Bewusstsein unabhängig vom Gehirn: Eine kritische Auseinandersetzung

Die Frage nach der Natur des Bewusstseins beschäftigt die Menschheit seit Anbeginn des Denkens. Ist das Bewusstsein ein Produkt des Gehirns oder existiert es unabhängig davon? Diese Frage spaltet die Geister und führt zu kontroversen Diskussionen zwischen Philosophen, Neurowissenschaftlern und anderen Forschern.

Dualismus versus Identismus

Eine zentrale Frage in der Diskussion um das Bewusstsein ist, ob das Gehirn das Bewusstsein hervorbringt (Identismus) oder ob es lediglich ein Instrument ist, durch das sich ein immaterieller Geist manifestiert (Dualismus). Beide Ansichten haben ihre Vor- und Nachteile, und es gibt Versuche, die jeweiligen Probleme durch Zusatzannahmen zu überwinden.

Aus naturwissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, ob eine der beiden Anschauungen auf Annahmen beruht, die dem heutigen wissenschaftlichen Weltbild fundamental widersprechen. Dies ist insbesondere beim interaktiven Dualismus der Fall. Dualisten haben bisher keine plausible Erklärung dafür liefern können, wie der Geist mit dem Gehirn interagiert und warum er dies überhaupt tun sollte. Zudem ist im Rahmen des Dualismus unerklärlich, warum Bewusstseinszustände erst auftreten, nachdem unbewusste Zentren im Gehirn aktiv waren (Libet-Experimente). Auch der hohe Verbrauch von Sauerstoff und Zucker in der Großhirnrinde bei Bewusstseinszuständen lässt sich dualistisch schwer erklären.

Die Rolle der Hirnforschung

Die Hirnforschung allein kann die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bewusstseinszuständen und Hirnprozessen nicht beantworten. Hierzu bedarf es der Zusammenarbeit mit Neuropsychologen, Wahrnehmungspsychologen, Neurologen, Psychiatern, Psychoanalytikern und Philosophen. Diese Disziplinen können die Komplexität der zu erklärenden Phänomene wahren, während die Hirnforschung notwendigerweise vereinfachen muss.

Unter Berücksichtigung dieser Multidisziplinarität deuten alle empirischen Evidenzen darauf hin, dass jede Art von Wahrnehmung, jeder Gedanke, jedes Gefühl und jeder Willensakt eine Entsprechung in Hirnprozessen hat. Die genauen Mechanismen auf der Ebene einzelner Nervenzellen und kleinerer Zellverbände sind jedoch noch weitgehend unbekannt, obwohl in Einzelfällen bereits Fortschritte erzielt wurden.

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Freier Wille und Unbewusstes

Es bestehen Zweifel an der Vorstellung eines "freien, von außen völlig unbeeinflussten, bewussten Willens". Hirnforschung, Neuropsychologie und Kognitionspsychologie liefern zahlreiche Hinweise darauf, dass unser Denken und Wollen stark von unserem Unbewussten beeinflusst wird, ohne dass wir dies direkt erfahren. Menschliches Handeln ist zwar überwiegend autonom, aber das Empfinden, unser Wille könne dabei völlig frei entscheiden, scheint eine Illusion zu sein.

Die emotionale Entwicklung geht der kognitiven Entwicklung voraus. Das limbische System, das für Emotionen zuständig ist, beginnt bereits vor der Geburt zu arbeiten, lange bevor komplexere Bewusstseinszustände wie Ich-Empfindung und Handlungsplanung auftreten. Das emotionale System bereitet das kognitiv-bewusste System vor und ermöglicht es erst.

Grenzen der empirischen Forschung

Die Hirnforschung muss sich bei der Untersuchung von Bewusstseinszuständen auf das beschränken, was empirisch-experimentell überhaupt untersuchbar ist. Die große individuelle und überindividuelle Komplexität von Bewusstseinszuständen (Ich, Selbst, Wirklichkeit, Gesundheit) wird noch lange Zeit für die neurobiologische Forschung unerreichbar sein.

Bewusstsein ist ein Instrument zur "klaren Orientierung des Menschen in Raum und Zeit". Das Denken ist in seinem Wesen und Ursprung selbst rätselhaft. Diese Selbst-Rätselhaftigkeit resultiert aus der Tatsache, dass das unbewusst arbeitende limbische System unser kortikales Bewusstseinssystem stark beeinflusst, ohne dass dieses dies an sich erfährt. Wir erfahren uns in unserem Bewusstsein als frei und unabhängig, aber die unbewussten Beweggründe unserer bewussten Existenz sind uns denkerisch und erlebnismäßig unzugänglich. Die Introspektion ist ein wertvolles Instrument beim Ergründen des Reichtums der Bewusstseinszustände, versagt aber bei der Frage, woher unser Bewusstsein kommt, wer oder was es lenkt und welche Funktion es hat. Dies kann nur empirisch-experimentell aus der Sicht der dritten Person erfolgen.

Neuronale Korrelate des Bewusstseins (NCC)

Da Bewusstsein auf biologischer Basis stattfindet, muss es neuronale Korrelate des Bewusstseins (NCC) geben. Gerald Edelman und Guilio Tononi verfolgen einen systemischen Ansatz, in dem Information in ganzen Neuronenverbänden kreist und auf diese Weise im Bewusstsein gehalten wird. Stanislas Dehaene verfolgt den Gedanken eines globalen Arbeitsraumes und hat diesen in einem Computermodell umgesetzt.

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Die Erforschung des Bewusstseins auf neuronaler Ebene ist genauso komplex wie ihr Forschungsgegenstand. Viele grundlegende Fragen sind noch nicht geklärt. Die Reduktion des Geistigen auf das Biologische und Materielle greift zu kurz. Das Gehirn ohne seine Beziehung zur Umwelt, insbesondere zu den Mitmenschen, kann kein Bewusstsein bilden. Die reine Biologie ist zu wenig, das Soziale unersetzlich, und so ist das Gehirn ein Beziehungsorgan. Ohne das entsprechende Gehirn macht aller sozialer Input aus einer Schnecke keinen Schopenhauer. Die Biologie allein erklärt nicht alles, vor allem nicht psychologisch. Aber: Ohne Biologie wäre da nichts zu erklären.

Das Bewusstsein ist für sensorische Informationen stets 0,5 Sekunden verzögert. Das Gehirn datiert diese Sinneserfahrungen zurück, sodass wir subjektiv empfinden, dass wir den Reiz genau dann wahrgenommen haben, als er ausgelöst wurde.

Dualismus und seine Kritiker

Lange dachten die Denker der Welt, Geist und Materie seien zwei unterschiedliche Paar Schuhe (Dualismus). Heute gehen nur noch wenige Forscher davon aus, dass das Bewusstsein unabhängig von einer biologischen Basis existiert. Fallen bestimmte Gehirnbereiche aus, fällt der Mensch ins Koma und ist nicht mehr bewusst. Auch im Tiefschlaf findet kein Bewusstsein statt.

John C. Eccles und Karl Popper vertraten eine dualistische Position. Sie nahmen an, dass es in der linken Hirnhälfte eine Region gebe, die eine Interaktion von Welt 1 (materielle Welt) und Welt 2 (geistige Welt) erlaube. David Chalmers sieht beim Thema Bewusstsein ein einfaches und ein schwieriges Problem. Zum einfachen Problem gehören Denken, Lernen, Erinnern, die physiologisch teilweise verstanden sind. Doch was das Rot in uns subjektiv auslöst und wie es sich anfühlt, Schmerzen zu haben, können wir bislang nicht erklären.

Das Bindungsproblem

Ein weiteres schwieriges Problem ist, wie all die einzelnen Verarbeitungsstufen im Gehirn am Ende wieder zueinanderfinden. Wie kann, was die Sensorik auseinandernimmt, die Wahrnehmung wieder zusammensetzen? Wolf Singer und seine Mitarbeiter legten 1989 Belege vor, nach denen diese Bindung unterschiedlichster Reize durch die synchrone Entladung von Nervenzellen im 40-Hertz-Bereich erfolgen kann.

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Systemische Theorie und globaler Arbeitsraum

Gerald Edelman und Giulio Tononi entwickelten eine systemische Theorie, nach der sich durch die Hinzuschaltung anderer Cluster für Farbe und Form ein integrierter Prozess entwickelt, der sich beliebig komplex nach oben, in Richtung Bewusstsein, skalieren lässt. Francis Crick und Christof Koch suchten nach den Neuronalen Korrelaten des Bewusstseins (NCC). Crick vermutete als tatsächlichen Sitz des Bewusstseins das Claustrum.

Bernhard Baars verfolgt die Idee eines "global workspace", an dem zu finden ist, was im Geist aktuell aktiv ist und subjektiv erlebt wird. Stanislas Dehaene, Jean-Pierre Changeux und Kollegen haben den global workspace im neuronalen Kontext untersucht und ein dreistufiges Computermodell entwickelt.

Kritik und Ausblick

Die Bewusstseinsforschung mit neurowissenschaftlichen Methoden ist beliebtes Ziel für Neuro-Bashing. Zu beschränkt sei die Hirnforschung bei der Suche nach dem Bewusstsein, nicht nur in ihren Methoden, sondern auch in ihren konzeptionellen Ansätzen. Bislang sind die Neurowissenschaftler auf der Suche nach dem Bewusstsein im Gehirn nicht wirklich weit gekommen. Es ist jedoch zu vermuten, dass auch die Hirnforscher noch einiges finden werden.

Nahtoderfahrungen (NTE)

Sam Parnia von der Universität Southampton hat Patienten untersucht, die nach einem Herzinfarkt klinisch tot waren und mit Elektroschocks wiederbelebt wurden. Einige dieser Patienten hatten Erinnerungen aus der Phase nach dem Tod. Sie berichteten von Tunneln, hellem Licht oder Begegnungen mit verstorbenen Verwandten. Diese Ergebnisse wurden von anderen Forschern kritisiert.

Pim van Lommel hat Langzeitstudien mit Patienten durchgeführt, die einen Herzstillstand überlebt hatten. Er fand heraus, dass Menschen während eines Herzstillstandes ein Bewusstsein haben können. Menschen mit NTE haben Wahrnehmungen außerhalb und oberhalb ihres Körpers. Sie können ihr ganzes Leben in einem einzigen Augenblick überblicken und mit verstorbenen Bekannten oder Verwandten in Kontakt treten. Nahezu alle verlieren danach die Angst vor dem Tod.

Schlussfolgerung

Die Frage, ob das Bewusstsein unabhängig vom Gehirn existiert, ist noch lange nicht beantwortet. Die Hirnforschung hat zwar viele Erkenntnisse über die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins gewonnen, aber die subjektive Erfahrung und die komplexen Zusammenhänge zwischen Geist und Materie bleiben weiterhin rätselhaft. Nahtoderfahrungen deuten darauf hin, dass das Bewusstsein möglicherweise auch ohne funktionierendes Gehirn existieren kann. Weitere Forschung ist notwendig, um diese Phänomene besser zu verstehen und die Natur des Bewusstseins zu ergründen.

Anhang: Substanzielles Bewusstsein und Bewusstlosigkeit

Das Konzept eines substanziellen individuellen Bewusstseins soll erklären, wie ein materielles individuelles Wesen zu subjektivem Erleben fähig wird. Was können wir von dieser “Entität” sagen? Nun, wenn wir sie Bewusstsein nennen und wenn sie das individuelle Bewusstsein lebendiger Wesen erklären soll, also die Fähigkeit, in subjektiver Weise zu empfinden, zu fühlen, wahrzunehmen, vielleicht sogar zu denken, dann erscheint These 1 überzeugend:

(These 1) Ein individuelles substanzielles Bewusstsein ist definitionsgemäß und notwendigerweise bei Bewusstsein. Es erlebt.

Es gibt jedoch deutliche Beeinträchtigungen des Bewusstseins. Beim Menschen tritt dies z.B. beim traumlosen Tiefschlaf, im Koma, in der Narkose, beim K.O. (z.B. beim Boxen), während eines fokalen nichtbewusst erlebten epileptischen Anfalls und bei einer Synkope (“Ohnmacht”) ein. In diesen Fällen liegt jedoch unbestreitbar eine schwere Schädigung des Alltagsbewusstseins vor, welches im Ganzen - also einschließlich seiner für das bewusste Erleben ganz wesentlichen Gedächtnisaspekte - durch das substanzielle Bewusstsein erklärt werden soll. Daher gilt:

(These 2) Es gibt unzweifelhafte Fälle von phasenweiser Bewusstlosigkeit bzw. schweren Bewusstseinsstörungen.

These 2 und These 1 sind für sich genommen kohärent, logisch aber nicht miteinander vereinbar. Denn wenn These 1 gilt, sollte es in allen unter These 2 genannten Fällen einer vermeintlichen Bewusstlosigkeit bzw. schweren Bewusstseinsstörung zu einer Art “Out of body”-Erlebnis oder zu einem Traumerleben bei vollständig erhaltenem Bewusstsein kommen: Der Körper schläft zwar ein, wird komatös und aresponsiv, wird narkotisiert, geht K.O., erleidet den Kontrollverlust bei einem epileptischen Anfall oder sackt in sich zusammen - aber das Bewusstsein des betroffenen Individuums bleibt jeweils wach, es erlebt unbeeindruckt weiterhin, es wird in keiner Weise beeinträchtigt. Dies ist jedoch nicht der Fall (siehe These 2). Ein “zeitweise bewusstloses Bewusstsein” ist eine contradictio in se adiecto, letztlich eine Unmöglichkeit. Das Konzept eines hirnunabhängigen immateriellen Bewusstseins soll essentialistisch das Bewusstsein lebendiger Wesen erklären - steht dann aber einer Erklärung von variierenden Bewusstseinszuständen einschließlich phasenweiser Bewusstlosigkeit bzw. Bewusstseinsbeeinträchtigung als einer vernünftigerweise unbestreitbaren Tatsache entgegen.

Das essentialistische Konzept eines substanziellen Bewusstseins erlaubt keine variierenden Bewusstseinszustände. Denn von woher sollte das Bewusstsein wieder zurückkommen, nachdem es erst einmal teilweise oder sogar ganz verschwunden ist, da es doch selbst die Quelle aller Bewusstseinszustände ist?

Existiert ein überindividuelles Mega-Bewusstsein?

Denkbar wäre, dass ein individuelles Bewusstsein durch die Wechselwirkung eines Mega-Bewusstseins mit einem individuellen Gehirn entsteht. Nur das individuelle Bewusstsein würde dann phasenweise untergehen können (wenn das Gehirn nicht richtig funktioniert); das Individuum wäre in dieser Zeit tatsächlich bewusstlos. Aber das Bewusstsein selbst wäre dennoch nicht verschwunden; es wäre und bliebe stets eins mit dem Mega-Bewusstsein und könnte später wieder in Wechselwirkung mit dem regenerierten Gehirn treten und erneut das individuelle Bewusstsein ausprägen. Da jeder nur sein eigenes individuelles Bewusstsein kennt, dürfte das Mega-Bewusstsein völlig außerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegen, es ist reine Spekulation; wir haben z.B. keine Ahnung was genau “Wechselwirkung” hier bedeuten soll. Das Mega-Bewusstsein wäre vermutlich jedoch auch auf irgendeine Weise “bei Bewusstsein”, also ein Subjekt, das irgendwie irgendetwas erlebt.

Gibt es immaterielle Seelen?

Im Unterschied zum Bewusstsein wären Seelen immaterielle Träger potentiell variierender Bewusstseinszustände. Anders als beim Bewusstsein selbst, spricht nichts dagegen, dass Seelen phasenweise schlafen oder bewusstseinsgemindert oder sogar bewusstlos sind. - Allerdings stehen wir mit dieser vermeintlichen Erklärung des Bewusstseins wieder vor denselben Fragen wie zuvor: Unter welchen Umständen wird eine Seele bewusstseinsfähig? Wann verliert sie ihr Bewusstsein? - jetzt bezogen auf eine immaterielle Seele, statt z.B. auf eine menschliche Person. Die Einführung des Konzepts Seele mag rhetorisch wie eine ursächliche Erklärung wirken; tatsächlich ist aber gar nichts erklärt, alle Fragen sind weiterhin offen. Allerdings sind die Fragen nun in die Sphäre des Immateriellen verrückt worden; eine Antwort auf diese Fragen, vor allem eine naturwissenschaftliche Antwort ist somit ausgeschlossen.

Gibt es die cartesische “res cogitans”?

Die hier vorgeschlagene Argumentationsfigur schließt übrigens auch das Konzept einer “res cogitans” als Ursache meiner höchsten geistigen Fähigkeiten (wie von Descartes vorgeschlagen) aus. Denn auch diese “denkende Sache” würde entweder entsprechend ihres Wesens durchgehend denkend sein - was in Widerspruch tritt zu der schlichten Tatsache, dass ich nicht jederzeit denke - oder wäre der immaterielle Träger variierender Denktätigkeit - womit wiederum nichts erklärt wäre (wie im Falle der Seele).

Essentialistische Erklärungen wirken rhetorisch oft sehr überzeugend, aber bei genauerer Betrachtung stellt sich schnell heraus, dass sie im Grunde völlig leer sind. Ganz grundsätzlich kann man etwas schwer Erklärliches nicht durch etwas prinzipiell Unerklärliches (wie ein movens oder ein immaterielles substanzielles Bewusstsein) erklären. Eine Erklärung, die wirklich etwas erklärt, führt etwas schwer Erklärliches in verständlicher Weise auf bereits (besser) verstandene zugrundeliegende Faktoren und Konzepte zurück; d.h. eine wirksame Erklärung ist grundsätzlich reduktiv, nicht extensiv.

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