Viele Patienten, die selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) einnehmen, berichten von einem belastenden Gefühl der Abgestumpftheit als Nebenwirkung. Dieses Phänomen, das als "Emotional Blunting" oder emotionale Abgestumpftheit bezeichnet wird, kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen.
Was ist emotionale Taubheit?
Emotionale Taubheit beschreibt eine spürbare Einschränkung im Gefühlsleben, bei der sowohl positive als auch negative Emotionen gedämpft oder ganz ausbleiben. Es handelt sich um ein subjektives Empfinden, dass emotionale Reaktionen reduziert sind oder vollständig fehlen. Emotionale Taubheit unterscheidet sich von Anhedonie (Verlust von Freude und Vergnügen) und Apathie (Motivationsmangel).
Ursachen der emotionalen Taubheit unter Antidepressiva
SSRI und emotionale Abgestumpftheit
Eine häufige Nebenwirkung von SSRI-Antidepressiva ist das Emotional Blunting. Professor Dr. Barbara Sahakian von der University of Cambridge erklärt, dass dies ein Teil der Wirkung sein könnte, da die Medikamente den emotionalen Schmerz von Patienten mit Depressionen reduzieren, aber möglicherweise auch Freude nehmen. Die Abgrenzung zur erwünschten antidepressiven Wirkung ist schwierig, weshalb Abgestumpftheit in Fachinformationen, wie z.B. bei Escitalopram, nicht immer als Nebenwirkung aufgeführt wird.
Forschung zu Escitalopram und Belohnungssensitivität
Eine Studie unter der Leitung von Sahakian untersuchte die Ursachen von Emotional Blunting. 66 gesunde Freiwillige nahmen über drei Wochen entweder 20 mg Escitalopram oder ein Placebo ein. Anschließend wurden Fragebögen ausgefüllt und psychologische Tests durchgeführt, um Lernen, inhibitorische Kontrolle, Exekutivfunktionen, Belohnungsverhalten und Entscheidungsfindung zu prüfen.
Die Ergebnisse zeigten keine signifikanten Unterschiede in den Tests zur kalten Kognition (Aufmerksamkeit, Gedächtnis), aber Unterschiede in der heißen Kognition (Emotionen spielen eine Rolle): Die Escitalopram-Gruppe wies eine geringere Belohnungssensitivität auf. Belohnungsabhängiges Lernen beschreibt die Fähigkeit, durch positive oder negative Folgen der eigenen Handlungen dazuzulernen. Die Forscher vermuten, dass die Unterschiede in der Belohnungsempfindlichkeit nicht nur die emotionale Abgestumpftheit erklären könnten, sondern auch die häufigeren sexuellen Probleme (verringerte Libido, Anorgasmie) in der Escitalopram-Gruppe.
Lesen Sie auch: Alzheimer und Antidepressiva: Was Sie wissen sollten
Serotonin-Syndrom
Das Serotonin-Syndrom entsteht durch einen Überschuss an Serotonin im zentralen Nervensystem, meist durch die Einnahme von Antidepressiva oder Wechselwirkungen verschiedener Medikamente. Es ist ein psychiatrischer und neurologischer Notfall, der lebensbedrohlich verlaufen kann.
Ursachen und Risikofaktoren
Das Serotonin-Syndrom wird durch Medikamente ausgelöst, die serotonerge Vorgänge im Körper beeinflussen, wie Antidepressiva, Amphetamine, Kokain, Mirtazapin, Tramadol und Johanniskraut. Auch der Abbau von Medikamenten im Körper kann gestört werden, was zu einem Serotoninüberschuss führt.
Diagnose und Behandlung
Die Diagnose ist schwierig, da die Symptome vielfältig sind und anderen Krankheitsbildern ähneln können. Die Behandlung umfasst das Absetzen der Medikamente, die das Serotonin-Syndrom verursachen, sowie unterstützende Maßnahmen wie Flüssigkeitszufuhr, Fiebersenkung und Muskelentspannung. In schweren Fällen ist eine intensivmedizinische Überwachung notwendig.
Weitere Ursachen und Risikofaktoren für emotionale Taubheit
- Depression: Emotionale Taubheit kann ein Symptom von Depressionen sein, wobei sowohl positive als auch negative Emotionen reduziert werden.
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): Emotionale Taubheit gehört zu den Kernsymptomen der PTBS, bei der Menschen Gefühle unterdrücken, um sich vor überwältigenden Emotionen zu schützen.
- Schizophrenie: Einige Betroffene leiden neben einem flachen Affekt auch unter subjektiver Gefühllosigkeit.
- Angststörungen: Auch bei Angststörungen kann emotionale Taubheit auftreten.
- Entwicklungstrauma: Traumata in der frühen Kindheit können zu einer dauerhaften Schwächung der Stressresistenz und zu negativen Glaubenssätzen führen, die das Selbstwertgefühl und die Beziehung zur Welt beeinträchtigen.
- Chronischer Stress: Langanhaltender Stress kann zu einer Überaktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse führen, was zu erhöhten Cortisolspiegeln und stressbedingten Veränderungen im Gehirn führen kann.
- Soziale Isolation: Entfremdung von der Gesellschaft und Isolation können zu Depressionen und emotionaler Taubheit führen.
Auswirkungen emotionaler Taubheit im Alltag
Emotionale Taubheit kann das tägliche Leben erheblich beeinträchtigen:
- Soziale Beziehungen: Schwierigkeiten beim Aufbau und der Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Kontakte.
- Beruf und Alltag: Unsicherheiten und Leistungsabfälle, da Entscheidungen weniger auf intuitiven Gefühlsreaktionen basieren.
- Selbstwahrnehmung: Verlust des eigenen emotionalen Erlebens kann zu Identitätsfragen und einem Gefühl der inneren Leere führen.
Prävention und Früherkennung
- Regelmäßige Selbstreflexion: Beobachtung der eigenen emotionalen Reaktionen.
- Sensibilisierung: Thematisierung von Emotionen und deren Wahrnehmung in Schulen und Workshops.
- Screening-Tools: Psychologische Fragebögen zur Früherkennung emotionaler Taubheit.
- Regelmäßige ärztliche Checks: Gezieltes Fragen nach dem Empfinden von Gefühllosigkeit, insbesondere bei psychopharmakologischer Behandlung.
Behandlungsansätze bei emotionaler Taubheit
Die Behandlung emotionaler Taubheit kann eine Herausforderung sein und erfordert oft einen individuellen Ansatz.
Lesen Sie auch: Neue Therapieansätze bei Depressionen
Medikamentöse Behandlungen
- Anpassung der Medikation: In einigen Fällen kann eine Anpassung der Antidepressiva-Dosis oder ein Wechsel des Medikaments helfen, die emotionale Abgestumpftheit zu reduzieren.
- Agomelatin: Agomelatin wirkt auf das dopaminerge und noradrenerge System und kann eine gute Wahl sein, da es die negativen Emotionen verbessert und die Lebensfreude wiedererlangen lässt. Studien haben gezeigt, dass Agomelatin im Vergleich zu SSRI/SNRI eine klare Überlegenheit bei der Anhedonie aufweist und seltener zu emotionalem Blunting führt.
- Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer): MAO-Hemmer können in einigen Fällen wirksam sein, insbesondere bei atypischen Depressionen mit Anhedonie.
Psychotherapeutische Behandlungen
- Traumaorientierte Therapie: Ein traumaorientierter Ansatz kann helfen, traumatische Erfahrungen und frühkindliche Erlebnisse zu verarbeiten, die zur emotionalen Taubheit beitragen.
- Körperpsychotherapie: Körperpsychotherapie kann helfen, den Kontakt zum eigenen Körper wiederherzustellen und unterdrückte Emotionen zu lösen.
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): KVT kann helfen, dysfunktionale Denkmuster und Verhaltensweisen zu verändern, die zur emotionalen Taubheit beitragen.
- Achtsamkeitstraining: Achtsamkeitstraining kann helfen, die eigenen Emotionen bewusster wahrzunehmen und anzunehmen.
- Soziale Interaktion: Aktive Teilnahme an sozialen Aktivitäten und der Aufbau unterstützender Beziehungen können helfen, soziale Isolation zu überwinden und das Gefühl der Verbundenheit zu stärken.
Lebensstil-Strategien
- Regelmäßige Bewegung: Sport und körperliche Aktivität können die Stimmung verbessern und die Belohnungssensitivität erhöhen.
- Gesunde Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung kann die Gehirnfunktion unterstützen und die Stimmung stabilisieren.
- Ausreichend Schlaf: Ausreichend Schlaf ist wichtig für die psychische Gesundheit und kann die emotionale Regulation verbessern.
- Stressmanagement: Techniken zur Stressbewältigung wie Yoga, Meditation oder Atemübungen können helfen, Stress abzubauen und die emotionale Widerstandsfähigkeit zu stärken.
Absetzen von Antidepressiva
Viele Patient:innen haben nach Besserung ihrer Beschwerden den Wunsch, ihr Antidepressivum abzusetzen. Dieser Wunsch wird oft durch mögliche Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, emotionale Abgestumpftheit oder sexuelle Probleme verstärkt.
Absetzsymptome vs. Rückfall
Beim Herabdosieren oder Absetzen von Antidepressiva können belastende Beschwerden auftreten, die als Absetzsymptome bezeichnet werden. Diese können grippeähnliche Symptome, Übelkeit, Schlafstörungen, Sensibilitätsstörungen und auch Reizbarkeit, Ängste und gedrückte Stimmung umfassen. Es ist wichtig, Absetzsymptome von einem depressiven Rückfall zu unterscheiden.
Langsames Ausschleichen
Ein langsames Ausschleichen der Antidepressiva kann helfen, Absetzsymptome zu minimieren. Der Absetzprozess sollte in kleinen Schritten sehr langsam und ausgedehnt stattfinden.
Erwartungseffekte
Erwartungseffekte spielen eine wichtige Rolle bei Absetzbeschwerden. Negative Erwartungen können das Auftreten von belastenden Beschwerden begünstigen (Noceboeffekt). Eine patientenzentrierte Aufklärung kann helfen, individuelle Erwartungen an den Absetzprozess zu optimieren.
Lesen Sie auch: Antidepressiva und Gehirnfunktion
tags: #antidepressiva #emotionale #taubheit #ursachen