Ein Mensch mit Demenz hat ein reiches Leben hinter sich, gefüllt mit Erfahrungen, Beziehungen und Errungenschaften. Die Vergangenheit ist eine wertvolle Ressource, die in der Pflege genutzt werden kann, um Wertschätzung, Verständnis und eine individuelle Betreuung zu fördern. Dieser Artikel beleuchtet die Bedeutung der Biografiearbeit in der Altenpflege, gibt praktische Tipps zur Erfassung der Lebensgeschichte und zeigt anhand von Beispielen, wie sie den Pflegealltag bereichern kann.
Was ist Biografiearbeit?
Biografiearbeit ist ein wichtiger Bestandteil der aktivierenden Pflege. Sie umfasst die Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte eines Menschen, um ein tiefes Verständnis für seine Persönlichkeit, Erfahrungen und Bedürfnisse zu entwickeln. Dieses Wissen ermöglicht eine individuellere und wertschätzendere Pflege.
Was gehört zu einer Biografie?
Die Biografie eines Menschen ist mehr als nur ein Lebenslauf. Sie umfasst:
- Daten, Zahlen und Fakten: Geburtsdatum, Hochzeitstag, Einzug ins Pflegeheim.
- Freizeit: Interessen, Hobbys, Vereinsmitgliedschaften, Ehrenämter, Haustiere.
- Denkweise: Persönliche Sichtweisen, Einstellungen, Glaubensvorstellungen.
- Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen: Ernährung, Hygiene, Kleidung.
- Soziales: Freundschaften, Kontakte zu Familienangehörigen und anderen Menschen.
- Prägende Erlebnisse: Krieg, Flucht, Scheidung, Verluste, berufliche Wendepunkte.
- Medien: Lieblingsbücher, Lieblingsfilme und -serien, Lieblingsmusik.
Darüber hinaus gehören auch Erlebnisse, die eine größere Gruppe von Menschen betreffen, zur Biografie, wie beispielsweise das Leben in der ehemaligen DDR oder während des Krieges. Menschen mit Migrationshintergrund verbindet die Erfahrung, ihr Heimatland zu verlassen und einen Neuanfang zu wagen. Auch Medien- und Konsumerfahrungen ähneln sich innerhalb einer Altersgruppe.
Ziele der Biografiearbeit
Im Mittelpunkt der Biografiearbeit steht das Wissen um die Lebensgeschichten der Pflegebedürftigen. Je mehr Pflegekräfte über die einzelnen Bewohner wissen, desto besser können sie diese als individuelle Menschen erkennen und ihre Persönlichkeit wertschätzen. Dies trägt zu einer respektvollen Pflege bei und ermöglicht es, nicht-pflegerische Angebote besser auf die einzelnen Personen abzustimmen. Dadurch können Pflegebedürftige erreicht und aktiviert werden, was ihr Wohlbefinden steigert.
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Biografiearbeit kann die Pflege vereinfachen, indem sie:
- Schweigsame Menschen dazu anregt, sich zu öffnen und zu erzählen.
- Senior:innen aufgeschlossener auf Freizeitangebote und therapeutisch-pflegerische Maßnahmen reagieren.
- Herausforderndes Verhalten reduziert oder dessen Ursachen verständlicher macht, insbesondere bei Menschen mit Demenz.
Wie erfasse ich die Biografie der Bewohner:innen?
Um die Biografie eines pflegebedürftigen Menschen zu erfassen, können verschiedene Methoden eingesetzt werden:
- Erfassungsbogen beim Einzug: Beim Einzug in ein Pflegeheim werden in der Regel bestimmte Informationen abgefragt und schriftlich festgehalten. Angehörige können ebenfalls Auskunft geben. Allerdings sollte beachtet werden, dass ihre Fremdwahrnehmung nicht immer mit der Eigenwahrnehmung des Pflegebedürftigen übereinstimmt.
- Biografische Gespräche: Führen Sie Einzel- und Gruppengespräche mit den Bewohner:innen, um mehr über ihre Erfahrungen und Vorlieben zu erfahren. Gruppengespräche können das kollektive Gedächtnis aktivieren und Erinnerungen anregen.
- Beobachtungen im Pflegealltag: Achten Sie auf die Aktivitäten, an denen die Person gerne teilnimmt, ihre Reaktionen auf bestimmte Speisen und ihre Beschäftigungen. Notieren Sie sich hilfreiche Informationen, um ein vollständigeres Bild der Biografie zu erhalten.
- Biografie als Buch: Nutzen Sie Vorlagen wie den "ICH-PASS - Wesentliches über mich", um die Lebensgeschichte systematisch zu erfassen. Bewohner:innen können auch ein eigenes Buch mit ihren Erinnerungen gestalten, unterstützt von Angehörigen.
Beispiele für Biografiearbeit in der Altenpflege
Es gibt viele Möglichkeiten, die Biografiearbeit in den Pflegealltag zu integrieren:
- Fotos und Ansichtskarten: Betrachten Sie gemeinsam Fotoalben oder digitalisierte Bilder, um Erinnerungen wachzurufen und Gespräche anzuregen.
- Tagebücher und Poesiealben: Bieten Sie den Bewohner:innen die Möglichkeit, ihre persönlichen Aufzeichnungen zu teilen.
- Musik: Spielen Sie Kirchenlieder, Kinderlieder oder Volkslieder, die mit bestimmten Erlebnissen oder geliebten Stars verbunden sind.
- Erinnerungsecken: Gestalten Sie Bereiche mit Dekorationsgegenständen aus der Vergangenheit, um Gespräche anzuregen und Erinnerungen zu wecken.
- Therapeutische Puppen: Besonders Frauen reagieren oft positiv auf therapeutische Puppen, die Erinnerungen an die Mutterschaft wecken und die Kommunikation erleichtern können.
Der Effekt von Biografiearbeit auf Demenzkranke
Die Vorteile der Erinnerungsarbeit bei Demenzkranken liegen auf der Hand: Das Wissen um die Vergangenheit des an Demenz erkrankten Menschen erleichtert den täglichen Umgang mit diesen enorm. Eine wertschätzende, empathische Beziehung und ein liebevolles Miteinander ist für demenzkranke Menschen enorm wichtig. Das Wissen um biografische Hintergründe (z. B. Lebenslauf, Gewohnheiten, kritische Lebensereignisse usw.) schafft hierzu eine wertvolle Grundlage und ermöglicht die Stärkung der gegenseitigen Bindung. Darüber hinaus fühlt sich die betagte Person im täglichen Umgang sicherer, verstanden und in ihrem Wesen angenommen, was die Pflegesituation deutlich erleichtern kann.
Das lebensgeschichtliche Gespräch
Demenzkranke haben meist noch ein gut funktionierendes Langzeitgedächtnis. Was für sie deshalb zählt, ist die Vergangenheit, die sich auf unterschiedliche Art und Weise in das „Heute“ einfügt und das Verhalten sowie die Gefühle nicht unwesentlich beeinflusst. Als pflegende Angehörige (Betreuungsperson) können Sie das positiv für sich nutzen, indem Sie durch bestimmte Fragen die Erinnerungen der demenzkranken Person aktivieren.
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Solche Fragen könnten sein:
- Hattest du in der Kindheit einen Gegenstand, der dir besonders viel bedeutet hat? Welche Erlebnisse verbindest du mit ihm?
- Wo bist du aufgewachsen? In welchem Zimmer hast du dich besonders wohl gefühlt? Kannst du den Raum und das, was sich darin befunden hat, beschreiben?
- Wenn du einen Koffer mit den wichtigsten Gegenständen packen müsstest: welche Gegenstände würdest du einpacken und warum? Was bedeuten sie dir?
- Gibt es etwas in diesem Raum, das dir besonders am Herzen liegt? Welche Erinnerungen verbindest du damit?
Diesen lebensgeschichtlichen Austausch können Sie mit unterschiedlichen Impulsen fördern, beispielsweise indem Sie persönliche Gegenstände aus der Vergangenheit (z. B. Kochlöffel, Fotos, Kleidungsstücke usw.) zur Hand nehmen und sich darüber austauschen. Meistens sind solche Objekte mit angenehmen Erinnerungen verknüpft, was wiederum das Wohlbefinden der Senioren stärkt. Darüber hinaus gibt es im Handel eine Vielzahl an biografischen Materialien (z. B. Bildkarten, biografische Spiele usw.), welche die Erinnerungen anregen können. Sogar im letzten Stadium der Demenz ist das möglich, denn diese Menschen sind noch gut über ihre Sinne (z. B. Hören, Riechen, Sehen, Schmecken usw.) erreichbar. So kann selbst etwas Einfaches wie der Duft einer Rose manchmal Freudentränen in die Augen einer bettlägerigen Person zaubern.
Kommunikation mit Demenzkranken
Je nachdem, wie weit die Demenz schon fortgeschritten ist, muss die Kommunikation ganz unterschiedlich aussehen. Zu Beginn einer dementiellen Erkrankung - in einem leichten oder frühen Stadium der Demenz - ist die Wahrnehmung des Betroffenen zunächst nur wenig verändert. Die Person vergisst eventuell Namen, verlegt Gegenstände, kann sich nicht mehr an Dinge aus der Vergangenheit erinnern oder hat Schwierigkeiten, komplexe Aufgaben wie Terminabsprachen zu bewältigen. Bei der Kommunikation mit Menschen mit leichter Demenz ist es wichtig, den Betroffenen mehr Zeit zum „Re-Agieren“ oder antworten zu lassen. Seien Sie stets zugewandt und sprechen Sie in einfachen, kurzen Sätzen. Hilfreich ist es, wenn Sie langsam und deutlich sprechen und Ihr Gesagtes mit Gesten unterstützen.
Im Stadium einer mittelschweren Demenz haben Betroffene oft auffällige Denk- und Gedächtnislücken. Sie benötigen verstärkt Hilfe bei alltäglichen Aktivitäten. Die Demenzerkrankten bemerken den Abbau ihrer Fähigkeiten auch selber und versuchen die Auswirkungen zu bewältigen. Häufig tritt dann ein „Fassadenverhalten“ auf, indem z.B. Missgeschicke überspielt, Fehler abgestritten und schwere Vorwürfe an die Umgebung gemacht werden. Ab diesem Krankheitsstadium ist es sehr wichtig, auf die jeweils aktuelle Gefühlslage Ihres Angehörigen einzugehen. Also mit Empathie zu reagieren und zu vermitteln, dass das Gefühl gerechtfertigt ist. Regt sich Ihr Angehöriger beispielsweise über ein plötzlich auftretendes lautes Geräusch auf, können Sie bestätigen „Oh, das war aber laut!“.
Im letzten Stadium einer dementiellen Erkrankung geht vielen Betroffenen die Fähigkeit verloren, verbal zu kommunizieren. Eine nonverbale und emotionale Kommunikation zur Verständigung wird dann immer wichtiger. Für die Kommunikation mit Menschen mit schwerer Demenz eignet sich die Methode der basalen Stimulation besonders gut. Handeln Sie bitte gerade in diesem Krankheitsstadium nach dem Motto „Weniger ist mehr“. Viele der Betroffenen genießen auch ein schweigendes Beisammensitzen. Hand in Hand. Das muss auch nicht lange Zeit in Anspruch nehmen. Wichtig ist das Erleben „Ich bin nicht allein“, zum Beispiel für drei bis fünf Minuten. Berührungen werden in diesem Stadium besonders wichtig für viele Betroffene. Versuchen Sie Ihrem Angehörigen Zuneigung und Wertschätzung zu vermitteln.
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Konzepte für die Kommunikation mit Demenzerkrankten
Validation, basale Stimulation und die personzentrierte Pflege sind Methoden und Konzepte für die Kommunikation mit Demenzerkrankten, die auf den Prinzipien der Akzeptanz und Wertschätzung basieren.
- Validation: Die Gefühle von Demenzerkrankten anerkennen und akzeptieren steht im Fokus des Konzepts der Validation bei Demenzerkrankten. Anstatt zu korrigieren und auf die Fehler hinzuweisen, erkennen Sie mit der Methode der Validation bei Demenzerkrankten die Gefühle der Situation an und bestätigen, dass diese gerechtfertigt sind und Sie zugehört haben. Dadurch vermitteln Sie Ihrem Gegenüber Wertschätzung und das Gefühl, verstanden worden zu sein. Sie tauchen in seine Welt ein und begeben sich auf die gleiche Ebene.
- Personzentrierte Pflege: Das zentrale Element der personzentrierten Pflege nach Kitwood: Sie stellt den Mensch in den Mittelpunkt und nicht die Krankheit. Erhalt und Förderung des Personseins ist der Kern bei dieser Art der Kommunikation. Die Bedürfnisse, die jeder Menschen braucht, um sich wahrgenommen, wertgeschätzt und als Person zu fühlen, können nach Tom Kitwood in einer Blumenform illustriert werden: Liebe, Trost, Bindung, Einbeziehung, Beschäftigung und Identität.
- Basale Stimulation: Eine basale Stimulation bei Demenz - oder auch multisensorische Stimulation - hat das Ziel, die Fähigkeiten von dementiell erkrankten Menschen in den Bereichen Kommunikation, Wahrnehmung und Bewegung zu fördern und sie zu aktivieren. Im Gegensatz zur Validation und der personzentrierten Pflege setzt sie hauptsächlich auf die nonverbale Kommunikation. Über die Stimulation von visuellen (Sehen), akustischen (Hören), gustatorischen (Riechen und Schmecken) und taktilen (Fühlen) Reizen kann die Aufmerksamkeit angeregt und eine Verbindung aufgebaut werden.
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