Einführung
Im Verlauf einer Demenzerkrankung entwickeln viele Betroffene psychische und Verhaltensauffälligkeiten, die als "Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia" (BPSD) bezeichnet werden. Diese Symptome, die von Depressionen und Angstzuständen bis hin zu Agitation und Aggression reichen können, stellen oft eine größere Belastung für die Angehörigen und das Pflegepersonal dar als die kognitiven Einschränkungen selbst. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von BPSD, um ein besseres Verständnis für diese komplexen Symptome zu schaffen und sowohl medikamentöse als auch nicht-medikamentöse Therapieansätze aufzuzeigen.
Definition und Häufigkeit von BPSD
Psychische und Verhaltenssymptome (BPSD) treten sehr häufig im Rahmen von Demenzerkrankungen auf. Sie umfassen affektive Symptome, Veränderungen des Antriebs (Hyperaktivität bzw. Apathie), psychotische Symptome und Verhaltenssymptome. Die Prävalenz von Demenz liegt bei etwa 10,5 % der Bevölkerung ab 65 Jahren, wobei ca. 65 % davon psychische und Verhaltenssymptome zeigen.
Symptome von BPSD
Die Symptome von BPSD sind vielfältig und können sich individuell unterschiedlich äußern. Zu den häufigsten Symptomen gehören:
- Affektive Symptome: Depression, Angst, Reizbarkeit, Affektlabilität (Stimmungsschwankungen)
- Veränderungen des Antriebs: Apathie (Antriebslosigkeit, Rückzugsverhalten, Initiativarmut), Agitation (Unruhe, gesteigerte Aktivität)
- Psychotische Symptome: Wahnvorstellungen (z.B. Bestehlungswahn, Verfolgungswahn), Halluzinationen (v.a. optische Halluzinationen bei Lewy-Körperchen-Demenz)
- Verhaltenssymptome: Aggression, Enthemmung, Schlafstörungen, Appetitstörungen, Zwangsstörungen, stereotypes Verhalten, Umherwandern
Ursachen von BPSD
Die Ursachen für BPSD sind multifaktoriell und komplex. Es wird angenommen, dass eine Kombination aus biologischen, psychologischen und umweltbedingten Faktoren eine Rolle spielt.
Biologische Ursachen
- Neurodegenerative Prozesse: Die fortschreitenden neurobiologischen Veränderungen im Gehirn, die der Demenz zugrunde liegen, führen zu Störungen in verschiedenen Hirnregionen und Neurotransmittersystemen. Dies kann sich in Veränderungen des Verhaltens und der psychischen Verfassung äußern. Die metabolische Hypothese favorisiert eine Dysregulation der Hypophysen-Hypothalamus-Nebennierenrinden-Achse ("Stress-Achse") und eine resultierende Imbalance im Transmittersystem mit Auftreten von Wahn (Dopamin) und depressiver Symptomatik (Serotonin).
- Demenztyp: Die Art der Demenz kann beeinflussen, welche BPSD-Symptome vorwiegend auftreten. So überwiegen bei vaskulären Demenzen eher depressive Symptome, Angstzustände und Stimmungsschwankungen, während Lewy-Körperchen-Demenzen oft mit visuellen Halluzinationen und psychotischen Symptomen verbunden sind. Die Frontotemporale Demenz (FTD) hingegen zeigt u.a. überwiegend Enthemmungsphänomene mit Auffälligkeiten im Sozialverhalten, Agitation sowie Verhaltensstereotypien.
- Somatische Erkrankungen: Körperliche Beschwerden wie Schmerzen, Infektionen oder Stoffwechselstörungen können BPSD-Symptome auslösen oder verstärken. Insbesondere Schmerzen werden bei Demenzkranken oft nicht erkannt oder adäquat behandelt, was zu unspezifischem Gequältsein und Aggressivität führen kann. Auch internistische Erkrankungen (Hyperthyreose, Harnwegsinfekte) können Aggressivität auslösen.
Psychologische und umweltbedingte Ursachen
- Defizitorientierter Umgang: Ein defizitorientierter Umgang mit Demenzpatienten, bei dem sie ständig mit ihren Einschränkungen konfrontiert werden, kann zu Frustration, Aggressivität oder Depressivität führen.
- Unerfüllte Bedürfnisse: Unerfüllte Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit, sozialer Interaktion oder Beschäftigung können BPSD-Symptome hervorrufen.
- Traumatische Erfahrungen: Traumatisierungen in der Vergangenheit, wie z.B. Kriegserlebnisse, können im Rahmen einer Demenz wieder in den Vordergrund treten und zu Angstzuständen, Schlafstörungen oder Aggressivität führen.
- Veränderte Wahrnehmung: Durch die kognitiven Defizite, wie Desorientierung, Wortfindungsstörungen (Aphasie) oder Störung der Gesichtserkennung (Prosopagnosie), kann eine veränderte Wahrnehmung der Umwelt zu Verhaltensstörungen beitragen.
- Psychosoziale Faktoren: Schwierige psychosoziale Situationen wie Verluste, Umzug ins Heim oder soziale Isolation können BPSD-Symptome verstärken.
Diagnostik von BPSD
Eine umfassende Diagnostik ist entscheidend, um die Ursachen von BPSD zu erkennen und eine geeignete Behandlung einzuleiten. Die Diagnostik umfasst in der Regel:
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- Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte, der aktuellen Symptome und der Lebensumstände des Patienten. Dabei ist die Fremdanamnese durch Angehörige oder Pflegepersonal von großer Bedeutung.
- Körperliche Untersuchung: Um somatische Ursachen für die BPSD-Symptome auszuschließen.
- Neuropsychologische Testung: Zur Erfassung der kognitiven Fähigkeiten und zur Beurteilung des Schweregrads der Demenz.
- Psychiatrische Untersuchung: Beurteilung des psychischen Zustands, Erfassung von Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Depressionen oder Angstzuständen.
- Neuropsychiatrische Testung: Einsatz standardisierter Testverfahren zur Erfassung von BPSD, wie z.B. die Neuropsychiatric Inventory (NPI).
- Erfassung relevanter Faktoren: Berücksichtigung von Faktoren wie Wohnumgebung, Medikation, Versorgungssituation und soziale Kontakte.
- Differenzialdiagnostik: Abgrenzung von anderen organischen bzw. primären psychischen Erkrankungen sowie Reaktion auf Schmerzen. Abgrenzung vom Delir als Verwirrtheitszustand mit organischer Ursache, Bewusstseinsänderung, gestörter Aufmerksamkeit, vegetativen Symptomen und anderen kognitiven Defiziten.
Therapie von BPSD
Die Therapie von BPSD sollte multimodal sein und sowohl nicht-medikamentöse als auch medikamentöse Ansätze umfassen. Dabei sollte immer zuerst versucht werden, die Ursachen der BPSD-Symptome zu erkennen und zu behandeln.
Nicht-medikamentöse Therapie
Nicht-medikamentöse Interventionen sollten immer die erste Wahl bei der Behandlung von BPSD sein. Sie umfassen eine Vielzahl von Ansätzen, die darauf abzielen, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, ihre Autonomie zu fördern und ihre Symptome zu lindern. Zu den wichtigsten nicht-medikamentösen Therapieverfahren gehören:
- Milieutherapie: Schaffung einer sicheren, vertrauten und reizarmen Umgebung. Anpassung der Umgebung an die Bedürfnisse des Patienten (z.B. gute Beleuchtung, Vermeidung von Stolperfallen, Orientierungshilfen).Das von der Autorin entwickelte ganzheitliche MIBUK-Programm schließt diese Lücke in der nichtmedikamentösen Therapie von BPSD, indem es über fünf sinnstiftende Prinzipien (Milieugestaltung, Interaktion, Biografiearbeit, Uraschenanalyse, Kreativität) adäquat und professionell auf herausforderndes Verhalten antwortet.
- Personenzentrierte Pflege: Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse, Vorlieben und der Biografie des Patienten. Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und валидирующего Kommunikation.
- Aktivierungstherapie: Förderung der körperlichen und geistigen Aktivität durch gezielte Angebote wie Bewegungstherapie, Ergotherapie, Gedächtnistraining oder kreative Aktivitäten (Musik-, Kunst-, Tanztherapie).
- Sensorische Stimulation: Einsatz von sensorischen Reizen wie Aromatherapie, Snoezelen, Massagen oder Lichttherapie, um das Wohlbefinden zu steigern und Stress abzubauen.
- Soziale Interaktion: Förderung sozialer Kontakte und Teilhabe durch Gruppenaktivitäten, Besuche von Angehörigen oder ehrenamtlichen Helfern.
- Psychoedukation: Schulung von Angehörigen und Pflegepersonal im Umgang mit BPSD, валидирующего Kommunikation und Stressmanagement.
- Validation: Akzeptieren der Gefühle und Bedürfnisse des Patienten, auch wenn sie nicht rational erscheinen. Versuch, die Welt aus seiner Perspektive zu verstehen und ihm das Gefühl zu geben, verstanden und wertgeschätzt zu werden.
- Erinnerungstherapie: Nutzung von Erinnerungen und biografischen Bezügen, um die Identität und das Selbstwertgefühl des Patienten zu stärken.
- Anpassung von Einflussfaktoren: Berücksichtigung und Anpassung von Faktoren wie Umgebung, Kommunikation, Komorbiditäten und Schmerzen.
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie von BPSD sollte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn nicht-medikamentöse Maßnahmen nicht ausreichend wirksam sind und die Symptome eine erhebliche Belastung für den Patienten oder seine Umgebung darstellen. Dabei ist zu beachten, dass Psychopharmaka bei älteren Menschen mit Demenz oft mit einem erhöhten Nebenwirkungsrisiko verbunden sind.
- Antidementiva: Acetylcholinesteraseinhibitoren (Donepezil, Galantamin, Rivastigmin) und Memantin können bei einigen Patienten mit Alzheimer-Demenz auch eine Besserung der BPSD-Symptome bewirken.
- Antidepressiva: Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) können bei Depressionen im Rahmen einer Demenz wirksam sein. Allerdings ist die Evidenzlage nicht eindeutig und es gibt Hinweise darauf, dass Antidepressiva bei Demenzkranken weniger wirksam sind als bei Menschen ohne Demenz.
- Antipsychotika: Atypische Neuroleptika (Risperidon, Quetiapin, Olanzapin, Aripiprazol) können bei Agitation, Aggression und psychotischen Symptomen eingesetzt werden. Allerdings ist zu beachten, dass Antipsychotika bei Demenzkranken mit einem erhöhten Risiko für Schlaganfälle und Tod verbunden sind. Daher sollten sie nur in niedriger Dosierung und über einen begrenzten Zeitraum eingesetzt werden. Bei Demenz mit Lewy-Körperchen sind Clozapin und Quetiapin ohne Verschlechterung der Parkinsonsymptomatik geeignet.
- Weitere Medikamente: In Einzelfällen können auch andere Medikamente wie Stimmungsstabilisierer (Carbamazepin, Valproinsäure), Angstlöser (Benzodiazepine) oder Schlafmittel eingesetzt werden. Benzodiazepine sollten allenfalls kurzfristig eingesetzt werden. Es bestehen Abhängigkeitspotenzial, erhöhte Sturzgefahr sowie Depressiogenität. Wenn notwendig, sollten Oxazepam oder Lorazepam, die ihre Halbwertszeit im Alter nicht erhöhen, verwendet werden.
Medikamentöse Therapie in besonderen Situationen
- Schmerzen: Bei Schmerzen sollten Analgetika eingesetzt werden. Dabei ist zu beachten, dass Demenzkranke ihre Schmerzen oft nicht adäquat mitteilen können, weshalb eine sorgfältige Beobachtung und Schmerzerfassung wichtig ist.
- Schlafstörungen: Bei Schlafstörungen sollten zunächst nicht-medikamentöse Maßnahmen wie Schlafhygiene und Lichttherapie versucht werden. Wenn diese nicht ausreichend wirksam sind, können kurzfristig Schlafmittel eingesetzt werden.
- Delir: Bei einem Delir müssen die auslösenden Faktoren (z.B. Infektionen, Medikamente) behandelt werden. Zudem können Neuroleptika zur Beruhigung eingesetzt werden.
Ethische Aspekte
Bei der Behandlung von BPSD sind ethische Aspekte von großer Bedeutung. Insbesondere bei freiheitseinschränkenden Maßnahmen und pharmakologischer Intervention gilt es, das Bedürfnis nach Autonomie und Freizügigkeit der Demenzkranken zu berücksichtigen. Auch der Einsatz von Überwachungstechnologien und simulierter Präsenztherapie sollte kritisch hinterfragt werden.
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