Anästhesie bei Multipler Sklerose: Risiken und Besonderheiten

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die Gehirn und Rückenmark betrifft. Weltweit sind schätzungsweise 2 Millionen Menschen betroffen, in Deutschland geht man von über 120.000 Erkrankten aus. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die MS manifestiert sich durch vielfältige Symptome, abhängig von den betroffenen ZNS-Strukturen. Typische Symptome sind Sensibilitätsstörungen, Parästhesien und Schmerzen.

Operative Eingriffe sind auch bei MS-Patienten notwendig, sei es krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen. Dabei stellt sich die Frage nach den Risiken der Anästhesie. Dieser Artikel beleuchtet die Besonderheiten und Risiken der Anästhesie bei MS-Patienten und gibt Empfehlungen für ein sicheres Vorgehen.

Anästhesie bei MS: Was ist zu beachten?

Vorbereitung ist entscheidend

Wie bei jedem Patienten ist eine sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung vor der Anästhesie unerlässlich. Bei MS-Patienten sind jedoch einige Besonderheiten zu beachten:

  • Krankheitsstadium und -verlauf: Elektive Eingriffe sollten idealerweise in einer stabilen Krankheitsphase oder nach Beginn einer Therapie geplant werden.
  • Begleiterkrankungen: MS-Patienten haben ein erhöhtes Risiko für Atem- oder Schlafstörungen, Herzinsuffizienz und arterielle Verschlusskrankheiten. Diese müssen bei der Wahl des Anästhesieverfahrens berücksichtigt werden.
  • Medikation: Alle eingenommenen Medikamente, insbesondere MS-Medikamente, müssen dem Anästhesisten mitgeteilt werden. Viele MS-Therapeutika können Nebenwirkungen wie Atemwegsinfektionen, Blutbildstörungen oder Leberfunktionsstörungen verursachen, die die Anästhesie beeinflussen können.

Wahl des Anästhesieverfahrens

Grundsätzlich können MS-Patienten sicher mit Allgemein- und Regionalanästhesie versorgt werden. Es gibt keine Evidenz dafür, dass ein bestimmtes Opioid, Injektionsanästhetikum oder inhalatives Anästhetikum einen spezifischen Vorteil hat. Allerdings gibt es einige Aspekte, die bei der Wahl des Verfahrens berücksichtigt werden sollten:

  • Allgemeinanästhesie: Bei der Allgemeinanästhesie ist zu beachten, dass einige MS-Medikamente Wechselwirkungen mit Anästhetika haben können. Beispielsweise schwächt Azathioprin die Wirkung depolarisierender Muskelrelaxanzien ab, während Baclofen die Wirkung sedierender Arzneistoffe verstärkt.
  • Regionalanästhesie: Lokalanästhetika haben ein neurotoxisches Potenzial und sind daher bei Patienten mit vorbestehenden neurologischen Erkrankungen relativ kontraindiziert. Es gibt Fallberichte über eine Verschlechterung der MS-Symptomatik nach Spinalanästhesie. Daher sollten Lokalanästhetika in niedrigen Dosierungen angewendet werden.

Muskelrelaxanzien: Vorsicht geboten

Die multiple Sklerose sowie einige der therapeutischen Medikamente führen zu einem veränderten Ansprechverhalten auf Muskelrelaxanzien. Die Demyelinisierung und Muskelspastik führen zu einer Hochregulation von Azetylcholinrezeptoren mit einer Resistenz gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien sowie einer Hypersensitivität gegenüber Succinylcholin. Bei der Anwendung von Succinylcholin muss insbesondere bei spastischen Paresen die Möglichkeit einer erhöhten Freisetzung von Kalium berücksichtigt werden. Das depolarisierende Muskelrelaxans Succinylcholin wird vermieden.

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Regionalanästhesie: Eine Option?

Die Regionalanästhesie ist ein großes und wichtiges Teilgebiet der Anästhesie und dient der Schmerzausschaltung sowie in manchen Fällen der Blockade der motorischen Innervation. Im Gegensatz zur Allgemeinanästhesie ist der Patient während einer Regionalanästhesie bei Bewusstsein. Die Regionalanästhesie wird vor allem eingesetzt, wenn eine Allgemeinanästhesie zu hohe Risiken für den Patienten birgt.

Es gibt unterschiedliche Formen der Regionalanästhesie:

  • Rückenmarknahe Leitungsanästhesie: Blockade der Nervenwurzeln bzw. Nervenstränge in der Nähe des Rückenmarks.
  • Periphere Leitungsanästhesie: Blockade einzelner peripherer Nerven.
  • Intravenöse Regionalanästhesie nach Bier: Lokalanästhetikum wird in eine zuvor abgebundene Vene injiziert.

Bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen wird die Regionalanästhesie aus forensischen Gründen in einigen Fällen nicht durchgeführt, da eine Verschlechterung dieser Erkrankungen sonst in diesem Zusammenhang gesehen werden kann.

Intraoperative Überwachung

Während der Operation ist eine engmaschige Überwachung der Vitalfunktionen erforderlich, insbesondere bei Patienten mit kardiovaskulärer Komorbidität. Große Blutdruckschwankungen können auch Ausdruck einer autonomen Dysfunktion sein. Demyelinisierte Nervenfasern reagieren empfindlich auf eine Erhöhung der Körpertemperatur.

Postoperative Betreuung

Patienten mit respiratorischen Einschränkungen sind von postoperativen pulmonalen Komplikationen bedroht. Daher ist eine adäquate postoperative Betreuung wichtig.

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Medikamenteninteraktionen: Ein wichtiger Aspekt

Viele MS-Therapeutika können Wechselwirkungen mit Anästhetika haben. Daher ist es wichtig, alle eingenommenen Medikamente dem Anästhesisten mitzuteilen. Einige Beispiele für relevante Interaktionen sind:

  • Azathioprin: Schwächt die Wirkung depolarisierender Muskelrelaxanzien ab.
  • Baclofen: Verstärkt die Wirkung sedierender Arzneistoffe wie Opioide und Benzodiazepine.
  • Fingolimod: Kann zu Bradykardien, AV-Blockierungen und Asystolien führen.
  • Cannabinoide: Werden häufig als Adjuvans bei MS-bedingter Spastik eingesetzt und können die Wirkung von Anästhetika verstärken.

Anästhesie und MS-Schübe: Gibt es einen Zusammenhang?

Einige Betroffene sorgen sich, dass eine Anästhesie ein Auslöser für einen MS-Schub sein könnte. Auch in der Wissenschaft wird dieses Thema diskutiert. Zurzeit gibt es keine Hinweise dafür, dass Anästhesie im Allgemeinen ein auslösender Faktor für eine akute MS-Verschlechterung ist. Aus Sorge auf eine Operation zu verzichten scheint also, nach dem aktuellen Forschungsstand, für MS-Betroffene nicht notwendig.

Gadolinium-Ablagerungen im Gehirn

Gadolinium-haltige Kontrastmittel werden regelmäßig bei MRT-Untersuchungen eingesetzt, um Organe und Gewebe besser sichtbar zu machen. Studien haben gezeigt, dass die wiederholte Anwendung bestimmter, linearer Kontrastmittel-Typen zur Ablagerung von Gadolinium in einem Kerngebiet des Kleinhirns führen kann. Kontrastmittel mit einer ringförmigen, makrozyklischen Struktur scheinen diesen Effekt nicht oder deutlich weniger zu zeigen. Neurologen und Radiologen, die MS-Patienten betreuen, sollten die aktuellen Studienergebnisse im Zuge von kontrastmittelgestützten MRT-Untersuchungen berücksichtigen.

Zahnärztliche Behandlung bei MS

Auch die zahnärztliche Behandlung spielt bei MS-Patienten eine wichtige Rolle. Entzündungen an Zähnen, Zahnfleisch oder tief im Kiefer können einen MS-Schub auslösen oder laufende Therapien unnötig in die Länge ziehen. Deshalb sind Zahnpflege und Zahnputztechniken für einen milderen Krankheitsverlauf umso wichtiger. Eine örtliche Betäubung und das Setzen einer Zahnfüllung stellt noch keine besondere systemische Belastung dar. Bei einer Zahnextraktion hingegen ist Vorsicht geboten, da sie ein Risiko birgt, das in der Immunsuppression begründet liegt.

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