Spätfolgen der Hirnbestrahlung: Ein umfassender Überblick

Die Strahlentherapie ist eine wichtige Behandlungsmethode bei Krebserkrankungen, insbesondere bei Hirntumoren und Metastasen im Gehirn. TrotzFortschritten in der Bestrahlungstechnik, die eine präzisere Ausrichtung der Strahlung auf das Tumorgewebe ermöglichen, ist eine Exposition des umliegenden gesunden Gewebes unvermeidlich. Dies kann zu einer Reihe von Spätfolgen führen, die sich Monate oder sogar Jahre nach der Behandlung manifestieren können. Da die Überlebensraten von Krebspatienten stetig steigen, gewinnt das Verständnis und das Management dieser Spätfolgen zunehmend an Bedeutung. Es ist wichtig zu beachten, dass die meisten kleinen Leukämiepatienten später ein normales Leben führen, Hirntumoren und ihre Behandlung jedoch oft schwere und vielschichtige Spätfolgen nach sich ziehen.

Pathogenese der Spätfolgen

Späte Strahleneffekte sind komplexe Reaktionen, die Veränderungen im Parenchym, den Binde- und Gefäßgewebskomponenten sowie im Immunsystem umfassen. Diese Effekte sind mit wenigen Ausnahmen irreversibel und fortschreitend, was bedeutet, dass sich ihr Schweregrad im Laufe der Zeit verschlimmern kann.

Zelluläre und gewebliche Veränderungen

Die Strahlenexposition kann verschiedene zelluläre und gewebliche Veränderungen auslösen, darunter:

  • Inaktivierung von Parenchymzellen: Strahlenexposition kann Parenchymzellen in jedem Organ inaktivieren.
  • Endothelzellschädigung: Endothelzellvakuolisierung und Endothelablösung können schon zu sehr frühen Zeitpunkten beobachtet werden, gefolgt vom Endothelzelltod. Zudem finden sich ein subendotheliales Ödem und die Bildung von Thromben. Dies geht einher mit einer Leukozytenadhäsion und -infiltration in die Gefäßwand.
  • Teleangiektasien: Diese werden in praktisch allen bestrahlten Geweben und Organen beobachtet und beruhen auf der Schädigung der Endothelzellen in Verbindung mit dem Verlust von glatten Muskelzellen bei größeren Kapillaren und Venen.
  • Fibrose: In mitotischen Fibroblasten wird durch Strahlenexposition die Differenzierung zu postmitotischen Fibrozyten induziert, mit der Folge einer drastisch erhöhten Kollagensynthese. Makrophagen, bestrahlt oder nach Bestrahlung rekrutiert, tragen ebenfalls signifikant zu den relevanten Signalkaskaden bei.

Jede dieser Komponenten reagiert dosisabhängig auf die Strahlenexposition, und das Zusammenspiel dieser Reaktionen bestimmt die Gesamtdosisantwort für verschiedene klinische Endpunkte. Die Latenzzeiten für chronische Strahlenfolgen sowie die Progressionsrate sind invers dosisabhängig.

Spezifische Spätfolgen im Gehirn

Das Nervensystem gilt im Allgemeinen als relativ unempfindlich gegenüber Strahlung. Eine Schädigung kann jedoch schwerwiegende Folgen haben. Die wichtigsten Strahlensyndrome im zentralen Nervensystem entwickeln sich einige Monate bis mehrere Jahre nach der Therapie. Einige Reaktionen, die innerhalb der ersten 6 Monate auftreten können, umfassen eine vorübergehende Demyelinisierung („Somnolenzsyndrom“) oder eine Leukenzephalopathie. Die typische Strahlennekrose kann nach 6 Monaten, aber auch noch nach 2-3 Jahren auftreten. Histopathologisch sind Veränderungen, die innerhalb des ersten Jahres auftreten, meist auf die weiße Substanz beschränkt. Das Gehirn von Kindern ist empfindlicher als bei Erwachsenen. Funktionelle Defizite, wie eine Abnahme des Intelligenzquotienten (IQ), können zumindest teilweise der Strahlentherapie nach kombinierten Behandlungsprotokollen zugeschrieben werden.

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Neurokognitive Funktionseinschränkungen

Neurokognitive Funktionseinschränkungen sind eine der Hauptsorgen von Patienten und Ärzten nach einer Hirnbestrahlung. Betroffen sind vor allem das verbale und nonverbale Gedächtnis, die Fähigkeit zur Problemlösung, die Aufmerksamkeit und die Verarbeitungsgeschwindigkeit von Informationen. Diese Einschränkungen können bereits vier Monate bis Jahre nach der Radio(chemo-)therapie auftreten und sind meist irreversibel.

Das Risiko für neurokognitive Einschränkungen wird durch folgende Faktoren erhöht:

  • Einzeldosen von mehr als 2 Gy bei konventioneller Strahlentherapie
  • Antiepileptische Therapie
  • Chemotherapie
  • Einnahme von BRAF-Inhibitoren
  • Sehr junges oder höheres Lebensalter

Besonders bedeutsam ist das Risiko neurokognitiver Einschränkungen im Kontext der prophylaktischen Hirnbestrahlung beim Lungenkarzinom.

Hirnnekrosen

Hirnnekrosen in tumorfreiem Hirngewebe sind seit der Einführung von IMRT/VMAT und stereotaktischer RT seltener geworden (weniger als 1 %). Im Hochdosisbereich einer Tumor- oder Metastasentherapie tritt eine Nekrose dosis-, fraktions- und volumenabhängig zehn Monate bis circa drei Jahre nach Therapie bei 1-12 % der Patienten auf. Die Symptomatik ist fokal und wird durch die neuroanatomische Lokalisation bestimmt. Bei raumfordernder Wirkung können Hirndruckzeichen auftreten.

Cerebelläres Mutismussyndrom

Bei Kindern, die wegen Tumoren der hinteren Schädelgrube behandelt werden, kann das zerebelläre Mutismussyndrom auftreten. Dieses Syndrom ist durch eine verminderte oder fehlende Sprachproduktion gekennzeichnet und kann von weiteren neurologischen Symptomen begleitet sein.

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Vaskuläre Komplikationen

Die Hirnbestrahlung kann auch das Risiko für vaskuläre Komplikationen wie Schlaganfälle erhöhen. Studien haben gezeigt, dass Kinder, die eine Hirnbestrahlung erhalten haben, ein erhöhtes Risiko für zerebrovaskuläre Erkrankungen haben.

Weitere spezifische Strahlenfolgen

Neben den Auswirkungen auf das Gehirn kann die Strahlentherapie auch andere Organe und Gewebe beeinträchtigen.

Kardiotoxizität

Kardiale Toxizitäten nach mediastinaler Bestrahlung umfassen die koronare Herzerkrankung (KHK), Kardiomyopathie, Herzklappenerkrankungen, Störungen des Reizleitungssystems sowie Perikarderkrankungen. Die Höhe und Lokalisation der applizierten Dosis bestimmen Art und Ausmaß der klinischen Folgen sowie die Latenzzeit.

Lungentoxizität

Die subakute Pneumonitis und chronische Lungenfibrose sind mögliche Nebenwirkungen einer Bestrahlung im Thoraxbereich. Die Pneumonitis kann in eine Lungenfibrose übergehen. Inzidenz und Schweregrad der Pneumonitis hängen von der Höhe der applizierten Dosis, vom durchstrahlten Lungenvolumen und von der Dosis pro Fraktion ab.

Endokrine Störungen

Eine Bestrahlung des Schädels kann durch die mögliche Beeinträchtigung der Hormondrüsen im Gehirn (Hypothalamus, Hypophyse) die Hormonfunktionen beeinträchtigen. Durch die Schädelbestrahlung kann gelegentlich die Produktion des Wachstumshormons sowie anderer Hormone der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) eingeschränkt sein. Zu letzteren gehören auch Hormone, die die Funktion der Schilddrüse und die Bildung der Sexualhormone steuern.

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Fertilitätsstörungen

Eine Standard-Chemotherapie, wie sie bei ALL-Patienten eingesetzt wird (nicht Stammzelltransplantation), hat selten langfristige Auswirkungen auf die Fortpflanzungsfähigkeit. Im Allgemeinen sind die Keimzellen von Jungen gefährdeter als die von Mädchen. Eine Bestrahlung des Schädels kann durch die mögliche Beeinträchtigung der Hormondrüsen im Gehirn (Hypothalamus, Hypophyse) die Fruchtbarkeit ebenfalls beeinträchtigen.

Zweittumoren

Nach einer Chemotherapie ist das Risiko erhöht, zu einem späteren Zeitpunkt an einem zweiten bösartigen Tumor zu erkranken. Das gilt insbesondere dann, wenn zusätzlich eine Bestrahlung des Gehirns erfolgt. Die häufigsten Zweitkrebserkrankungen nach einer ALL sind akute myeloische Leukämien (AML) und Tumoren des Zentralnervensystems, seltener Lymphome und Schilddrüsenkrebs.

Moderne Bestrahlungstechniken zur Minimierung von Spätfolgen

Moderne Bestrahlungstechniken zielen darauf ab, die Strahlenexposition des Normalgewebes zu verringern, um die Toxizität zu reduzieren oder die tumorwirksame Dosis bei gleicher Toxizität zu erhöhen. Zu diesen Entwicklungen gehören:

  • Intensitätsmodulierte Radiotherapie (IMRT) und volumenmodulierte Rotationstherapie (VMAT): Diese Techniken ermöglichen eine präzisere Steuerung der Strahlendosisverteilung, wodurch das umliegende gesunde Gewebe besser geschont werden kann.
  • Bildgeführte Strahlentherapie: Durch die Integration moderner Bildgebungstechniken kann der Tumor präziser abgegrenzt und die Bestrahlung entsprechend angepasst werden.
  • Stereotaktische Bestrahlung: Diese Technik ermöglicht eine hochpräzise Bestrahlung kleiner Zielgebiete mit hohen Dosen, wodurch das umliegende Gewebe geschont wird.
  • Hippocampusschonende Bestrahlung: Bei der Ganzhirnbestrahlung von Hirnmetastasen kann der Hippocampus geschont werden, um kognitive Einschränkungen zu reduzieren.
  • Atemanhaltetechnik: Bei der Bestrahlung von Tumoren im Thoraxbereich kann die Atemanhaltetechnik die Herzdosis reduzieren.

Prävention und Therapie von Spätfolgen

Eine frühzeitige Erkennung und Behandlung von Spätfolgen ist entscheidend, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Regelmäßige Nachsorgeuntersuchungen sind daher unerlässlich.

Präventive Maßnahmen

  • Schonende Bestrahlungstechniken: Anwendung moderner Bestrahlungstechniken zur Minimierung der Strahlenexposition des Normalgewebes.
  • Risikostratifizierung: Identifizierung von Patienten mit erhöhtem Risiko für Spätfolgen.
  • Individuelle Therapieplanung: Anpassung der Therapie an die individuellen Bedürfnisse und Risikofaktoren des Patienten.

Therapeutische Maßnahmen

  • Symptomatische Therapie: Behandlung der Symptome der Spätfolgen, z. B. Schmerztherapie, Physiotherapie, Ergotherapie.
  • Hormonersatztherapie: Bei endokrinen Störungen kann eine Hormonersatztherapie erforderlich sein.
  • Kognitives Training: Zur Verbesserung der neurokognitiven Funktionen.
  • Medikamentöse Therapie: In einigen Fällen können Medikamente zur Behandlung von Spätfolgen eingesetzt werden, z. B. Kortikosteroide bei Hirnödem oder Pentoxifyllin bei Fibrose.

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