Benzodiazepine und das Demenzrisiko: Eine umfassende Analyse

Benzodiazepine sind weit verbreitete Medikamente, die häufig zur kurzfristigen Behandlung von Angststörungen und Schlaflosigkeit eingesetzt werden. Gerade bei älteren Patienten werden sie in vielen europäischen Ländern oft großzügig und entgegen den Leitlinienempfehlungen auch chronisch verschrieben. Aufgrund ihres erheblichen Suchtpotenzials sollten diese psychotropen Substanzen jedoch nur nach strenger Indikationsstellung eingesetzt werden. Die kurzfristigen negativen Auswirkungen von Benzodiazepinen auf die kognitiven Fähigkeiten sind bekannt, doch die langfristigen Nebenwirkungen sind umstritten. Insbesondere wird ein Zusammenhang mit einem erhöhten Demenzrisiko vermutet.

Studienlage und Kontroversen

Frühere Studien zu diesem Thema lieferten widersprüchliche Ergebnisse. Während die Mehrheit ein erhöhtes Risiko unter Benzodiazepinen feststellte, zeigten einige auch ein erniedrigtes Risiko. Ein Problem bei der Interpretation dieser unterschiedlichen Daten liegt darin, dass die Symptome, gegen die Benzodiazepine verordnet werden - wie Angststörungen, Insomnie und depressive Störungen - häufig auch zu Beginn einer neurodegenerativen Erkrankung auftreten können.

Aktuelle Forschungsergebnisse

Prospektive Kohortenstudie

Eine prospektive Kohortenstudie untersuchte den Zusammenhang zwischen der Einnahme von Benzodiazepinen und dem Auftreten von Demenz. Die Probanden stammten aus der PAQUID-Kohorte, einer Langzeitstudie zum Alterungsprozess des Gehirns, die von 1987 bis 1989 in Südwestfrankreich begann und von 2007 bis 2009 abgeschlossen wurde. Für die aktuelle Studie wurden die Daten von 1063 Männern und Frauen ausgewertet, die frühestens drei Jahre nach Studienbeginn (T3) erstmals Benzodiazepine einnahmen und zu Studienbeginn (T0) sowie bei einer Kontrolluntersuchung fünf Jahre später (T5) nicht an Demenz erkrankt waren. Zu Studienbeginn waren die Studienteilnehmer durchschnittlich 78,2 Jahre alt.

Die Expositionsgruppe umfasste Probanden, die im Zeitraum zwischen T3 und T5 erstmals Benzodiazepine einnahmen, während die Referenzgruppe aus Probanden bestand, die bei T0, T3 und T5 keine Benzodiazepine anwandten. Berücksichtigt wurden alle Benzodiazepine und verwandte Substanzen, die im Studienzeitraum in Frankreich verfügbar waren. Über einen Zeitraum von 20 Jahren wurden alle zwei bis drei Jahre Kontrolluntersuchungen durch Neuropsychologen durchgeführt. Das primäre Studienergebnis war das Auftreten einer neu diagnostizierten Demenz.

Bei der Kontrolluntersuchung nach fünf Jahren gaben 95 (8,9 %) der 1063 Probanden eine Benzodiazepin-Einnahme an. In dieser Expositionsgruppe waren die Probanden häufiger alleinstehend, depressiv und nahmen Antihypertensiva oder Antikoagulanzien ein. Bezüglich Alter, Geschlecht oder Diabeteshäufigkeit gab es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Gruppen.

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Im gesamten Studienzeitraum erkrankten 253 Teilnehmer an Demenz, darunter 30 (32 %) unter den Benzodiazepin-Anwendern und 223 (23 %) unter den Nichtanwendern. Im Vergleich zu den Nichtanwendern war der Beginn der Benzodiazepin-Einnahme zwischen den Jahren 3 und 5 nach Studienbeginn mit einem signifikant höheren Risiko verbunden, an Demenz zu erkranken (Hazard-Ratio [HR] 1,60; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,08-2,38). Dieses Ergebnis blieb auch nach Berücksichtigung depressiver Symptome bestehen.

Eine eingebettete Fall-Kontroll-Studie zeigte, dass Patienten, die irgendwann im Laufe ihres Lebens Benzodiazepine einnahmen, ein um 50 % erhöhtes Demenzrisiko hatten (adjustiertes Odds-Ratio 1,55; KI 1,24-1,95).

Kanadische Fallkontrollstudie

Eine kanadische Studie untersuchte ebenfalls die Korrelation zwischen der Einnahme von Benzodiazepinen und der Diagnose Alzheimer-Demenz (AD), deren Prodromalsymptomen (Angstzustände, Insomnie, depressive Störung) sowie der kumulativen Benzodiazepindosis. Positive Dosiskorrelationen werden im Allgemeinen als Hinweise auf kausale Zusammenhänge gedeutet.

Es wurden drei Kategorien entsprechend den durchschnittlichen Tagesdosen (TD) gebildet: kumulativ 1-90 TD (≤ 3 Monate), kumulativ 91-180 TD (3-6 Monate) und kumulativ > 180 TD (> 6 Monate).

Aus der Datenbank der staatlichen Krankenversicherung RAMQ Quebec wurden 1.796 Personen (> 66 Jahre) mit der Diagnose AD, über die mindestens für sechs Jahre vor Diagnose vollständige studienrelevante Informationen vorlagen, mit 7.184 Kontrollen (> 66 Jahre) ohne AD-Diagnose in Bezug auf Alter, Geschlecht und andere Eigenschaften verglichen (Fall zu Kontrolle 1:4). Die Verordnung von Benzodiazepinen war mit einer um 51 % erhöhten Rate von AD assoziiert (adjustierte Odds Ratio [OR]: 1,51; 95-%-Konfidenzintervall [KI]: 1,36-1,69), wobei ein erhöhtes Risiko erst ab 91-180 TD (OR: 1,32; 95-%-KI: 1,01-1,74) und > 180 TD (OR: 1,84; 95-%-KI: 1,62-2,08) erkennbar war. Die Unterschiede für das AD-Risiko zwischen Usern und Non-Usern waren hochsignifikant (p < 0,001). Bei langwirkenden Benzodiazepinen (Halbwertszeit [HWZ] ≥ 20 h) war die OR für AD höher als bei kürzerer HWZ (OR: 1,70 versus 1,43).

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Die Forscher vermuten, dass die langfristige Verordnung von Benzodiazepinen die Aktivierung „kognitiver Reserven“ verhindern und so die Manifestation der Alzheimererkrankung beschleunigen könnte.

Retrospektive Kohortenstudie zu Angststörungen

Eine retrospektive Kohortenstudie untersuchte den Zusammenhang zwischen der Einnahme von Benzodiazepinen, Angststörungen und Demenz. Dafür wurden die Krankenakten von 72.496 Probanden, die mindestens 65 Jahre alt waren, aus dem Zeitraum von 2014 bis 2021 analysiert.

Die Ergebnisse zeigten, dass Probanden mit einer diagnostizierten Angststörung verglichen mit gesunden Probanden ein 19 % höheres Risiko hatten, an Demenz zu erkranken. Die Einnahme von Benzodiazepinen erhöhte das Demenzrisiko um 28 %, unabhängig von Angststörungen. Besonders die Langzeitbehandlung wurde mit einem erhöhten Demenzrisiko in Verbindung gebracht. Interessanterweise zeigten Patienten mit einer diagnostizierten Angststörung, die Benzodiazepine einnahmen, kein erhöhtes Risiko für eine Demenz.

Die Forscher betonten, dass weitere Forschung erforderlich ist, um eindeutige Aussagen treffen zu können. Es sollte untersucht werden, ob Benzodiazepine für Patienten mit Angststörungen im Gegensatz zu anderen Anxiolytika eventuell ein besseres Nutzen-Risiko-Verhältnis in Bezug auf Demenz bieten. Des Weiteren sollten die Ursachen zwischen Angststörungen und dem Demenzrisiko untersucht werden, da ältere Patienten häufig eine Angststörung entwickeln.

Einfluss von Psychopharmaka auf die Kognition

Forschende aus Kanada und Irland haben untersucht, wie sich Psychopharmaka auf die Kognition älterer Erwachsener auswirken. Sie fanden Hinweise darauf, dass die gemeinsame Einnahme von Benzodiazepinen und bestimmten Antidepressiva zu einem kognitiven Abbau bei älteren Erwachsenen führte, die zuvor keine kognitiven Beeinträchtigungen hatten. Die Untersuchung zeigte, dass gesunde Personen ohne anfängliche kognitive Beeinträchtigungen ein höheres Risiko für kognitiven Abbau haben, wenn sie Antidepressiva einnehmen, verglichen mit Personen, die bereits kognitive Beeinträchtigungen hatten. Der Einfluss von Benzodiazepinen auf einen kognitiven Rückgang war hingegen gering, wie mehrere der analysierten Studien zeigten. Bei einer Kombination von Psychopharmaka wurde bei der Anwendung von Antipsychotika und Benzodiazepinen ein signifikanter kognitiver Rückgang beobachtet. Unter den kognitiv gesunden Teilnehmenden, die „länger wirksame Benzodiazepine“ einnahmen, wurden häufiger Demenzdiagnosen gestellt als in der Vergleichsgruppe.

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Benzodiazepine bei Agitation

Bei älteren Menschen mit schwerer Agitation geht es immer wieder auch um die Herausforderung, in bestimmten Situationen rasch für Beruhigung zu sorgen, wenn nicht-medikamentöse Maßnahmen versagen. Eine Studie untersuchte Antipsychotika der ersten (Haloperidol, Droperidol) und zweiten Generation (Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon) sowie Benzodiazepine (Lorazepam, Midazolam). Insgesamt traten bei 16,8 % aller behandelten Patient:innen unerwünschte Ereignisse auf. Besonders auffällig war das Risiko unter Midazolam: Über die Hälfte der älteren Menschen (53 %) entwickelte Komplikationen, mit einer fünffach erhöhten Wahrscheinlichkeit gegenüber Haloperidol. Lorazepam lag hier deutlich niedriger, blieb aber nicht ohne Nebenwirkungen. Für die Praxis heißt das: Benzodiazepine sollten bei älteren Patienten mit schwerer Agitation nur mit großer Vorsicht eingesetzt werden. Wenn medikamentöse Beruhigung unumgänglich ist, kann Quetiapin aufgrund seines vergleichsweise niedrigen Nebenwirkungsrisikos eine gute Alternative zu Haloperidol sein.

Wirkmechanismen und Mikroglia

Forscher der LMU und des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen konnten im Tiermodell nachweisen, dass Benzodiazepine zum Verlust von Nervenverbindungen im Gehirn führen. Eine zentrale Rolle spielen dabei Immunzellen des Gehirns, sogenannte Mikroglia. Benzodiazepine binden an ein bestimmtes Protein - das Translokatorprotein (TSPO) - auf der Oberfläche von Zellorganellen der Mikroglia. Diese Bindung aktiviert die Mikroglia, die dann Synapsen, also Verbindungen zwischen Nervenzellen, abbauen und recyceln. Experimente zeigten, dass der Synapsenverlust bei Mäusen, die mehrere Wochen lang täglich eine schlaffördernde Dosis des Benzodiazepins Diazepam erhalten hatten, zu kognitiven Beeinträchtigungen führte. Nach Absetzen von Diazepam hielt der Effekt noch länger an, war letztlich aber reversibel. Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte die Studie Auswirkungen auf die Behandlung von Schlafstörungen und Angstzuständen bei Menschen mit einem Demenzrisiko haben. „Medikamente, von denen bekannt ist, dass sie keine Affinität zu TSPO haben, sollten, wenn möglich, bevorzugt werden“, so die Autoren.

Einschränkungen und Interpretationen

Es ist wichtig zu betonen, dass die Studienlage keinen eindeutigen Kausalzusammenhang zwischen der Einnahme von Benzodiazepinen und der Entstehung von Demenz beweist. Viele Studien liefern keine Angaben zur Benzodiazepin-Dosierung und zur Dauer des Konsums, wodurch eine Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht untersucht werden kann. Trotz einer zeitlichen Verzögerung zwischen erstmaliger Benzodiazepin-Einnahme und Demenzdiagnose kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Benzodiazepine gegen Frühsymptome einer neurodegenerativen Erkrankung wie Schlaflosigkeit und Angststörungen verordnet wurden.

Zudem bergen Benzodiazepine gravierende Nebenwirkungen wie eine erhöhte Sturz- und Frakturgefahr, was wiederum zu Immobilität und Unselbstständigkeit mit einem erhöhten Demenzrisiko führen kann.

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