Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark betrifft. In Deutschland sind etwa 250.000 Menschen an MS erkrankt. Die Erkrankung tritt zumeist im jungen Erwachsenenalter auf, typischerweise zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, kann aber auch bei Kindern oder im höheren Erwachsenenalter erstmals auftreten. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. MS ist eine Erkrankung mit tausend Gesichtern, und die Symptome sind vielfältig und können sich im Laufe der Zeit verändern.
Sehstörungen als frühes Symptom der MS
Sehstörungen sind ein häufiges Symptom bei MS und können bereits früh im Krankheitsverlauf auftreten. Bei mehr als einem Drittel der Betroffenen stellen Beeinträchtigungen des Sehens sogar das erste Anzeichen dar, mit denen sich die MS bemerkbar macht. Studien zeigen, dass visuelle Beeinträchtigungen bei etwa 62,9 % der Kinder und 70,0 % der Erwachsenen zu Beginn der Erkrankung auftreten.
Formen von Sehstörungen bei MS
Bei MS kann es zu verschiedenen Formen von Sehstörungen und Symptomen kommen:
- Sehnerventzündung (Optikusneuritis): Ein entzündeter Sehnerv ist eine der häufigsten Ursachen für Sehstörungen bei MS. Dabei können die Signale zwischen den Augen und dem Gehirn nicht vollständig übertragen werden, was unter anderem zu verschwommenem Sehen und sogar vorübergehendem Sehverlust führen kann. Auch Farbsehstörungen sind möglich: Patienten können Schwierigkeiten haben, verschiedene Farben zu unterscheiden, insbesondere rot und grün - zudem können Farben blass wirken. Eine veränderte Farbwahrnehmung kann ein frühes Zeichen einer Sehnerventzündung sein. Bei einigen Patienten treten auch Gesichtsfeldausfälle durch unregelmäßig verteilte Flecken auf dem wahrgenommenen Bild auf. Teilweise kommen noch Lichtphänomene hinzu, die als Blitze im Gesichtsfeld wahrgenommen werden. Zudem kann die Bewegung des Auges bei einem entzündeten Sehnerv mit Schmerzen verbunden sein. All diese Symptome sind oft einseitig.
- Doppelbilder (Diplopie): MS kann auch die Muskeln, die die Augenbewegungen steuern, beeinträchtigen. Eine mögliche Folge ist das Sehen von Doppelbildern - dies geschieht, wenn die Augen nicht richtig ausgerichtet sind.
- Nystagmus (Augenzittern): Dabei handelt es sich um eine unkontrollierte Bewegung der Augen, die das Sehen beeinträchtigen kann - die Augen sind dabei nicht mehr bewusst steuerbar. Nystagmus kann sowohl horizontal als auch vertikal auftreten und ebenfalls ein frühes MS-Symptom darstellen.
- Uhthoff-Phänomen: Hierbei führt eine Wärmeeinwirkung (z. B. durch Sport oder ein heißes Bad) zu einer vorübergehenden Verschlechterung des Sehvermögens.
Optikusneuritis: Entzündung des Sehnervs als Ursache für Sehverlust
Die Optikusneuritis (ON) ist eine Entzündung des Sehnervs, der das Auge mit dem Gehirn verbindet. Sie ist eine der häufigsten Ursachen für Sehverlust bei MS-Patienten. Die Inzidenz der Optikusneuritis liegt in Mitteleuropa bei etwa 5 pro 100.000/Jahr. Das Durchschnittsalter liegt bei 36 Jahren, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer.
Ursachen der Optikusneuritis
Im Gegensatz zu anderen Entzündungen im Bereich des Auges wird eine Entzündung des Sehnervs nicht durch Bakterien oder Viren ausgelöst, sondern durch die Immunabwehr. Das bedeutet, dass körpereigene Abwehrzellen in einer Autoimmunreaktion eigenes Gewebe, in diesem Fall Fasern des Sehnervs, angreifen und die Entzündung auslösen. Eine Sehnervenentzündung geht häufig mit einer systemischen Autoimmunerkrankung einher, die mehrere Organe und Bereiche des Körpers betrifft. Sehr viel häufiger tritt eine Sehnervenentzündung jedoch im Zusammenhang mit einer Multiplen Sklerose auf.
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In den westlichen Ländern ist Multiple Sklerose die häufigste Ursache für eine Optikusneuritis (typische Form). Bis zu 70 % der MS-Patienten erleiden im Krankheitsverlauf mindestens eine Sehnervenentzündung; in etwa einem Drittel der Fälle tritt diese als Erstmanifestation auf. Die zweite typische Sehnervenentzündung ist die idiopathische Optikusneuritis, bei der trotz gründlicher Evaluation keine Ursache gefunden werden kann.
Atypische Optikusneuritiden treten auf als Manifestation einer Autoimmunerkrankung, zum Beispiel bei Neuromyelitis-optica-Spektrum-Störungen (NMOSD), Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper-assoziierter Erkrankung (MOGAD), Chronisch rezidivierender Immunoptikusneuropathie (CRION), Sarkoidose oder Systemischem Lupus erythematodes (SLE), infektiös/parainfektiös, unter anderem bei Lyme-Borreliose, Syphilis, Neuroretinitis, Akuter disseminierter Enzephalomyelitis (ADEM), Meningitis, Tuberkulose, Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) oder lokaler Ausbreitung einer Sinusitis, Retinitis und Uveitis, postinfektiös bzw. postvakzinal.
Daneben gibt es noch seltene Ursachen wie Diabetes, perniziöse Anämie, Arteriitis temporalis, Insektenstiche, Traumata, Tumormetastasen im Sehnerv, Strahlentherapie im Schädelbasisbereich oder Noxen wie Blei, Thallium, Methanol, Nikotin und Arsen sowie Arzneimittel, insbesondere Ethambutol und Tamoxifen.
Symptome der Optikusneuritis
Typische Symptome einer Optikusneuritis sind:
- Augenschmerzen: Vor allem wenn das Auge beim Wechsel der Blickrichtung bewegt wird. Diese Schmerzen treten meist plötzlich auf.
- Sehverschlechterung: Innerhalb von Stunden bis Tagen kommt es zu einer deutlichen Sehverschlechterung des betroffenen Auges. Betroffene beschreiben ihren Seheindruck dann als unscharf oder nebelartig, kontrastarm und dunkler.
- Farbsehstörungen: Farben werden als schmutzig und blass wahrgenommen.
- Gesichtsfeldausfälle: Zentrale oder parazentrale Skotome (Gesichtsfelddefekte).
- Pulfrich-Phänomen: Das Hin- und Herpendeln eines Gegenstands parallel zur Gesichtsebene wird als elliptische oder schraubenförmige Bewegung erlebt.
- Uhthoff-Phänomen: Verschlechterung des Sehvermögens bei Erhöhung der Körpertemperatur.
Diagnose der Optikusneuritis
Wenn Sie unter Augenschmerzen leiden und/oder eine Sehverschlechterung bemerken, sollten Sie zügig eine augenärztliche Praxis aufsuchen. Ein Augenarzt oder eine Augenärztin wird insbesondere dann eine Sehnerventzündung vermuten, wenn Sie sowohl Schmerzen als auch eine Sehverschlechterung haben. Wenn folgende Merkmale zutreffen, gilt die Diagnose einer Sehnerventzündung als wahrscheinlich:
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- Erkrankungsalter zwischen 18 und 50 Jahren
- Einseitigkeit
- Bewegungsschmerz
- Plötzlicher Beginn der Beschwerden und selbstständige Besserung
Ist dies nicht der Fall, kann es sich auch um eine seltene Sonderform der Sehnerventzündung handeln.
Bei der Diagnose einer Sehnerventzündung ist die Frage nach der Ursache sehr wichtig. Es besteht ein enger Zusammenhang mit der MS. Ihr Augenarzt oder Ihre Augenärztin wird es daher nicht bei dieser Diagnose belassen, sondern Sie an eine Facharztpraxis für Neurologie (Nervenheilkunde) überweisen. Dort wird untersucht, ob der Entzündung des Sehnervs eine MS zugrunde liegt oder ein erhöhtes MS-Risiko besteht. Eine wichtige Untersuchung ist die Magnetresonanztomographie (MRT). Sie kann nicht nur die Entzündung des Sehnervs direkt sichtbar machen, sondern auch typische Veränderungen im Gehirn, die auf eine bestehende MS oder ein erhöhtes MS-Risiko hinweisen. Weitere Laboruntersuchungen können sich anschließen, insbesondere bei einem erstmaligen Auftreten oder einem untypischen Krankheitsbild.
Behandlung der Optikusneuritis
Die Schmerzen im Auge und die Sehverschlechterung bessern sich in der Regel auch ohne Behandlung, was ja gerade ein Merkmal der Sehnerventzündung ist. Es gibt Medikamente, die die Erholung des Sehvermögens beschleunigen oder das Rückfallrisiko verringern können. Das ist ein wichtiger Aspekt, denn das Rückfallrisiko bei einer Sehnerventzündung kann hoch sein. Wie Ihr Augenarzt oder Ihre Augenärztin die Entzündung konkret behandelt, ist eine individuelle Entscheidung. Häufig wird eine kurzzeitige hochdosierte Kortisontherapie angewendet.
Eine akute Entzündung des Sehnervs kann beispielsweise durch Kortikosteroide therapiert werden. Physiotherapie kann dazu beitragen, die Augenmuskulatur zu stärken und die Koordination zu verbessern. Und nicht zuletzt können Hilfsmittel zum Einsatz kommen - etwa spezielle Brillen oder prismatische Linsen, um Doppelbilder zu korrigieren. Ihr Neurologe oder Augenarzt können hier weiterhelfen.
Ein wesentlicher Faktor, um Schübe - und damit auch MS-bedingte Sehstörungen - zu verhindern und den Krankheitsverlauf zu verlangsamen, ist die verlaufsmodifizierende MS-Therapie (DMT).
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Prognose der Optikusneuritis
Weil eine Sehschwäche nur in seltenen Fällen dauerhaft bestehen bleibt, ist die Prognose für die Sehnerventzündung selbst gut. Eine grundsätzlich andere Frage sind die Behandlung einer möglichen MS beziehungsweise Vorsorgemaßnahmen. Tritt eine Sehnerventzündung im Rahmen eines MS-Schubs auf, folgt dir Behandlung den Richtlinien der MS-Therapie. Hier stehen Arzneimittel zur Verfügung, die beispielsweise Veränderungen im Gehirn begrenzen, die Zahl der MS-Schübe reduzieren und damit den Krankheitsverlauf verlangsamen können.
Mehr als die Hälfte der Menschen mit einer Sehnerventzündung erreicht auch ohne Behandlung nach zwei Monaten wieder eine normale Sehschärfe, nach einem halben Jahr sind es fast alle.
Multiple Sklerose: Behandlung und Management
Die Multiple Sklerose ist bislang nicht heilbar, aber gut behandelbar. Die Therapie der MS hat durch die Einführung einer wirkungsvollen Schubbehandlung und einer vorbeugenden Langzeittherapie in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht.
Ziele der MS-Behandlung
Das Ziel der Behandlung ist eine bestmögliche Kontrolle der Entzündungsaktivität, wobei gleichzeitig ein besonderes Augenmerk auf der Verbesserung der motorischen Fähigkeiten, dem Erhalt der Alltagskompetenz, der Selbstständigkeit sowie der Berufs- bzw. Erwerbsfähigkeit liegt. Es ist wichtig, dass bei Betroffenen ein sozialer Rückzug und Depressionen vermieden werden, wodurch sich letztlich auch die Lebensqualität entscheidend verbessert. Die vorbeugende immunprophylaktische Therapie kann eine mögliche spätere Behinderung verhindern oder verzögern.
Therapieansätze bei MS
- Schubtherapie: Cortison als Infusion oder Tablette hilft, die Beschwerden bei einem Schub schneller abklingen zu lassen. Seltener und unter bestimmten individuellen Voraussetzungen kann auch eine Blutwäsche zur Anwendung kommen. Dabei entfernt man jene körpereigenen Immunzellen, die die Entzündung verursachen.
- Immuntherapie: Beeinflusst bei MS das fehlgesteuerte Immunsystem, indem sie dieses verändert (immunmodulierend) oder dämpft (immunsuppressiv). Am wirksamsten sind speziell entwickelte Antikörper. Sie verhindern das Eindringen von bestimmten Immunzellen ins Gehirn oder reduzieren ihre Konzentration im Blut. Dadurch können diese Zellen keine Entzündungen mehr auslösen. Mittlerweile gibt es gut 20 Immuntherapie-Mittel (Stand: April 2023), einige davon auch für die sekundär oder primär progrediente MS. Das ermöglicht weitgehend individuell zugeschnittene Behandlungspläne.
- Symptomatische Therapie: Behandlung von Folgesymptomen wie Spastik, Fatigue, Blasenstörungen etc. Dazu gehören physiotherapeutische, logopädische und ergotherapeutische Therapien.
- Lifestyle-Anpassungen: Regelmäßige körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, Vermeidung von Rauchen und Stress.
Leben mit MS
Mit einer MS einher kann eine Reihe von Folgesymptomen auslösen. Viele Folgesymptome lassen sich medikamentös oder mit anderen Maßnahmen behandeln. Dazu gehören physiotherapeutische, logopädische und ergotherapeutische Therapien. MS ist eine chronische Erkrankung. Eine ursächliche Therapie, also ein Medikament, das Multiple Sklerose (MS) heilt, gibt es noch nicht. Aber: Mithilfe der zahlreichen Therapieoptionen und der aktiven Vermeidung von Risikofaktoren und Umstellung seines Lebensstils lässt sich die Erkrankung heute gut kontrollieren. Die allermeisten Menschen mit Multipler Sklerose (MS) können ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen und lange Zeit mobil bleiben.