Atemtechniken sind ein wirkungsvolles Mittel, um das vegetative Nervensystem zu beeinflussen und somit das Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung wiederherzustellen. Dieses System, das auch als autonomes Nervensystem bekannt ist, steuert lebenswichtige Körperfunktionen wie Atmung, Verdauung und Stoffwechsel, ohne dass wir bewusst eingreifen müssen. Es besteht aus zwei Hauptkomponenten: dem Sympathikus, der den Körper in einen Zustand der Aktivierung versetzt, und dem Parasympathikus, der für Entspannung und Erholung zuständig ist. Durch bewusste Atemkontrolle können wir diese beiden Zweige des Nervensystems aktiv beeinflussen, um Stress abzubauen, Ruhe zu fördern oder den Körper zu beleben.
Ursprung und wissenschaftliche Grundlage von Atemtechniken
Atemtechniken haben ihre Wurzeln in alten Traditionen wie dem Yoga. Dort werden sie im Rahmen von Pranayama-Übungen praktiziert, um Körper und Geist in Einklang zu bringen. Diese Techniken sind heute wissenschaftlich gut erforscht, und ihre positiven Auswirkungen auf das Nervensystem, die Herzratenvariabilität (HRV) und die allgemeine Gesundheit sind belegt.
Wie das vegetative Nervensystem funktioniert
Das vegetative Nervensystem (VNS) steuert viele lebenswichtige Körperfunktionen wie Atmung, Verdauung und Stoffwechsel. Es sorgt dafür, dass sich die Organfunktionen schnell an wechselnde Anforderungen anpassen. Das VNS besteht aus drei Teilen:
- Sympathikus: Bereitet den Körper auf körperliche und geistige Leistungen vor, indem er Herzfrequenz und Atmung beschleunigt und die Darmtätigkeit hemmt.
- Parasympathikus: Kümmert sich um Körperfunktionen in Ruhe, Regeneration und Aufbau körpereigener Reserven. Er aktiviert die Verdauung und sorgt für Entspannung.
- Eingeweidenervensystem: Befindet sich in der Darmwand und kümmert sich um die Verdauung, indem es die Bewegung der Darmmuskulatur erhöht, die Flüssigkeitsausscheidung steigert und die Durchblutung der Darmwand fördert.
Sympathikus und Parasympathikus wirken im Körper als Gegenspieler und ergänzen sich bei manchen Funktionen.
Atemtechniken zur Entspannung und Balance
Die folgenden Atemtechniken können dir helfen, je nach Bedarf Entspannung zu finden oder deinen Energiepegel zu steigern:
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1. Kohärente Atmung (Resonanzatmung)
- Vorgehen: Atme 5 Sekunden ein und 5 Sekunden aus, ohne Pause dazwischen.
- Anwendungsbereich: Diese Technik fördert die Herzratenvariabilität und beruhigt das Nervensystem. Sie ist ideal, um Stress abzubauen und innere Balance zu finden. Du kannst sie jederzeit und überall praktizieren, besonders in Momenten von Anspannung oder Unruhe.
2. Box-Atmung
- Vorgehen:
- Atme 4 Sekunden lang ein.
- Halte den Atem für 4 Sekunden.
- Atme 4 Sekunden lang aus.
- Halte den Atem für 4 Sekunden.
- Anwendungsbereich: Die Box-Atmung ist eine hervorragende Methode, um den Geist zu beruhigen und den Fokus zu schärfen. Sie wird häufig von Soldaten und Sportlern genutzt, um in stressigen Situationen einen klaren Kopf zu bewahren.
3. 4-7-8 Atmung (Beruhigungsatmung)
- Vorgehen:
- Atme 4 Sekunden lang ein.
- Halte den Atem 7 Sekunden an.
- Atme 8 Sekunden lang aus.
- Anwendungsbereich: Diese Technik ist besonders wirksam bei Stress und Angstzuständen. Sie fördert Entspannung und hilft beim Einschlafen. Eine regelmäßige Anwendung kann helfen, Stress nachhaltig zu reduzieren.
4. Zwerchfellatmung (Bauchatmung)
- Vorgehen:
- Atme tief in den Bauch ein, sodass sich der Bauch hebt.
- Langsam ausatmen, bis der Bauch sich wieder senkt.
- Anwendungsbereich: Diese Atemtechnik aktiviert den Parasympathikus, der den Körper in einen Ruhezustand bringt. Sie fördert tiefe Entspannung und kann bei Stressabbau und innerer Ruhe helfen.
Atemtechniken zur Energetisierung und Fokussierung
5. Wechselatmung (Nadi Shodhana)
- Vorgehen:
- Verschließe ein Nasenloch und atme durch das andere ein.
- Wechsel das Nasenloch für die Ausatmung.
- Anwendungsbereich: Diese Technik bringt die Energiekanäle im Körper ins Gleichgewicht und fördert Ruhe, Konzentration und Ausgeglichenheit. Sie kann vor wichtigen Aufgaben oder zur Entspannung am Ende des Tages genutzt werden.
6. Feueratem (Kapalabhati)
- Vorgehen:
- Atme tief ein und dann kraftvoll durch die Nase aus, während du die Bauchmuskeln anziehst.
- Die Einatmung erfolgt passiv.
- Anwendungsbereich: Diese kraftvolle Atemtechnik belebt den Körper, reinigt die Lungen und stärkt die Lungenkapazität. Ideal, um morgens den Tag energetisch zu beginnen oder zwischendurch für neue Energie zu sorgen.
7. Summen-Atem (Bhramari Pranayama)
- Vorgehen:
- Atme tief ein.
- Summe beim Ausatmen mit geschlossenem Mund.
- Anwendungsbereich: Diese Technik wirkt beruhigend und hilft, Ängste und negative Gedanken zu reduzieren. Sie ist besonders gut geeignet, um Stress abzubauen und sich auf einen erholsamen Schlaf vorzubereiten.
8. Tiefes Seufzen
- Vorgehen:
- Atme tief ein.
- Seufze sanft aus, während du entspannt die Luft loslässt.
- Anwendungsbereich: Diese Technik ist eine einfache, aber effektive Methode, um Spannungen und Stress im Moment abzubauen. Sie fördert die sofortige Entspannung und kann überall angewendet werden.
Atemtechniken zur Regulierung von Herzfrequenz und Entspannung
9. 4-6-4 Atmung
- Vorgehen:
- Atme 4 Sekunden ein.
- Halte den Atem für 6 Sekunden an.
- Atme für 4 Sekunden aus.
- Anwendungsbereich: Diese Technik stabilisiert die Herzfrequenz und fördert tiefe Entspannung. Sie ist besonders gut geeignet, um innere Ruhe zu finden und den Stress des Tages hinter sich zu lassen.
Die Bedeutung der Ausatmung
Eine einfache Möglichkeit, das vegetative Nervensystem aktiv zu beruhigen, besteht darin, die Ausatmung im Vergleich zur Einatmung zu verlängern. Dies kann jederzeit im Alltag geübt werden, z. B. beim Spazierengehen, vor dem Einschlafen oder in der Schlange an der Kasse. Atme beispielsweise zwei Sekunden ein und vier Sekunden aus oder drei Sekunden ein und sechs Sekunden aus. Wiederhole dies einige Male und finde heraus, was für dich am besten funktioniert.
Wechselatmung für innere Balance
Eine weitere Übung ist die Wechselatmung. Sie hat eine beruhigende Wirkung und hilft, zu innerem Gleichgewicht, Ruhe und Kraft zu finden. Sie hilft, die Lungenkapazität zu erhöhen, ist ein gutes Training für Herz und Kreislauf, eignet sich auch bei Allergien, Heuschnupfen, Asthma und wirkt vorbeugend gegen Erkältung. Auch hier ist es wichtig, die Ausatmung doppelt so lang wie die Einatmung zu gestalten.
So funktioniert die Wechselatmung (Nadi Shodhana):
- Setze dich aufrecht und entspannt auf eine weiche Unterlage. Die linke Hand ruht auf dem linken Knie, die Finger der rechten Hand legst du in ein sogenanntes „Mudra“. Zeigefinger und Mittelfinger sind dabei gebeugt und liegen in der Handinnenfläche, die anderen Finger sind ausgestreckt.
- Führe nun die rechte Hand zur Nase. Verschließe mit deinem Daumen das rechte Nasenloch und atme links ein (4 Sekunden).
- Verschließe nun mit dem Ringfinger das linke Nasenloch und öffne dann das rechte Nasenloch und atme rechts langsam und vollständig aus (8 Sekunden).
Technologische Unterstützung: Atem-Apps
Heutzutage gibt es viele kostenfreie Apps, die die Nutzung von Atemtechniken unterstützen. In diesen Apps kannst du verschiedene Atemzeiten und Techniken einstellen und dir so einen Rhythmus vorgeben lassen, dem du leicht folgen kannst. Diese Apps bieten visuelle und akustische Hinweise, die besonders hilfreich sind, um Atemübungen korrekt und entspannt durchzuführen. Sie sind eine großartige Ergänzung, um Atemtechniken einfach in den Alltag zu integrieren und die regelmäßige Praxis zu fördern.
Dauer und Selbstbeobachtung
Die Dauer der Atemtechniken kann stark variieren - sie kann von ein paar Wiederholungen bis hin zu mehreren Minuten gehen. Wichtig ist, dass du während der Übung auf die Veränderungen in deinem Körper achtest. Achte darauf, wie sich dein Atem vertieft, deine Muskeln entspannen oder deine Gedanken ruhiger werden. Diese Selbstbeobachtung ist entscheidend, um zu spüren, wie der Atem deinen Körper und Geist beeinflusst. Über die Zeit wirst du lernen, diese subtilen Veränderungen besser wahrzunehmen und die Techniken gezielt einzusetzen.
Die Rolle der Atmung im vegetativen Nervensystem
Das vegetative Nervensystem besteht unter anderem aus dem Nervus vagus, der eine beruhigende Wirkung hat, und dem Nervus sympathikus, der aktivierend auf den Körper wirkt. Zur Beruhigung kann folgende Technik wirksam sein: Versuche, über einen Zeitraum von 5 bis 10 Minuten täglich die Atemzüge auf 6 pro Minute zu reduzieren, und zwar in einem Zeitverhältnis von 1 zu 3-4 (Ein-/Ausatmen).
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Atmung und Herzfrequenzvariabilität (HRV)
Die Atmung hat einen direkten Einfluss auf die Herzfrequenz. Mit dem Einatmen stimulieren wir unseren Sympathikus, mit dem Ausatmen den Parasympathikus. Diese Fluktuation der Herzfrequenz aufgrund der Atmung wird als respiratorische Sinusarrhythmie (RSA) bezeichnet. Die HRV gibt die Variation des zeitlichen Abstands zweier aufeinander folgender Herzschläge an und ist ein Indikator für einen gesunden Menschen mit einer guten Anpassungsfähigkeit sowie funktionierenden Kontrollmechanismen des vegetativen Nervensystems.
Integration der Atmung in den Alltag
Unabhängig davon, in welcher Situation man sich gerade befindet, in Ruhe oder im Rahmen einer sehr leichten Aktivitäten, sollte man nach Möglichkeit immer durch die Nase atmen. Atmen wir durch die Nase, so werden wir automatisch zu einer etwas ruhigeren und tiefen Atmung übergehen und daher auch die Aktivität unseres Parasympathikus fördern. Zudem führt Nasenatmung dazu, dass wir in den gesamten Brustkorb und Bauch Atmen und somit optimal unser Zwerchfell einsetzen. Dies verstärkt nicht nur die Effekte auf unseren Parasympathikus, sondern kann sich daher auch positiv auf unsere Beweglichkeit, Mobilität und Stabilität auswirken.
Kohärente Atmung für Sportler
Eine tiefe sowie kontrollierte Atmung sollte Bestandteil eines jeden Cool Downs sein und kann auch bei einem Wettkampf eingesetzt werden, um möglichst schnell zu regenerieren. Wer dazu neigt, übermäßig nervös vor einem Workout, Event, Match etc. zu sein, kann auch hier von der kohärenten Atmung profitieren.
Stress und Atmung
Stress ist ein alltägliches Phänomen, das Gefühle negativer Anspannung, innerer Unruhe oder gar Überforderung auslösen kann. Unser Körper reagiert darauf mit erhöhter Herzfrequenz, steigendem Blutdruck und beschleunigter Atmung. Indem man sich die bewusste Atmung bei Stress zu Nutze macht, kann man gezielt einen Entspannungseffekt herbeiführen.
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