Die Niederlande haben sich als Vorreiter in der Betreuung von Menschen mit Demenz etabliert. Anstatt die Betroffenen in trostlosen Heimen zu isolieren, setzen innovative Konzepte auf eine liebevolle Inszenierung ihres vertrauten Lebens. Dies führt zu mehr Lebensqualität und reduziert oft den Bedarf an Medikamenten.
Die Niederlande als Vorreiter in der Demenzbetreuung
In Holland wird Demenzkranken ein würdevolles Leben ermöglicht, indem man ihr vertrautes Leben liebevoll inszeniert. Der Grundsatz lautet: Es reicht nicht, dass Menschen, deren Gedächtnis nicht mehr richtig arbeitet, es warm haben, gewaschen werden, genug zu essen bekommen und sonntags zusammen singen. Sie sind Individuen mit Gefühlen, jeden Tag, jede Minute. Sie haben Sehnsüchte, Kummer, Erinnerungen.
Viele Heime in Holland machen die Erfahrung, dass bei moderner Betreuung sehr viel weniger Medikamente verabreicht werden müssen. Holländische Heimleiter machen die Erfahrung, dass die Arzneidosis deutlich verringert werden kann, sobald auf die Vorlieben und Abneigungen der Menschen eingegangen wird.
De Hogeweyk: Ein Dorf für Menschen mit Demenz
Schon vor zehn Jahren wurde in der Nähe von Amsterdam, in Weesp, ein Dorf mit dem Namen "De Hogeweyk" gebaut, das bald für Gesundheitspolitiker und Pflegemanager von nah (Deutschland, Schweiz) und fern (Amerika, China, Indonesien) zur Pilgerstätte wurde. Hier gibt es Gaststätte, Supermarkt, Garten, Friseur, Handwerksschuppen und einen Dorfplatz.
Das Konzept von De Hogeweyk
„Unser Ziel ist, Menschen mit schwerer Demenz ein möglichst normales Leben zu bieten“, sagt Eloy Van Hal, der das Vorzeigedorf ins Leben rief, zur WirtschaftsWoche. Die 152 Bewohner wohnen in 23 Reihenhäusern, die um die verschiedenen Plätze, Gassen und Höfe angeordnet sind. Wie in einer Wohnsiedlung besitzt jedes Haus eine eigene Nummer. Konkret bedeutet das, dass sie zwar in Einzelzimmern wohnen, die aber in kleinen Häusern zu Wohngemeinschaften zusammengeschlossen sind. In der Regel teilen sich jeweils sieben Bewohner ein Wohnzimmer - und eine Betreuerin.
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Diese übernimmt alle Aufgaben des Hauses: Sie wäscht die Wäsche und kocht das Essen, immer möglichst gemeinsam mit den Bewohnern. Vor dem Einkauf wird gemeinsam eine Liste geschrieben, deren einzelne Einkaufswünsche sie dann zusammen mit Bewohnern im Dorf-eigenen Supermarkt erledigt. Jedes Haus verfügt über ein Monatsbudget, von dem es diese Einkäufe bezahlt - und das nicht überschritten werden darf.
Die Häuser sind dabei in vier unterschiedlichen Stilrichtungen eingerichtet: traditionell niederländischen, kosmopolitisch, urban und gehoben klassisch. Entsprechend unterschieden sich auch das Essen oder sogar die Musikauswahl im CD-Regal. Die Bewohner werden nach ihren vorherigen Lebensumständen einer der Wohnformen zugeteilt.
Normalität und Sicherheit
Die Vermeidung von Stress ist für demente Personen entscheidend. Traditionelle Pflegeheime sind in der Regel auf ein effizientes Arbeiten für das Pflegepersonal ausgelegt. Das Außergewöhnliche an „De Hogeweyk“ ist, dass es als Wohnviertel entworfen wurde und nicht als Pflegeheim.
Es gibt es keine Hürden, die die Bewohner nicht bewältigen können. Türen öffnen sich wie von Geisterhand und auch der Fahrstuhl kommt von selbst, denn er hat einen Sensor. Er hat auch Knöpfe, die man drücken kann. Tagsüber stehen bis auf die Eingangspforte alle Türen offen; abends, wenn die Leute ins Bett gehen oder Fernsehen gucken, werden die Wohnungstüren abgeschlossen. Der Nachtdienst überwacht akustisch, ob alles in Ordnung ist und betritt die Wohnungen nur, wenn es nötig ist.
Kritik an Demenzdörfern
Trotz den vielen Vorteilen gibt es auch kritische Stimmen. Allein die Abgrenzung durch einen Zaun werten Kritiker als Freiheitsberaubung. Das widerspreche dem Gedanken der sozialen Teilhabe und Inklusion. Es sei unwürdig, den Menschen eine Illusion vorzugaukeln.
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So existieren unter anderem fiktive Bushaltestellen, welche eine gewisse Realität simulieren sollen, doch an ihnen wird nie ein Bus anhalten. Vor allem Patienten mit Demenz im Anfangsstadium fühlen sich zu Beginn einfach nur eingesperrt. Denn sie durchschauen die Scheinwelt und fühlen sich in ihrer Freiheit beschnitten.
Verbesserungen in der konventionellen Pflege
Den Anstoß, flächendeckend etwas zu ändern, gab ein offener Brief des Schriftstellers Hugo Borst. Er beklagte die katastrophalen Umstände, die er im Heim erlebte, in dem seine Mutter untergebracht war. Im Land wurde nun eine Debatte geführt, in der es um den Umgang mit alten Menschen ging, um die längst vorhandenen psychologischen und gehirnphysiologischen Erkenntnisse dazu. Die Regierung hob die Pflegesätze an und bewilligte unter dem Motto "Dignity and Pride" - "Würde und Stolz" - einen Extra-Etat.
"Leo Polak": Leben wie in einer Familie
Im Pflegeheim "Leo Polak", wo der 75-jährige Harry Klein untergebracht ist, leben die alten Menschen wie in Familien zusammen - immer sechs pro Gruppe. Die Betreuer haben viel Eigenverantwortung. Sie bestimmen, was eingekauft und was unternommen wird. Es geht möglichst unkompliziert zu. Kaffee gibt es nicht nur zu bestimmten Zeiten. Wer gern Kartoffeln schält, kann das tun und so einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten, wer gern spazieren geht, hat hier immerhin einen langen Korridor zur Verfügung, der nicht wie ein steriler Heimflur aussieht, sondern wie eine holländische Straße.
"Sensire Den Ooiman": Erinnerungen durch Milieutherapie
Im "Sensire Den Ooiman" in Doetinchem gibt es einen eigenen Wohnbereich für Demenzkranke. Wer die Eingangshalle betritt, läuft nicht über quietschenden Linoleumboden, sondern über Pflastersteine. Alte Straßenlaternen und Parkbänke erinnern an einen Dorfplatz. Die Demenzpatienten sollen sich hier wohl und wie zu Hause fühlen. So gibt es zum Beispiel keinen zentralen Speisesaal. Stattdessen essen je acht Bewohner zusammen in ihrer Küche im jeweiligen Wohnbereich. Die Bereiche sind nach Straßennamen wie "Dorpsweg" oder "Boslaan" benannt. Auf den Fluren stehen rustikale Kommoden und Topfpflanzen. Im Innenhof gibt es eine Minigolfanlage und einen Gemüsegarten, in dem Bewohner, die körperlich noch fit sind, arbeiten können. In einem angrenzenden Bereich werden ein paar Rehe und Schafe gehalten.
Ein besonderes Element ist der so genannte "Traumbus". Die Idee zu dem so genannten "Traumbus" hatte Tina Lindenhovius. Sie hat sich um die Innenausstattung, die alten Bussitze, das große Lenkrad, die Gepäckablage mit den Koffern und die Filmaufnahmen gekümmert. Viele Bewohner haben ihr Leben in Doetinchem verbracht und verbinden mit den im Video gezeigten Straßen Erinnerungen oder Menschen.
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Technische Hilfsmittel und Innovationen
Der finanzielle und personelle Aufwand ist meist überschaubar. Ein fiktiver Bus, wie es ihn zum Beispiel im "Leo Polak" gibt, ist Teil einer Video-Installation. Wer in die Kulisse einsteigt, sieht Häuser und Landschaften an sich vorbeiziehen und kann glauben, dass er tatsächlich fährt. Oder das "Bike Labyrinth", das bereits in über 1000 Einrichtungen zu finden ist. Hier gaukeln Videos eine Fahrradtour vor. Die Kombination ist geradezu genial: Die alten Menschen sitzen auf einem Trimmrad, während es auf dem Bildschirm quer durch Amsterdam oder durch Haarlem, durch Rom, Paris oder Hongkong geht.
Herausforderungen und Ausblick
Das Problem Demenz wächst, und das in Sprüngen. Zurzeit sind 270.000 Niederländer betroffen, 8,4 Prozent der Einwohner über 64 Jahre. Experten erwarten, dass sich die Zahlen bis 2050 verdoppeln. Allerdings, auch das wurde im Zuge der Diskussion klar: Es geht nicht nur ums Geld, sondern vor allem um die Einstellung.
Die Niederlande gehören zu den Ländern mit einem nationalen Programm zum Umgang mit Demenz. Deutschland plant eine solche Strategie. Im Pflegeheim in Doetinchem hat der vermeintliche Bus mittlerweile sein Ziel erreicht. "Na, da hatten wir einen schönen Trip", sagt Truus scherzhaft.
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