Blindheit trennt von den Dingen, Taubheit von den Menschen: Eine differenzierte Betrachtung

Die Frage, welcher Sinnesverlust schwerwiegender ist, ob Blindheit oder Taubheit, erscheint zunächst als ein theoretisches Gedankenspiel. Doch eine tiefere Auseinandersetzung mit dieser Frage offenbart, dass es nicht nur um Funktionalität und Wahrnehmung geht, sondern vielmehr um Nähe, Verbundenheit und Menschlichkeit.

Die Unterschätzte Bedeutung des Hörsinns

Oftmals wird die Bedeutung des Hörsinns für den Menschen unterschätzt. Als "Augentiere" verlassen wir uns primär auf unseren Gesichtssinn zur Orientierung und Erkennung von Personen und Gegenständen. Der Verlust des Augenlichts erscheint uns daher oft schwerwiegender als der Verlust des Gehörs.

Emotionale Belastung: Ein Perspektivenwechsel

Erfahrungen von Betroffenen zeigen jedoch ein anderes Bild. Es scheint emotional weniger belastend zu sein, das Augenlicht zu verlieren als das Gehör. Deutlich mehr erblindende Menschen finden sich früher oder später mit ihrer Situation zurecht als ertaubende Menschen.

Die amerikanische Schriftstellerin Helen Keller (1880-1968), die im zweiten Lebensjahr ertaubte und erblindete, brachte es auf den Punkt: „Blindheit trennt von den Dingen, Taubheit von den Menschen.“ Diese Aussage verdeutlicht die tiefgreifende soziale Isolation, die mit dem Verlust des Hörsinns einhergehen kann.

Soziale Isolation und ihre Folgen

Taubheit bedeutet nicht einfach nur "nichts hören". Es ist Stille, wo früher Musik war. Es ist das Fehlen einer Stimme, die beruhigt. Kein Lachen, kein Singen, kein "Ich liebe dich" im Originalton. Die größte emotionale Herausforderung bei Gehörlosigkeit ist oft die Barriere der Kommunikation. Sprache ist der Schlüssel zu Beziehungen. Wer nicht hört, muss andere Wege finden, um sich auszudrücken - Gebärdensprache, Lippenlesen, Schrift. Doch was passiert mit spontanen, leisen Momenten? Mit einem geflüsterten Trost? Mit dem Klang eines Lieblingsliedes, das an die Kindheit erinnert?

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Viele Gehörlose - vor allem jene, die erst später ihr Gehör verlieren - berichten von einem Gefühl der „sozialen Entfremdung“. Gespräche in Gruppen, Telefonate, Musik - all das ist nicht oder nur schwer zugänglich. Diese soziale Isolation führt dazu, dass Ertaubung deutlich häufiger zu Depressionen bis hin zum Suizid führt als Erblindung.

Der Hörsinn und die Hirnfunktion

Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass der Hörsinn eine fundamentalere Bedeutung für unsere Hirnfunktion hat, selbst bei geringfügigen Einschränkungen. Eine Studie zu Risikofaktoren für Demenz ergab, dass Hörverlust der stärkste einzelne Risikofaktor für die Entwicklung einer Demenz ist. Etwa neun Prozent des Demenzrisikos lassen sich auf Hördefizite zurückführen, die nicht einmal erheblich sein müssen.

Der normale kognitive Leistungsabfall, der üblicherweise zwischen dem 45. und 50. Lebensjahr einsetzt, verdoppelt sich bereits bei einem leichten Hörverlust von 25 bis 40 Dezibel (dB) (bezogen auf das bessere Ohr), verdreifacht sich bei moderatem Hörverlust von 40 bis 70 dB und verfünffacht sich sogar bei starkem Hörverlust zwischen 70 und 95 dB!

Insgesamt setzt sich das Demenzrisiko aus einer Reihe von Faktoren zusammen, von denen 35 Prozent beeinflussbar sind. Neben dem Hören sind dies mangelhafte Bildung (8%), Rauchen (5%), Depression (4%), mangelnde Bewegung (3%), Bluthochdruck und soziale Isolation (jeweils 2%) sowie Fettleibigkeit und Diabetes (jeweils 1%).

Prävention ist der Beste Schutz

Wenngleich diese Statistiken keinen Kausalzusammenhang zwischen den einzelnen Faktoren und dem Demenzrisiko belegen, sondern lediglich eine Korrelation, so ist es ratsam, auf seinen Hörsinn zu achten und ihn zu schützen, insbesondere da alle Schäden, die dem Innenohr zugefügt werden, irreparabel sind.

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Die weltweite Prävalenz von Hörminderungen steigt rasant an: von weniger als 1 % der Weltbevölkerung auf über 5 % in weniger als 30 Jahren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte 1985, dass 42 Millionen Menschen an einer Hörbehinderung leiden. Diese Zahl stieg bis 1995 auf 120 Millionen und im Jahr 2017 auf alarmierende 360 Millionen.

Die Auswirkungen von Hörverlust auf die Lebensqualität

Unser akustisches Wahrnehmungssystem ist ständig aktiv und nimmt Geräusche wahr, von einer geflüsterten Stimme bis zu einem vorbeifahrenden Güterzug. Es steht permanent mit unserem Nervensystem in Verbindung, um uns bei Bedarf zum Handeln aufzufordern und ablenkende Hintergrundgeräusche herauszufiltern.

Kommunikation kann von etwas Einfachem und Angenehmen zu einer anstrengenden Tätigkeit werden, die Ängste und Müdigkeit verursacht. Eine Folge davon ist Rückzug aus sozialen Situationen und Gefühle von Isolation und Depression. Eine Schwerhörigkeit kann auch die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen oder sich negativ auf die Beschäftigungs- und Aufstiegschancen auswirken. Diese Bedrohung der finanziellen Sicherheit und des Status in der Gesellschaft führt zu zusätzlichem Stress und Isolation. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Betroffene, ihre Familien und Freunde über Persönlichkeitsveränderungen als Reaktion auf den Hörverlust berichten. Außerdem nimmt die Lebensqualität mit zunehmender Schwere des Hörverlusts ab.

Die Stille Schreit Laut

Der Verlust des Hörsinns mag äußerlich still erscheinen, doch innerlich kann er lauter schreien als jeder Lärm, weil er uns trennt - von Gesprächen und Begegnungen. Schwerhörigkeit entwickelt sich oft schleichend und unbemerkt und wird viel zu lange unterschätzt. Gutes Hören ist essenziell für unsere körperliche UND emotionale Gesundheit.

Blindheit: Eine andere Perspektive

Blindheit bedeutet, auf einen unserer zentralen Sinne zu verzichten. Farben, Gesichter, Mimik, Sonnenuntergänge, Kunst, Augenkontakt - all das wird zu einer vagen Erinnerung oder bleibt ein unentdecktes Mysterium. Vor allem geht der nonverbale Ausdruck von Emotionen verloren.

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Ein Blick sagt oft mehr als tausend Worte. Menschen kommunizieren unbewusst über Augenbewegungen, Stirnrunzeln, Lächeln. Wer blind ist, verpasst diese stummen, aber tiefgreifenden Signale. Das Gefühl, „gesehen“ zu werden, im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne, fehlt.

Viele Blinde berichten jedoch auch von einer tiefen Form von Intimität, die durch intensives Zuhören, Berührung und Präsenz entsteht. Emotionen werden gehört, gespürt - nicht gesehen, aber dennoch tief empfunden. Der Verlust des Sehens wirkt demnach weniger trennend im zwischenmenschlichen Sinn. Natürlich fehlt der Blickkontakt, das Lesen von Mimik, die visuelle Schönheit der Welt. Aber: Die Stimme bleibt. Die Geräusche der Umgebung, das vertraute Lachen, das Flüstern, das Weinen - sie alle transportieren Emotionen.

Kants Weisheit

Immanuel Kant sagte einst: "Blindheit trennt mich von den Dingen. Taubheit trennt mich von den Menschen." Ohne Sehen verlieren wir die Welt der Objekte, der Bilder, der äußeren Eindrücke. Aber ohne Hören verlieren wir den direkten Draht zu anderen Menschen.

Praktische Tipps zur Erhaltung des Hörsinns

  • Lassen Sie Ihr Gehör regelmäßig prüfen - spätestens ab 40 Jahren einmal jährlich.
  • Vermeiden Sie Lärmüberlastung - dauerhaft laute Musik über Kopfhörer oder ständiger Lärm im Job bzw.

Ein Fallbeispiel: Thomas' Geschichte

Thomas, 52 Jahre alt, bemerkte, dass er immer häufiger nachfragen musste. Er schob es auf Stress oder Müdigkeit. Später konnte er in geselligen Runden kaum noch Gesprächen folgen und schob es auf Hintergrundgeräusche. Erst als er immer häufiger außenvor war, musste er sich eingestehen: Etwas stimmt nicht.

Ein Hörtest brachte die Gewissheit: hochgradige Schwerhörigkeit auf beiden Ohren. Thomas sagt rückblickend: „Ich habe nicht einfach Geräusche verloren. Ich habe das Gefühl verloren, dazuzugehören.“ Gespräche wurden zur Herausforderung, Gruppensituationen zur Überforderung. Er zog sich zurück, weil er die Welt nicht mehr richtig erreichte.

Der soziale Rückzug kam schleichend, aber konsequent. Thomas war noch da, aber nicht mehr mittendrin. Es folgte eine Zeit voller Selbstzweifel, Scham und innerem Rückzug. Am Ende siegte der Wunsch, wieder aktiv am Leben teilzunehmen. Thomas entschied sich für eine umfassende audiologische Beratung.

Sein Hörverlust konnte durch eine apparative Versorgung mit Hörgeräten und einen therapeutischen Gehöraufbau stabilisiert werden. Und auch um seine langfristige Zukunft macht Thomas sich mittlerweile keine Sorgen mehr: Sollten Hörgeräte seinen Hörverlust nicht mehr adäquat ausgleichen, gibt es ja noch die Möglichkeit eines Cochlea-Implantats.

Cochlea-Implantate: Eine Option für Schwerhörige

Ein Cochlea-Implantat ist eine hochentwickelte Hörprothese, die vor allem bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Taubheit eingesetzt wird.

Die Rolle der Gebärdensprache

Gehörlose Menschen haben je nach Begabung Grundlagen der Lautsprache in der Schule gelernt. Allerdings können sie sich selbst nicht hören und dementsprechend korrigieren. Für Hörende klingt dann die Aussprache oftmals unartikuliert und unangemessen laut oder leise.

Es gibt zwei falsche Vorstellungen:

  1. Gehörlose können vom Mund ablesen. Diese Behauptung ist falsch. Gehörlose Menschen können an den Lippen Wörter kombinieren oder assoziieren.
  2. Gehörlose können Lesen. Das ist vollkommen richtig, aber man muss wissen, dass man nur die Begriffe lesen kann, die man kennt.

Laut- und Schriftsprache lernen ist für gehörlose Menschen ein äußerst mühsamer Prozess, weil jede Artikulation und jede Begrifflichkeit neu gedeutet werden muss.

Schon immer haben Gehörlose untereinander Gebärden benutzt. Der französische Priester Michel de l´ Epée hat die Sprache systematisiert. Leider wurden dann 1880 Gebärden im Schulunterricht verboten. Mit der Anerkennung der Gebärdensprache als vollständige Sprache, wird sie heute auch teilweise im Unterricht für gehörlose Schüler und Schülerinnen verwendet.

Besagter Michel de l´ Epée hat zunächst ein Fingeralphabet entwickelt, dass in Abänderungen heute als internationales Fingeralphabet bekannt ist. Dieses Fingeralphabet, bei dem jeder Buchstabe eine besondere Fingerstellung einer Hand hat, wird ausschließlich für Fremdwörter und Eigennamen, für die es (noch) keine Gebärde gibt, benutzt.

Bei den Gebärden unterscheidet man zwischen Lautsprachbegleitenden Gebärden und der Deutschen Gebärdensprache. Die Deutsche Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache mit eigener Grammatik und Syntax, in der auch ganze Phrasen als eine Gebärde zusammengefasst sein können. Die Lautprachtbegleitenden Gebärden sind eine Visualisierung der gesprochen deutschen Sprache, also ein Zeichen für (fast) jedes Wort. Schwerhörigen und mehrfachbehinderten Menschen ist mit dieser Form oftmals sehr geholfen.

Wie Hörende mit Tauben Sprechen Können

Sowohl für hörende, als auch für gehörlose Menschen gibt es einige einfache Grundregeln, die eine Kommunikation wesentlich erleichtern.

Was können Gehörlose tun?

  • Der Gehörlose sollte selbst langsam und deutlich sprechen, dabei mit Gestik beziehungsweise Gebärden begleiten, denn so können Hörende leichter verstehen.
  • Sagen, was man verstanden hat, und sofort nachfragen, wenn man etwas nicht verstanden hat.
  • Bei allen Gesprächen mit mehreren Personen, zum Beispiel bei Vorträgen, Versammlungen sowie beim Arzt, bei Behörden oder bei Personalgesprächen, sollte ein Dolmetscher für Gebärdensprache dabei sein.

Was können Hörende tun?

  • Wenden Sie Ihr Gesicht dem Gehörlosen zu. Es soll gut beleuchtet sein.
  • Sprechen Sie in normaler Lautstärke, deutlich, langsam und ohne Dialekt.
  • Nennen Sie ihr Gesprächsthema am Anfang.
  • Verwenden Sie einfache Wörter, konkrete und kurze Sätze in einer geordneten Form.
  • Zeigen Sie, machen Sie vor, was Sie meinen.
  • Setzen Sie Gestik und Mimik ein.

Helen Keller: Ein Leben im Dunkeln und in der Stille

Helen Keller war eine taubblinde amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin. Sie wurde 1880 in Tuscumbia (Alabama) geboren und verlor im Alter von 19 Monaten ihr Seh- und Hörvermögen infolge einer Krankheit.

Im März 1887 holten Helens Eltern die 21-jährige Lehrerin Anne Sullivan zu sich. Von ihr lernte Helen, sich mittels Fingeralphabet zu verständigen. Sie eignete sich außerdem die Brailleschrift an. Beide Frauen blieben bis zu Sullivans Tod 1936 eng verbunden.

Ab 1900 besuchte Helen Keller das Radcliffe College, lernte unter anderem Deutsch und Französisch und schloss ihr Bachelorstudium 1904 mit guten Noten (cum laude) ab. Sie war die erste Taubblinde, die an einem amerikanischen College einen Abschluss gemacht hat.

Helen Keller startete eine über 40-jährige Karriere als Lobbyistin für eine bessere, gerechtere Welt. Sie setzte sich für die Rechte von Behinderten, Farbigen und Frauen ein. Sie befasste sich mit dem Aufkommen des Faschismus in Europa und später mit der Atomkraft.

Am 1. Juni 1968 starb Helen Keller.

Barrierefreiheit für Gehörlose

Barrierefreiheit ist nicht nur eine Frage der Technik, sondern auch der Zielgruppen und ihrer Bedürfnisse. Untertitel sind für viele Menschen mit Hörbehinderung eine bewährte und oft bevorzugte Lösung. Gebärdenavatare können als alternative noch nicht überzeugen, da sie bislang keine natürliche Mimik und Dialekte darstellen können, was ihre Verständlichkeit einschränkt.

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