Antidepressiva sind eine wichtige Säule in der Behandlung von Depressionen, einer psychischen Erkrankung, von der bis zu zehn Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens betroffen sind. Obwohl sie häufig verschrieben werden, sind die genauen Wirkmechanismen von Antidepressiva lange Zeit nicht vollständig verstanden worden. Die Forschung hat jedoch in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht und neue Einblicke in die komplexen Prozesse geliefert, die durch diese Medikamente im Gehirn ausgelöst werden.
Die Geschichte der Antidepressiva
Die Entwicklung von Antidepressiva begann in den 1950er Jahren mit der klinischen Anwendung von Iproniazid (einem Monoaminoxidase-Hemmer oder MAO-Hemmer) und Imipramin (einem trizyklischen Antidepressivum oder TZA). Iproniazid wurde ursprünglich zur Behandlung von Tuberkulose eingesetzt, wobei festgestellt wurde, dass es auch die Stimmung der Patienten deutlich verbesserte. Imipramin wurde 1956 zufällig entdeckt. Später wurde in Laborstudien gezeigt, dass diese Medikamente die synaptischen Konzentrationen von Serotonin und Noradrenalin erhöhen, weshalb angenommen wurde, dass diese Effekte für die antidepressive Wirkung verantwortlich sind.
Traditionelle Theorien der Antidepressiva-Wirkung
Seit den 1960er Jahren wurde angenommen, dass Depressionen durch einen Mangel an bestimmten Botenstoffen wie Serotonin oder Noradrenalin im Gehirn verursacht werden. Die meisten Antidepressiva, insbesondere die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs), wirken, indem sie den Abbau dieser Botenstoffe verlangsamen und so ihre Konzentration im synaptischen Spalt erhöhen. Diese Theorie wurde jedoch zunehmend in Frage gestellt, da die klinische Verbesserung der Symptomatik oft erst nach Tagen bis Wochen eintritt, obwohl die Erhöhung der Monoaminfunktion bereits innerhalb von Stunden nach der Verabreichung erfolgt.
Neue Erkenntnisse über die Wirkmechanismen von Antidepressiva
Neuere Forschungen haben gezeigt, dass Antidepressiva nicht nur die Konzentration von Neurotransmittern beeinflussen, sondern auch andere wichtige Prozesse im Gehirn beeinflussen, insbesondere die Neuroplastizität. Die Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich an neue Erfahrungen anzupassen und neue Verbindungen zwischen Nervenzellen zu bilden. Es wird angenommen, dass diese Fähigkeit bei depressiven Patienten vermindert ist.
Der Einfluss auf den BDNF-Rezeptor
Eine aktuelle Studie von Forschern des Universitätsklinikums Freiburg hat gezeigt, dass Antidepressiva an einer bisher unbekannten Stelle an Nervenzellen andocken und so ihre stimmungsaufhellende Wirkung entfalten. Indem sie an den Rezeptor des sogenannten Brain Derived Neurotrophic Factor (BDNF) binden, kommt es zu einer verbesserten Aktivität in Hirnregionen, die bei depressiven Patienten beeinträchtigt sind. Diese Wirkweise war besonders effektiv, wenn der Cholesterinspiegel im Blut normal war.
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Die Rolle der synaptischen Plastizität
Die Forscher zeigten, dass Antidepressiva über den BDNF-Rezeptor in einen zentralen Lern- und Anpassungsmechanismus des Gehirns eingreifen, der als synaptische Plastizität bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass das Gehirn durch die Stimulation des BDNF neue, positive Informationen aus der Umwelt oder bei Psychotherapien wieder besser aufnehmen und sich aus seinem depressiven Zustand erholen kann.
Die Bedeutung des Cholesterinspiegels
Interessanterweise benötigt die Bindungsstelle am BDNF-Rezeptor einen normalen Cholesterinspiegel, um optimal aktiv werden zu können. Wie das Team zeigte, verformen hohe, aber auch zu niedrige Cholesterinspiegel den BDNF-Rezeptor, so dass die Wirkstoffe schlechter binden.
Der Einfluss auf den Kalziumtransport
Eine weitere Studie des Universitätsklinikums Freiburg hat gezeigt, dass Antidepressiva zusätzlich den Kalziumtransport in Nervenzellen des Gehirns blockieren. Dadurch können die Zellen leichter neue Verknüpfungen zu anderen Nervenzellen bilden. Diese Vernetzbarkeit ist elementar, um sich an neue Reize und Stress anpassen zu können. Bei Depressionen ist diese Fähigkeit vermindert.
Die Rolle von Ceramiden
Andere Forscher haben die Rolle bestimmter Lipide, so genannter Ceramide, bei der Zellneubildung im Gehirn untersucht. Sie fanden heraus, dass ein erhöhter Ceramid-Spiegel die Neubildung von Neuronen im Gehirn beeinträchtigt. Interessanterweise konnten sie zeigen, dass viele der bereits bekannten Antidepressiva die saure Sphingomyelinase (ASM) hemmen, ein Enzym, das für die Entstehung von Ceramid verantwortlich ist, und so die Ceramid-Spiegel im Gehirn reduzieren können.
Verschiedene Arten von Antidepressiva und ihre Wirkmechanismen
Es gibt verschiedene Arten von Antidepressiva, die sich in ihren Wirkmechanismen und Nebenwirkungen unterscheiden. Zu den wichtigsten Gruppen gehören:
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Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs)
SSRIs wirken, indem sie selektiv die Serotonin-Wiederaufnahme im synaptischen Spalt hemmen, wodurch die Konzentration an Serotonin erhöht wird. Sie sind gut verträglich und wirken antidepressiv, antriebssteigernd und anxyolytisch. Neben ihrem Einsatz bei Depressionen werden sie deshalb auch gerne zur Therapie von Angst- und Panikstörungen sowie bei posttraumatischer Belastungsstörung eingesetzt.
Trizyklische Antidepressiva (TZAs)
TZAs blockieren die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin im synaptischen Spalt. Sie blockieren jedoch auch muskarinische Acetylcholin-, Histaminrezeptoren sowie α1-Adrenorezeptoren und können daher zu Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Obstipation, Schlafstörungen und hypotonen Kreislaufstörungen führen.
Selektive Noradrenalin-/Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (SNDRIs)
SNDRIs hemmen die Wiederaufnahme von Noradrenalin/Norepinephrin und Dopamin im synaptischen Spalt und haben strukturelle Ähnlichkeit mit den Amphetaminen. Wirkstoffe dieser Gruppe werden hauptsächlich zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie zur Behandlung von Depressionen eingesetzt.
Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs)
SNRIs hemmen selektiv die Wiederaufnahme von Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt. Ein Beispiel für ein SNRI ist Reboxetin. Der Wirkstoff wird zur Behandlung akuter depressiver Episoden eingesetzt.
Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRIs)
SSNRIs weisen ein duales Wirkprinzip auf und inhibieren die Rückaufnahme der Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt. Alle SSNRIs sind für die Behandlung einer Major Depression zugelassen. Venlafaxin und Duloxetin können darüber hinaus auch zur Therapie von Angsstörungen angewendet werden.
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Tetrazyklische Antidepressiva (NaSSAs)
Tetrazyklische Antidepressiva wirken nicht über eine Blockade der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin. Ein Beispiel hierfür ist die tetrazyklische Verbindung Mirtazapin, das α2-Adrenozeptoren blockiert und dadurch die Freisetzung von Noradrenalin bewirkt. Weiterhin blockiert Mirtazapin, 5-HT2A- und 5-HT2C-Rezeptoren und erhöht so die Noradrenalin- und Dopaminfreisetzung in kortikalen Regionen. Die Substanzen wirken stimmungsaufhellend und sedierend.
Monoaminoxidase-Hemmer (MAO-Hemmer)
MAO-Hemmer inhibieren die Monoaminoxidase-Enzyme, die Monoamine durch Desaminierung abbauen. Durch die Inhibition dieser Enzyme wird dann der Abbau von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin gehemmt. Die MAO-Hemmer lassen sich in selektive, nichtselektive sowie reversible oder irreversibele Inhibitoren einteilen.
Johanniskraut
Extrakte aus Johanniskraut (Hypericum perforatum) haben sich bei der Behandlung leichter bis mittelschwerer Depressionen in klinischen Studien als wirksam erwiesen.
Ketamin
Es konnte gezeigt werden, dass eine Einzeldosis des Anästhetikums Ketamin, ein nicht kompetitiver NMDA-Antagonist (N-Methyl-D-Aspartat), eine schnelle antidepressive Wirkung innerhalb von Stunden hervorruft. Diesen Effekt ruft der Wirkstoff sogar bei Patienten hervor, die nicht auf zwei oder mehr typische Antidepressiva angesprochen haben (z. B. SSRI oder SNRI). Das Esketamin-Nasenspray (Spravato) ist indiziert bei Erwachsenen mit therapieresistenter Major Depression, die in der aktuellen mittelgradigen bis schweren depressiven Episode auf mindestens zwei antidepressive Therapien nicht angesprochen haben.
Die Rolle der Neuroplastizität bei der Antidepressiva-Wirkung
In den heutigen Vorstellungen sind adaptive Veränderungen auch an den Strukturen der Nervenzelle und einen wichtigen Aspekt des Phänomens Neuroplastizität darstellen, der Eigenschaft unseres Nervensystems, sich Phasen veränderter Aktivität anpassen zu können. Dies betrifft funktionelle Einschränkungen, besonders aber Phasen erhöhter Aktivität, wie sie besonders auch nach chronischem Stress auftreten, der als Risikofaktor für depressive Störungen gilt. Neuroplastizität umfasst praktisch alle Bereiche der Informationsübertragung im Gehirn. Diese betreffen neben Veränderungen der Signaltransduktion (Rezeptor- bzw. Transporter-Dichte bzw. -Funktion), die postsynaptischen Feinstrukturen (Spine-Struktur und Spine-Dichte), aber auch Veränderungen von Neuritenlänge und Neuritenverzweigung und die in wenigen hippocampalen Strukturen mögliche Neusynthese von Nervenzellen (Neurogenese). Man geht heute daher davon aus, dass Veränderungen auf der Ebene der Neuroplastizität die eigentliche Ursache der sich langsam ausbildenden antidepressiven Wirkung praktisch aller Antidepressiva sind, wobei die initialen Angriffspunkte sehr unterschiedlich sein können. Ebenfalls unterschiedlich können die intrazellulären Signalwege sein, die dann letztlich, bevor es zu den eigentlichen histologisch fassbaren Veränderungen kommt, den Transkriptionsfaktor pCREP als gemeinsame Endstrecke aktivieren. Dieser führt dann seinerseits zur Synthese neurotropher Faktoren (besonders BDNT) und damit zum Anstoßen von Neuroplastizitätsphänomenen. Die gemeinsame Endstrecke erklärt, dass sich die Substanzen in der finalen antidepressiven Wirksamkeit wahrscheinlich nicht wesentlich unterscheiden.
Die Bedeutung des Kontexts für die Antidepressiva-Wirkung
Neuere Forschungen betonen die Bedeutung des Kontexts für die Antidepressiva-Wirkung. Antidepressiva wirken nicht nur zentral, sondern haben auch direkte periphere Effekte, wie unter anderem neue Untersuchungen am Darmmikrobiom gezeigt haben. Entzündliche Prozesse in und außerhalb des zentralen Nervensystems beeinflussen die Wirksamkeit von Antidepressiva. Im Sinne einer bidirektionalen Beziehung haben Antidepressiva gleichzeitig entzündungshemmende Wirkungen. Ein gesunder Körper ist aus dieser Perspektive essenziell für die Remission unter antidepressiven Substanzen.
Unerwünschte Wirkungen und Wechselwirkungen von Antidepressiva
Viele der bereits früh nach erster Anwendung einsetzenden unerwünschten Wirkungen von Antidepressiva sind eine Folge der verstärkten Monoaminübertragung in Gegenwart von Rezeptoren, die hochreguliert wurden, um ein relatives Monoamindefizit auszugleichen. Antidepressiva werden durch eine Reihe von CYP-Enzymen (am häufigsten CYP2D6, 1A2 und 3A4) metabolisiert und können daher mit Arzneimittel interagieren, die diese Metabolisierungswege hemmen oder induzieren. Darüber hinaus sind einige Antidepressiva selbst Inhibitoren von CYP-Enzymen und besitzen daher das Potenzial, die Plasmaspiegel anderer Medikamente zu erhöhen. Ein Beispiel für eine Wechselwirkung mit Antidepressiva ist die gemeinsame Anwendung von Fluoxetin mit Amitriptylin.
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