Carl Friedrich Gauß: Die Suche nach der Genialität im Gehirn

Die systematische Erforschung der Gehirne von Ausnahmepersönlichkeiten begann im Jahr 1856. Damals konservierte der Physiologe Rudolf Wagner das Gehirn des kurz zuvor verstorbenen deutschen Mathematikers Carl Friedrich Gauß, der so etwas wie der Einstein seiner Zeit war. Es war der Startschuss für die Erforschung der Gehirne zahlreicher Gelehrter, Künstler und Politiker. Die Hoffnung vieler Hirnforscher: Ein paar Schnitte durchs Gehirn und schon offenbart sich der Ursprung für Genialität. Doch ganz so einfach ist es nicht. Nach dem Tod leben die Gehirne einiger bedeutender Persönlichkeiten weiter: in Form von Forschungsobjekten, in anatomischen Sammlungen, auf Zeichnungen, Fotografien und Computerbildern - stets mit der Hoffnung, die Genialität dieser Menschen mit der Form und Struktur des Gehirns erklären zu können.

Die Anfänge der Elitegehirnforschung

Die Anfänge dieser "Elitegehirnforschung" reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Inspiriert von der Phrenologie, der Schädellehre von Franz Gall, suchten Wissenschaftler nach anatomischen Korrelaten für außergewöhnliche Geistesleistungen. Gall verband geistige Eigenschaften wie Talente und Neigungen mit verschiedenen Regionen des Gehirns. Damit schuf er die Voraussetzung für die moderne Hirnforschung, die ebenfalls bestimmte Hirnregionen mit bestimmten Funktionen in Verbindung bringt, allerdings mit anderen als Gall. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erkannten die Wissenschaftler, dass nur der Blick auf das Gehirn selbst wissenschaftliche Erkenntnisse versprechen würde. Sie vermaßen dessen Größe, Gewicht und Form, prüften und verglichen. Konnte Beethoven so außergewöhnlich komponieren, weil sein Gehirn so viele Windungen hatte? War Lord Byron ein so herausragender Poet, weil sein Gehirn so viel wog?

Das Gehirn von Carl Friedrich Gauß: Ein Tausch mit Folgen

Carl Friedrich Gauß (1777-1855) war ein überragender Wissenschaftler seiner Zeit, an den heute weit mehr als nur die Gaußsche Normalverteilung erinnert. Zu verdanken hat die Universität dies dem Wissensdrang von Rudolf Wagner. Als Gauß am 23. Februar 1855 im Alter von 77 Jahren gestorben war, machte sich der Physiologe nämlich an die Arbeit. Wagner gelangte 1855 an ein Gehirn, das die Suche nach der Anatomie des Genies auslöste. Er entnahm dem Toten das Gehirn, maß Größe, Gewicht und Hirnwindungen. Etwas Besonderes konnte er allerdings nicht feststellen. Das Gauß-Gehirn war weder besonders schwer, noch hatte es andere oder gar fehlende Windungen im Vergleich zu den Gehirnen Göttinger Normalbürger.

Die Untersuchung von Gauß' Gehirn zeigte tatsächlich hinsichtlich der Hirnwindungen ein außergewöhnliches Gehirn, aber ihre Form und Anordnungen waren nicht spezifisch und erklärten nicht seine außerordentlichen Fähigkeiten. Er wollte mit Hilfe des Gauß-Gehirns zeigen, dass manche menschlichen Eigenschaften jenseits der Anatomie liegen. Er dachte etwa an eine immaterielle Seele.

Nun haben jedoch Untersuchungen ergeben, dass das in einer Sammlung der Universitätsmedizin Göttingen archivierte Gehirnpräparat mit dem Etikett „C. F. Gauss“ gar nicht dem Mathematiker, Astronomen und Physiker gehörte. Sondern dem Göttinger Mediziner Conrad Heinrich Fuchs. Beide Gehirne seien vertauscht worden, und das vermutlich bereits bald nach beider Tod im Jahr 1855. Zu diesem überraschenden Schluss ist Renate Schweizer, Neurowissenschaftlerin an der Biomedizinischen NMR Forschungs GmbH am Göttinger Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, gekommen. Rund 50 Jahre lang hat das Mathe-Genie Carl Friedrich Gauß in Göttingen geforscht.

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Die Entdeckung des Irrtums

Renate Schweizer vermutete am Gauß-Gehirn eine seltene anatomische Variation: eine sichtbare Zweiteilung der Zentralfurche. Auf MRT-Bildern des vermeintlichen Gauß-Gehirns von 1998 hatte sie diese Zweiteilung entdeckt. Nun lagern die Gehirne richtig beschriftet in der Sammlung.

Schweizers Besuch in der Sammlung im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin bestätigt ihren ersten Verdacht: Das Originalgehirn von Gauß befindet sich tatsächlich im Glasgefäß mit der Aufschrift „C. H. Fuchs“. Das Fuchs-Gehirn wiederum ist etikettiert mit „C. F. Gauss“. Weitere vergleichende Arbeiten zu den Gehirnen von Gauß und Fuchs gab es nicht. Und so fiel die Verwechslung später niemandem auf.

Die Bedeutung der Korrektur

Dass die Gehirne von Gauß und Fuchs jetzt korrekt zugeordnet sind, ist auch eine wichtige Information für die Göttinger Gauß-Gesellschaft. Ihre Entdeckung zeigt, wie wichtig historische Sammlungen für die aktuelle Forschung sind. So konnte sie die Verwechslung eindeutig feststellen und die historischen Gehirne im Magnetresonanztomografen untersuchen.

Das Ergebnis der modernen Analyse

Die Göttinger Forscher betonen, dass sie nicht nach dem Genie in den Hirnwindungen suchen. Für sie stehe die langfristige Dokumentation im Vordergrund, um eine Basis für weitergehende Grundlagenforschung zu schaffen. Wissenschaftler haben das echte Gauß-Gehirn mittlerweile mit modernen bildgebenden Verfahren untersucht. Ergebnis: Die Analysen des falschen Gauß-Gehirns haben wohl nicht zu fehlerhaften Veröffentlichungen geführt. Das Gehirn des genialen Mathematikers und Astronomen sei ebenso wie das des Mediziners Fuchs anatomisch weitgehend unauffällig, hieß es. Beide ähnelten sich zudem in Größe und Gewicht. Die gefundenen altersbedingten Veränderungen seien für einen 78-jährigen Mann normal, berichtet der Neuropathologe Walter Schulz-Schaeffer.

Albert Einstein: Ein Hirn auf Reisen

Albert Einsteins Gehirn ist das wohl meist untersuchte Gehirn der Hirnforschung. Thomas Harvey machte sich 1955 gleich nach dem Tod Einsteins ans Werk. Er entnahm das Gehirn, zerkleinerte es in 240 Würfel und brachte es in zwei Einmachgläsern unter. Später fertigte er Dünnschnitte fürs Mikroskop an. Eigentlich wollte Einstein nach seinem Tod verbrannt werden. Und im Grunde hatte Harvey gar keine besondere Kompetenz auf dem Gebiet der Hirnanatomie. Wohl auch aufgrund dieser eigenwilligen Entscheidung verlor Harvey bald seine Approbation und musste sich von nun an als Fabrikarbeiter durchschlagen.

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Viele Studien haben sich inzwischen mit dem blumenkohlgroßen Klumpen befasst und immer war es ein anderes Merkmal, das als möglicher Ursprung der Genialität Beachtung fand. Einige Gehirne, wie etwa das von Albert Einstein oder Carl Friedrich Gauß, lagen jahrzehntelang unbeachtet im Schrank, bis man sie schließlich mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomographie erneut untersuchte. Besonders beim Gehirn von Albert Einstein erhoffte man sich Antworten auf die ganz großen Fragen.

Auffälligkeiten und ihre Interpretation

Mit 1,22 Kilogramm war es rund 145 Gramm leichter als vergleichbare Männergehirne, aber sonst gab es nichts Auffälliges. Lange Zeit wurde das Gehirn, welches nun in 240 Würfel in aller Welt verstreut war, kaum beachtet. Erst 1999 erregte eine erneute Untersuchung Aufsehen, bei der Sandra Witelson von der McMaster University in Hamilton, Ontario feststellte, dass ein Teil der Furche, die normalerweise durch den Parietallappen verläuft (Sylvische Fissur), bei Einstein fehlte. Von Arealen im Parietallappen hängen unter anderem sowohl mathematische Fähigkeiten ab, als auch das räumliche Vorstellungsvermögen. Sofort wurde die ungewöhnliche Ausformung mit Einsteins Genialität in Verbindung gesetzt. Allerdings fand man diese Besonderheit auch bei Persönlichkeiten, die keine besonders außergewöhnlichen mathematischen Fähigkeiten besaßen, so dass die fehlende Sylvische Furche letztendlich keine stichhaltige Begründung für Einsteins Genialität liefert. Zumindest aber haben US-amerikanische und chinesische Forscher 2013 in einer Studie festgestellt, dass Einsteins Hirnhälften außergewöhnlich stark miteinander verknüpft waren. Einstein besaß im Vergleich zu anderen Gehirnen einen ausgeprägteren Hirnbalken, der so genannte Corpus callosum. Die querverlaufende Struktur aus Nervenfasern verbindet beide Gehirnhälften miteinander. Auch die Gliazellen fanden neue Beachtung. Lange galten sie nur als „Kitt-Zellen“, die wie eine Art Leim die Neuronen zusammenhalten. Es gibt aber Hinweise darauf, dass sie mit den Neuronen kommunizieren und diese anregen könnten. Die Gliazellen fördern also ganz allgemein die Gehirnfunktion: Je mehr davon in der Hirnrinde, desto mehr leistet auch das Gehirn. Und tatsächlich fand man auch in Einsteins Gehirn im Verhältnis zu den Nervenzellen eine hohe Zahl an Gliazellen. Aber auch hier ist Vorsicht bei der Deutung geboten: Der Überschuss an Gliazellen muss nicht die Ursache von Einsteins genialen Gedanken gewesen sein; es könnte sich auch nur um eine einfache Korrelation handeln. Seine beiden Hirnhälften waren außergewöhnlich stark miteinander verknüpft, der Hirnbalken, der so genannte Corpus callosum war sehr ausgeprägt und es zeigte sich eine hohe Zahl an Gliazellen. Eindeutige Beweise für Einsteins Genialität sind diese Entdeckungen jedoch nicht.

Genie und Wahnsinn: Psychische Auffälligkeiten bei Genies

Auf eine andere Spur gelangt der Genieforscher, wenn er sich weitere geniale Persönlichkeiten anschaut. Vielen Berühmtheiten wird nachgesagt, dass sie psychisch auffällig waren. „Genie und Wahnsinn“ liegen nah beieinander, so hört man oft. Tatsächlich „litten“ Genies wie Glenn Gould, der große Jazz-Pianist Thelonious Monk und möglicherweise auch Albert Einstein unter dem Aspergersyndrom, einerVariante des Autismus. Dies vermutete zumindest der Cambridge-Professor Simon Baron-Cohen. Charakteristisch für das Asperger-Syndrom sind nämlich ebenfalls Schwierigkeiten, soziale Interaktionen zu verstehen, jedoch sind die Betroffenen sehr gut darin, Objekte zu klassifizieren und Details zu bemerken, wie Baren-Cohen beobachtete.

Inselbegabung: Außergewöhnliche Fähigkeiten trotz Einschränkungen

Wer sich für das Wesen der Genialität interessiert, stößt früher oder später auch auf das Phänomen der Inselbegabung. Die betroffenen Menschen (Savants) haben eine kognitive Behinderung oder eine anderweitige Entwicklungsstörung, sie können aber gleichwohl sehr spezielle außergewöhnliche Leistungen in einem kleinen Teilbereich vollbringen. Sie spielen etwa perfekt ein oder mehrere Musikinstrumente - ohne je Musikunterricht gehabt zu haben. Manche sprechen Dutzende von Sprachen, andere rechnen schneller als ein Taschenrechner, können sich aber beispielsweise nicht selbst die Schuhe zubinden. Etwa die Hälfte aller bekannten Inselbegabten sind zudem autistisch.

Hirnanatomische Besonderheiten bei Savants

Beim Blick ins Gehirn mithilfe eines MRTs zeigt sich tatsächlich eine Besonderheit: Der Hirnbalken, der bei Einstein noch so fabelhaft ausgebildet war, fehlt bei einigen Savants. Dass dies allein der Grund für deren besondere Begabung ist, scheint jedoch unwahrscheinlich. Es gibt Menschen, die ebenfalls ohne Balken im Gehirn auskommen, aber keine besonders auffälligen Fähigkeiten zeigen. Zudem ist das Savant-Syndrom nicht immer angeboren. Immer wieder sorgen Fälle für Aufsehen, wo sich jemand etwa nach einem Unfall oder Schlaganfall von heut auf morgen radikal verändert. Wie zum Beispiel der ehemalige Bauarbeiter Tommy McHugh aus England. Als dieser eine Hirnblutung erlitt und nach der OP aus dem Krankenhaus entlassen wurde, überkam ihm plötzlich der unstillbare Drang zu zeichnen und zu malen. Man weiß, dass bei einigen solcher Savants die linke Hirnhälfte geschädigt ist, genauer gesagt der orbitofrontale Cortex im linken vorderen Schläfenlappen. Zwar kursieren viele Mythen über die Aufgabenverteilung zwischen den beiden Hirnhälften. Die linke Hemisphäre ist jedoch unzweifelhaft spezialisiert auf viele Sprachprozesse, während räumliches Denken, Zahlenverständnis oder Gesichtserkennung eher rechts angesiedelt sind. Dies hat zu der Vorstellung geführt, dass bei manchen Savants die rechte Seite die Defizite der linken auszugleichen versucht, in dem neue Hirnbereiche benutzt werden. Manche Forscher vermuten auch, dass die rechte Hälfte durch die Verletzung plötzlich wie „befreit“ ist von der sonst dominanten linken Seite und dadurch die „schlummernden“ Fähigkeiten aktiviert werden. Die Besonderheit, dass Tommy McHugh nicht nur gemalt und gebildhauert, sondern auch gedichtet hat, also etwas, das von der linken Hirnhälfte gesteuert wird, ist dadurch nicht zu erklären.

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Kreativer Rausch durch Reizüberflutung

Wie viele hochkreative Menschen, schien auch McHugh wie in einem Rausch zu sein. Doch wie kommt es zu diesen kreativen Höchstleistungen? Normalerweise steuert der Schläfenlappen Verhaltensweisen wie Kontrollieren, Überdenken und Bewerten. Dadurch filtern wir Unwichtiges aus und konzentrieren uns auf das Wesentliche, auf die Eindrücke und Gedanken, die zur Bewältigung einer bestimmten Situation nötig sind. “Latente Inhibition” nennen Psychologen diese Fähigkeit. Tatsächlich ist bekannt, dass bei besonders kreativen Menschen diese latente Inhibition gering ist. Ähnlich arbeitete wohl auch McHughs verwandeltes Gehirn. Es kommt zu einer Überreizung, die zu ungewöhnlichen Gedankenverknüpfungen und somit zu kreativen Höchstleistungen führen kann. Womöglich wird dies durch eine Verletzung des Schläfenlappens verursacht. Auch der niederländische Maler Vincent van Gogh malte und dichtete am Ende seines Lebens wie im Rausch. Er litt möglicherweise an einer Schläfenlappen-Epilepsie. Die Gehirne Hochkreativer filtern viele unwichtige Informationen nicht aus. Diese fehlende „Latente Inhibition” führt bei ihnen zu kreativen Höchstleistungen.

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