Strychnin: Wirkung und Mechanismus an der Synapse

Strychnin ist ein Alkaloid, das aus den Samen der Brechnuss (Nux vomica) gewonnen wird. Es ist bekannt für seine stark erregende Wirkung auf das zentrale Nervensystem (ZNS), einschließlich des Rückenmarks. In höheren Dosen führt es zu Krämpfen und wurde früher als Rattengift verwendet. Aufgrund der Gefahr von Konvulsionen hat es heute keine therapeutische Bedeutung mehr.

Strychnin und seine Wirkung auf Glycin-Rezeptoren

Strychnin wirkt als Antagonist an Glycin-Rezeptoren. Glycin ist ein wichtiger inhibitorischer Neurotransmitter im ZNS, insbesondere im Rückenmark. Glycin-Rezeptoren sind für die spinale Kontrolle des Muskeltonus von entscheidender Bedeutung. Durch die Blockade dieser Rezeptoren durch Strychnin werden Hemmungssysteme im ZNS unterdrückt, was zu einer erhöhten Erregbarkeit führt.

Die Blockade der Glycin-Rezeptoren durch Strychnin führt zu einer Enthemmung der motorischen Systeme, was sich in einer gesteigerten Muskelaktivität und Krämpfen äußert. Strychnin wirkt auch bahnend auf gamma-motorische Systeme, was die Muskelspannung zusätzlich erhöht.

In subkonvulsiven Dosen wurde bei Ratten eine Verbesserung des Behaltens festgestellt. Dies führte dazu, dass Strychnin als Testsubstanz in der tierexperimentellen Gedächtnisforschung und Neurophysiologie eingesetzt wurde.

Grundlagen der neuronalen Signalübertragung

Um die Wirkung von Strychnin auf synaptischer Ebene besser zu verstehen, ist es wichtig, die Grundlagen der neuronalen Signalübertragung zu betrachten.

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Die Nervenzelle (Neuron)

Die Nervenzelle (Neuron) ist die grundlegende Einheit des Nervensystems und für die Informationsübertragung verantwortlich. Sie besteht aus einem Zellkörper (Soma), Dendriten und einem Axon. Das Axon ist ein langer,Fortsatz, der Signale von der Zelle wegtransportiert.

Das Axon ist häufig von Schwann'schen Zellen umgeben, die eine isolierende Myelinscheide bilden. Diese besteht zu 80 % aus Lipiden und 20 % aus Proteinen und dient nicht nur dem mechanischen Schutz, sondern beschleunigt auch die Informationsweiterleitung. Ohne die Myelinscheide wäre die Informationsübertragung im Nervensystem etwa 100-mal langsamer.

An den Enden der Axonverzweigungen befinden sich bläschenförmige Verdickungen, die synaptischen Endknöpfchen. Sie bilden mit anderen Nerven-, Muskel-, Sinnes- oder Drüsenzellen Kontaktstellen, die als Synapsen bezeichnet werden.

Die Nervenzellmembran und das Ruhepotenzial

Die Nervenzellmembran ist eine selektiv permeable Biomembran, die das Zellinnere von der Umgebung abgrenzt. Sie besteht aus einer Lipid-Doppelschicht, die für Ionen grundsätzlich undurchlässig ist. Deshalb gibt es spezielle Membranproteine, die als Ionenkanäle für Natrium (Na⁺), Kalium (K⁺) oder Chlorid (Cl⁻) dienen.

Das Ruhepotenzial ist der elektrische Normalzustand einer Nervenzelle mit etwa -70 mV (Zellinneres negativ). Dieser Zustand bildet die Grundlage für den neuronalen Binärcode: 0 = Ruhepotenzial, 1 = Aktionspotenzial. Ionen bewegen sich immer entlang zweier Kräfte: dem Konzentrationsgefälle (chemischer Gradient) und dem elektrischen Gradienten.

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Im Ruhezustand herrscht in der Nervenzelle eine charakteristische Ionenverteilung: Innen befinden sich hauptsächlich K⁺-Ionen und organische Anionen (A⁻), während außen vor allem Na⁺- und Cl⁻-Ionen dominieren. Mehrere Faktoren halten das Ruhepotenzial aufrecht:

  • Der Diffusionsdruck für Kalium (K⁺) nach außen wird durch den gegenläufigen elektrischen Gradienten ausgeglichen.
  • Es gibt deutliche Unterschiede in der Membranpermeabilität - viele K⁺-Kanäle sind geöffnet, während nur wenige Na⁺-Kanäle offen stehen.
  • Die Natrium-Kalium-Pumpe spielt eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung des Ruhepotenzials. Pro ATP-Molekül transportiert sie drei Na⁺-Ionen aus der Zelle hinaus und zwei K⁺-Ionen hinein.

Das Aktionspotenzial

Das Aktionspotenzial ist der fundamentale Mechanismus der neuronalen Signalübertragung. Das Alles-oder-Nichts-Gesetz besagt, dass ein Aktionspotenzial entweder vollständig ausgebildet wird oder gar nicht entsteht.

Aktionspotenziale werden bei marklosen Nervenfasern kontinuierlich, bei markhaltigen Fasern jedoch saltatorisch (springend) zwischen den Ranvier'schen Schnürringen weitergeleitet. Nach einem Aktionspotenzial tritt die Refraktärzeit ein - ein Zeitfenster, in dem die Na⁺-Kanäle blockiert sind und kein neues Aktionspotenzial ausgelöst werden kann. Man unterscheidet zwischen der absoluten Refraktärzeit (keine Erregung möglich) und der relativen Refraktärzeit (ein stärkerer Reiz kann ein schwächeres Aktionspotenzial auslösen).

Bei marklosen Nervenfasern sind die spannungsgesteuerten Kanäle gleichmäßig über die Membran verteilt. Die Weiterleitung erfolgt durch elektrotonische Ausbreitung (Kriechstrom): Das Aktionspotenzial an einer Stelle depolarisiert benachbarte Membranbereiche, wodurch neue Aktionspotenziale entstehen.

Bei markhaltigen Nervenfasern erfolgt die Erregungsleitung deutlich effizienter durch saltatorische Erregungsleitung (von lat. saltare = springen). Da nur an den Ranvier'schen Schnürringen Aktionspotenziale entstehen können, "springt" die Erregung von Schnürring zu Schnürring. Die saltatorische Erregungsleitung ist nicht nur etwa 100-mal schneller als die kontinuierliche Leitung, sondern spart auch enorm viel Energie, da Aktionspotenziale nur an den Schnürringen erzeugt werden müssen.

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Synapsen und Neurotransmission

Synapsen sind spezialisierte Kontaktstellen zwischen Nervenzellen und nachfolgenden Zellen. Je nach verbundenen Zelltypen unterscheidet man interneuronale (Neuron-Neuron), neuromuskuläre (Neuron-Muskel), neuroglanduläre (Neuron-Drüse) und Rezeptorsynapsen (Sinneszelle-Neuron).

Bei der häufigeren chemischen Synapse wird das elektrische Signal in ein chemisches umgewandelt. Wenn ein Aktionspotenzial das synaptische Endknöpfchen erreicht, öffnen sich spannungsgesteuerte Ca²⁺-Kanäle. Der Calcium-Einstrom bewirkt, dass Vesikel mit Neurotransmittern zur präsynaptischen Membran wandern und ihren Inhalt in den synaptischen Spalt freisetzen.

Nach der Signalübertragung werden die Neurotransmitter von Enzymen abgebaut (z.B. Acetylcholin durch Acetylcholinesterase) und zurück ins Endknöpfchen transportiert, wo sie resynthetisiert werden. Die wichtigsten Neurotransmitter sind Acetylcholin, Dopamin, Serotonin, Glutamat, GABA und Noradrenalin.

Synapsen unterscheiden sich nicht nur in der Art ihrer Neurotransmitter (Aminosäuren, Monoamine, Peptide oder Gase), sondern auch in ihrer Wirkung. Bei elektrischen Synapsen liegen die Membranen der prä- und postsynaptischen Zelle sehr eng beieinander und sind durch Gap Junctions (porenbildende Proteine) verbunden.

Die Codierung von Reizen in neuronale Signale erfolgt durch Umwandlung der Reizstärke in spezifische Erregungsmuster. Je stärker und länger ein Reiz wirkt, desto höher ist das Rezeptorpotenzial und desto mehr Aktionspotenziale werden ausgelöst.

Eine einzelne Nervenzelle kann bis zu 10.000 synaptische Verbindungen mit anderen Neuronen eingehen. Die ankommenden Signale - sowohl erregende (EPSP) als auch hemmende (IPSP) - werden am Axonhügel verrechnet.

Strychnin und die Beeinflussung der synaptischen Inhibition

Wie bereits erwähnt, blockiert Strychnin die Wirkung von Glycin an Glycin-Rezeptoren. Glycin-Rezeptoren sind ligandengesteuerte Ionenkanäle, die selektiv für Chloridionen (Cl⁻) sind. Wenn Glycin an den Rezeptor bindet, öffnen sich die Kanäle und Cl⁻-Ionen strömen in die Zelle ein. Dies führt zu einer Hyperpolarisation der Membran, wodurch die Zelle weniger erregbar wird.

Durch die Blockade der Glycin-Rezeptoren verhindert Strychnin die Cl⁻-Ionen Einstrom und somit die Hyperpolarisation der postsynaptischen Zelle. Dies führt zu einer Enthemmung und einer erhöhten Erregbarkeit der Nervenzellen. Die Folge ist eine gesteigerte Muskelaktivität, die sich in Krämpfen äußern kann.

Glyzin als hemmender und erregender Neurotransmitter

Interessanterweise wirkt die einfachste aller Aminosäuren, das Glyzin, als hemmender und erregender Neurotransmitter, indem sie an hemmende Glyzinrezeptoren (GlyR) beziehungsweise erregende NMDA-Rezeptoren (NMDAR) bindet.

Der für Chloridionen selektive inhibitorische GlyR im Rückenmark von Säugern besteht aus einem fünf Untereinheiten umfassenden membranständigen Rezeptorkomplex und ist maßgeblich an der spinalen Kontrolle des Muskeltonus beteiligt. Seine Blockade durch das kompetitiv zur Glyzinbindung wirkende pflanzliche Alkaloid Strychnin und bei neurologischen Erkrankungen (hereditäre Hyperekplexie) auftretende Mutationen in GlyR-Genen resultieren in Muskelkrämpfen (Myoklonien).

Der exzitatorische NMDA-Rezeptor ist ein im ZNS weit verbreiteter Vertreter der aus vier Untereinheiten bestehenden Glutamatrezeptor-Familie und benötigt die simultane Bindung der Transmitter-Aminosäuren Glutamat und Glyzin für die Kanalaktivierung. Er besitzt eine hohe Leitfähigkeit für Ca2+-Ionen und stellt eine der molekularen Grundlagen der Plastizität des Nervensystems, d.h. seiner Fähigkeit zu Veränderung und Anpassung, und damit letztlich von Lernvorgängen dar.

Der exzitatorische Glyzinrezeptor

Neuere Untersuchungen ergaben, dass Glyzin auch in Abwesenheit von Glutamat als alleiniger Agonist an einem bestimmten NMDA-Rezeptor wirken kann, der im Gegensatz zum klassischen Strychnin-sensitiven, hemmenden GlyR als „exzitatorischer Glyzinrezeptor“ bezeichnet wurde. Im Gegensatz zum „klassischen“ NMDAR, der aus zwei Glyzin-bindenden NR1- und zwei Glutamat-bindenden NR2-Untereinheiten besteht, enthält der exzitatorische Glyzinrezeptor anstatt der NR2-Untereinheiten Glyzin-bindende NR3-Untereinheiten.

Da die Koexpression einer NR3-Untereinheit mit der Glyzin-bindenden NR1-Untereinheit im Gegensatz zu den klassischen NR1/NR2-Rezeptoren nur sehr kleine und rasch desensitisierende Rezeptorströme produziert, wurde die Existenz so genannter „exzitatorischer“ Glyzinrezeptoren jahrelang in Frage gestellt. In einer ersten Studie wurde der Zusammenbau der NR1- und NR3-Untereinheiten zum funktionellen Rezeptor untersucht.

Die Untersuchungen zeigten, dass die NMDARs des sog. „exzitatorischen Glyzinrezeptortyps“ aus einer Kombination von je zwei Glyzin-bindenden NR1- und NR3-Untereinheiten bestehen. Ziel weiterer Studien war die pharmakologische Charakterisierung dieser Rezeptoren mittels biochemischer und elektrophysiologischer Analysemethoden.

Die Rolle von Zink (Zn2+) bei der Glyzin-vermittelten Signalübertragung

Das zweiwertige Kation Zn2+ ist aufgrund seiner ubiquitären Beteiligung an vielen biologischen Reaktionen ein essenzielles Spurenelement im Körper; es erfüllt vielfältige Aufgaben als Kofaktor von Proteinen. Im Gehirn ist Zn2+ massiv in erregenden Neuronen einer bestimmten Hirnregion (Hippocampus) angereichert, die besonders stark NMDARs exprimiert und eine wichtige Rolle bei der Gedächtnisbildung, bei Emotionen und Lernvorgängen spielt.

Neueste Untersuchungen belegen auch eine Anreicherung von Zn2+ in den synaptischen Endigungen inhibitorischer Neurone, die eine starke Expression von GlyRs zeigen. In der Arbeitsgruppe von Betz und Laube konnte mit Zn2+ eine starke Potenzierung der hemmenden Glyzinantwort in kultivierten Neuronen nachgewiesen werden.

Um die physiologische Bedeutung der Zn2+-Regulation in der glyzinergen Signalübertragung im Gehirn von Säugern auf synaptischer Ebene zu belegen, wurde in genetisch modifizierten Mäusen durch Mutation der Zn2+-Bindungsstelle der GlyR Zn2+-insensitiv gemacht. Der Verlust der Zn2+-Bindung führt in der genetisch veränderten Maus zu Krämpfen, einem erhöhten Muskeltonus und einer verstärkten Schreckreaktion, die sich in einer ungewöhnlichen Verspannung der Hinterbeine widerspiegelt. Diese Symptome ähneln denen einer Strychninvergiftung und der menschlichen Erbkrankheit Hyperekplexie und sind konsistent mit einer Reduktion der Glyzin-vermittelten neuronalen Hemmung. Elektrophysiologische Messungen an Hirnschnitten bestätigten, dass die Erkrankung der Maus auf den Verlust der Zn2+-Wirkung am GlyR zurückzuführen ist. Diese Ergebnisse zeigten zum ersten Mal, dass Zn2+ ein wichtiger endogener Regulator bei der hemmenden glyzinergen synaptischen Erregungsübertragung im Gehirn ist.

Zink und der exzitatorische Glyzinrezeptor

In vielen Arbeiten war gezeigt worden, dass Zn2+-Konzentrationen im niedrigen mikromolaren Bereich beim klassischen NMDAR eine Hemmung der Glutamat-verursachten Erregbarkeit von Nervenzellen bedingt. Die Wissenschaften fanden, dass diese Zn2+-Hemmung des klassischen NR1/NR2-Rezeptors nach dem enzymatischen Abschneiden der sog. N-terminalen Domäne der NR1-Untereinheit aufgehoben ist.

In einer weiteren Studie wurde die Wirkung von Zn2+ auf die Glyzin-aktivierten Ströme von NR1/NR3-Rezeptoren untersucht. Dabei wurde gefunden, dass mikromolare Zn2+-Konzentrationen die Glyzin-induzierten Ströme der Rezeptoren um den Faktor 10 erhöhen. Höhere Zn2+-Konzentrationen führten wie Glyzin zu einer Aktivierung von NR1/NR3-Rezeptoren. Erstaunlicherweise bewirkte in Anwesenheit von Zn2+ die gemeinsame Applikation von Glyzin und einem NR1-Antagonisten eine 125-fache, „supralineare“ Potenzierung des Glyzin-aktivierten Rezeptorstromes.

Die neuen Erkenntnisse über das Aktivierungsverhalten von NR1/NR3-Rezeptoren lassen weiterhin vermuten, dass Zn2+ neben Glyzin für die Aktivierung von nativen NR1/NR3-Rezeptoren physiologisch von wesentlicher Bedeutung sein könnte.

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