelinschicht oder Markscheide.

  • Demyelinisierende Polyneuropathie: Bei dieser Neuropathieform zerfällt die schützende Myelinschicht. Die elektrische Reizweiterleitung wird gestört. Je nach Ursache kann sich eine demyelinisierende Neuropathie (zumindest) teilweise auch wieder bessern.
  • Axonale Polyneuropathie: Dabei ist das Axon selbst betroffen. Meist geht eine axonale Degeneration der Nerven mit schwerwiegenderen Beschwerden einher und weist eine deutlich schlechtere Prognose auf.

In bestimmten Fällen treten auch beide Formen kombiniert auf, sodass Myelinschicht und Axone gleichermaßen geschädigt sind.

Ursachen und Risikofaktoren

Die alkoholische Polyneuropathie (ICD-10-Code G62.1) entsteht durch chronischen, übermäßigen Alkoholkonsum. Der Alkohol kann die Nerven direkt schädigen. Außerdem führt übermäßiger Alkoholkonsum oft zu einer Mangelernährung, insbesondere zu einem Mangel an B-Vitaminen, die für die Funktion der Nerven unerlässlich sind.

Weitere mögliche Ursachen für Polyneuropathien sind:

  • Metabolische Ursachen: Diabetes mellitus, Hepatopathie, Urämie, Hypothyreose, Hyperurikämie
  • Vaskulitiden
  • Kollagenosen
  • Vitamin B12 Mangel
  • Paraneoplastische Ursachen
  • Critical-illness-PNP
  • Hereditäre Polyneuropathien (HMSN)
  • Toxische Ursachen: Arsen, Blei, Thallium, Quecksilber
  • Medikamentös-toxische Ursachen: Chemotherapeutika (Cisplatin, Thalidomid, Vinblastin, Vincristin), Nitrofurantoin, Amiodaron, Penicillin…
  • Infektiöse Ursachen: Borreliose, CMV, HIV, Hepatitis, FSME, Masern, Mononukleose, Mykoplasmen

Symptome

Die Symptome einer alkoholischen Polyneuropathie entwickeln sich meist langsam und beginnen in den Füßen und Beinen. Typische Symptome sind:

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  • Sensibilitätsstörungen:
    • Pelzigkeitsgefühl, Engegefühl (Manschetten), Gefühl auf Watte zu laufen
    • Überempfindlichkeit auf Reize (Temperatur, Berührung, Schmerz)
    • Hypästhesie (oder auch Pelzigkeitsgefühl ohne Taubheit)
    • Parästhesien (Kribbeln, Ameisenlaufen, Brennen, Stechen)
    • Pallhyp- oder Anästhsie
    • Graph- oder Anästhesie auf Fußrücken (im Verlauf auch der Fingerspitzen)
    • Hyperalgesie (im Verlauf Hyp- oder Analgesie)
    • Thermhyp- oder Anästhesie
    • Gemindertes Spitz-Stumpf Empfinden
    • Beeinträchtigtes Lageempfinden
    • Reduzierte 2-Punkte-Diskrimination
  • Schmerzen: Brennende, stechende oder bohrende Schmerzen, die sich nachts oder in Ruhe verstärken können.
  • Muskelschwäche: Meist symmetrische Paresen vorwiegend der kleinen Fußmuskeln. Hackenstand erschwert. Auch proximale Muskulatur kann betroffen sein.
  • Muskelkrämpfe: Häufig nachts in Ruhe (Crampi).
  • Gangstörung und Gleichgewichtsprobleme: Gangunsicherheit, Ataxie, erschwerter Einbeinstand. Zunahme der Gangunsicherheit im Dunkeln.
  • Autonome Funktionsstörungen:
    • Schwindelgefühl beim Laufen
    • Errektionsstörungen
    • Blasenentleerungsstörungen
    • Orthostatische Dysregulation
    • Hydrosis, trockene Haut

Im fortgeschrittenen Stadium kann es zu Muskelschwund (Atrophie) kommen, insbesondere am M. extensor digitorum brevis. Gelegentlich treten Schwerpunktsneuropathien mit besonderer Affektion einzelner Nerven auf.

Diagnose

Die Diagnose der alkoholischen Polyneuropathie basiert auf der Anamnese (Erhebung der Krankengeschichte), der körperlichen Untersuchung und verschiedenen technischen Untersuchungen.

Anamnese

Der Arzt wird Fragen zum Alkoholkonsum, zu Vorerkrankungen und zu den aktuellen Beschwerden stellen. Wichtig sind Angaben zu:

  • Seit wann bestehen die Nervenschmerzen?
  • Seit wann bestehen die Empfindungsstörungen?
  • Treten die Beschwerden gleichzeitig auf?
  • Leiden Sie an Vorerkrankungen?
  • Welche Medikamente haben Sie zuletzt zu sich genommen?
  • Sind Sie mit giftigen Substanzen in Kontakt gekommen?
  • Traten bei anderen Familienmitgliedern ähnliche Beschwerden auf?
  • Haben sich das Kribbeln, die Missempfindungen oder Schmerzen in letzter Zeit verschlechtert?

Körperliche Untersuchung

Bei der körperlichen Untersuchung achtet der Arzt auf:

  • Reflexe (Abschwächung?)
  • Fehlbildungen des Skeletts (Deformitäten), z.B. Krallenzehen und Hohlfuß
  • Muskelatrophien
  • Muskelfunktionsprüfung, insbesondere Paresen der Fuß- und Zehenextension und -flexion, sowie Prüfung proximaler Muskelgruppen (Aufstehen aus der Hocke)
  • Inspektion der Haut (Hydrosis, trockene Haut?)

Differenzierte Sensibilitätsprüfung inklusive Lageempfinden.

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Technische Untersuchungen

  • Elektrophysiologische Diagnostik:
    • Nervenleitgeschwindigkeitsmessung (NLG): Messung der Nervenleitgeschwindigkeit von Nervus peronaeus und Nervus tibialis mit F-Wellen, Nervus suralis. Bei der Polyneuropathie ist diese Nervenleitgeschwindigkeit meist herabgesetzt.
    • Elektromyografie (EMG): Prüfung der elektrischen Muskelaktivität. Bei motorischen Störungen wie Muskelschwäche oder Muskellähmung lässt sich so herausfinden, ob das Problem beim Muskel selbst oder aber bei den ihn versorgenden Nerven liegt. Ergibt die EMG, dass die Nervenfunktion gestört ist, spricht das für eine Polyneuropathie. Chronische Denervierung (Erhöhte Muskelsummenaktionspotentiale, erhöhte Polyphasierate, Faszikulationen, komple-repetitive Entladungen), floride Denervierung (Spontanaktivität mit positiven scharfen Wellen, Fibrillationen).
    • Evozierte Potentiale (SEP): Tibialis- oder Peronaues-SEP, Medianus- oder Ulnaris-SEP. Abhängig von Lokalisation der Symptomatik.
  • Autonome Funktionsdiagnostik:
    • Herzfrequenzvarianzanalyse
    • Sympathischer Hautreflex
  • Quantitativ sensorische Testung (QST): Insbesondere bei Verdacht auf Small-fibre Polyneuropathie.
  • Laboruntersuchungen:
    • Blutuntersuchungen zur Erkennung häufiger und behandelbarer Ursachen der Nervenschädigung.
      • Erhöhte Entzündungswerte (CRP, weiße Blutkörperchen etc.) können auf eine entzündliche Ursache der Nervenschäden hindeuten.
      • Ein oraler Glukosetoleranztest (oGTT) zeigt an, wie gut der Körper Zucker verarbeiten kann. Auffällige Testergebnisse können auf einen noch unentdeckten Diabetes (oder eine Vorstufe davon) hinweisen. Auch der Nüchternblutzucker ist hierbei sehr aussagekräftig. Bei bekannter Zuckerkrankheit ist vor allem der HbA1c-Wert ("Langzeitblutzucker") wichtig: Er zeigt an, wie gut der Diabetes in den letzten Monaten eingestellt war.
      • Der Vitamin-B12-Status wird gemessen, um zu prüfen, ob eventuell ein Mangel besteht.
      • Liegen die Leber- oder Nierenwerte außerhalb der Norm, wird die Polyneuropathie möglicherweise durch eine Leber- oder Nierenerkrankung verursacht. Dabei können Leberschäden auch durch Alkoholmissbrauch verursacht sein.
      • Besteht der Verdacht, dass eine bestimmte Infektionskrankheit die Polyneuropathie verursacht, sind spezielle Blutuntersuchungen sinnvoll. Beispielsweise lässt sich eine vermutete Borreliose abklären, indem man im Blut des Patienten nach Antikörpern gegen die auslösenden Bakterien (Borrelien) fahndet.
    • Eventuell Liquordiagnostik
    • Eventuell 24h Urin (bei V.a. Intoxikation, Porphyrie)
  • Weitere Untersuchungen:
    • Nervenbiopsie (in bestimmten Fällen)
    • Hautbiopsie (in ausgewählten Fällen)
    • Genetische Untersuchung (wenn es in einer Familie mehrere Fälle von Polyneuropathie gibt oder der Patient bestimmte Fehlstellungen des Fußes (Krallenzehen, Hohlfuß) oder andere Fehlbildungen des Skeletts (wie Skoliose) aufweist)

Behandlung

Die Behandlung der alkoholischen Polyneuropathie zielt in erster Linie auf die Beseitigung der Ursache, also den Alkoholverzicht, und die Linderung der Symptome ab.

Alkoholverzicht

Der wichtigste Schritt ist der konsequente Verzicht auf Alkohol. Dies ermöglicht es den Nerven, sich zu erholen und weitere Schäden zu verhindern. Eine Suchtberatung und -therapie kann dabei helfen, den Alkoholkonsum dauerhaft zu beenden. Rehabilitationsmaßnahmen bei Alkoholismus (Z50.2) können ebenfalls in Betracht gezogen werden.

Vitamin-Substitution

Da Alkoholmissbrauch oft mit einem Mangel an B-Vitaminen einhergeht, ist eine Substitution dieser Vitamine wichtig. Insbesondere Vitamin B1 (Thiamin), Vitamin B6 (Pyridoxin) und Vitamin B12 (Cobalamin) spielen eine wichtige Rolle für die Nervenfunktion.

Schmerztherapie

Schmerzen sind ein häufiges Symptom der alkoholischen Polyneuropathie. Zur Schmerzlinderung können verschiedene Medikamente eingesetzt werden:

  • Schmerzmittel: Nicht-opioide Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Diclofenac können bei leichten bis mittelschweren Schmerzen helfen.
  • Antidepressiva: Bestimmte Antidepressiva wie Amitriptylin oder Duloxetin können neuropathische Schmerzen lindern.
  • Antikonvulsiva: Antikonvulsiva wie Gabapentin oder Pregabalin werden ebenfalls zur Behandlung neuropathischer Schmerzen eingesetzt.
  • Opioide: Opioide sollten nur in schweren Fällen und unter strenger ärztlicher Kontrolle eingesetzt werden, da sie ein hohes Suchtpotenzial haben.

Physiotherapie und Ergotherapie

Physiotherapie und Ergotherapie können helfen, die Muskelfunktion zu verbessern, die Koordination zu schulen und die Selbstständigkeit im Alltag zu erhalten. Krankengymnastik (Z50.1) kann die Beweglichkeit verbessern und Muskelkraft aufbauen.

Weitere Maßnahmen

  • Fußpflege: Regelmäßige Fußpflege ist wichtig, um Verletzungen und Infektionen vorzubeugen.
  • Anpassung von Schuhen: Bequeme Schuhe mit ausreichend Platz für die Zehen können helfen, Druckstellen und Reizungen zu vermeiden.
  • Hilfsmittel: Bei Gangunsicherheit können Gehhilfen oder andere Hilfsmittel die Sicherheit erhöhen.

Behandlung von Begleiterkrankungen

Häufig treten bei Menschen mit alkoholbedingter Polyneuropathie Begleiterkrankungen auf, die ebenfalls behandelt werden müssen. Dazu gehören beispielsweise:

  • Alkoholische Kardiomyopathie: Eine durch Alkohol verursachte Schädigung des Herzmuskels (I42.6).
  • Alkoholische Lebererkrankung: Eine durch Alkohol verursachte Schädigung der Leber (K75.-).
  • Alkoholbedingte Enzephalopathie: Eine durch Alkohol verursachte Schädigung des Gehirns (G31.-).
  • Cushing-Syndrom: Alkoholinduziertes Pseudo-Cushing-Syndrom (E24.-).

Verlauf und Prognose

Der Verlauf und die Prognose der alkoholischen Polyneuropathie hängen von verschiedenen Faktoren ab, darunter:

  • Dauer und Ausmaß des Alkoholkonsums
  • Vorhandensein von Begleiterkrankungen
  • Bereitschaft des Patienten, den Alkoholkonsum einzustellen
  • Frühzeitiger Beginn der Behandlung

Bei konsequentem Alkoholverzicht und frühzeitiger Behandlung können sich die Nerven teilweise erholen und die Symptome verbessern. In einigen Fällen kann es jedoch zu bleibenden Schäden kommen.

ICD-10-Code

Der ICD-10-Code für alkoholische Polyneuropathie ist G62.1. Dieser Code wird in medizinischen Dokumenten verwendet, um die Diagnose zu verschlüsseln.

Hinweis

Diese Informationen dienen nicht der Selbstdiagnose und ersetzen keinesfalls die Beratung durch eine Ärztin oder einen Arzt. Wenn Sie einen entsprechenden ICD-Code auf einem persönlichen medizinischen Dokument finden, achten Sie auch auf Zusatzkennzeichen für die Diagnosesicherheit. Ihre Ärztin oder Ihr Arzt hilft Ihnen bei gesundheitlichen Fragen weiter und erläutert Ihnen bei Bedarf die ICD-Diagnoseverschlüsselung im direkten Gespräch.

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