Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die weltweit Millionen Menschen betrifft. Die Erkrankung ist durch Entzündungen und Vernarbungen der Myelinscheiden gekennzeichnet, die die Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark schützen. Dies führt zu einer Vielzahl von Symptomen, darunter Spastik, Schmerzen, Fatigue und Schlafstörungen. Obwohl es keine Heilung für MS gibt, zielen moderne Behandlungsansätze darauf ab, den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen und die Symptome zu lindern. In den letzten Jahren hat medizinisches Cannabis zunehmend an Bedeutung gewonnen als ergänzende Behandlungsoption bei MS.
Medizinisches Cannabis bei MS: Eine vielversprechende Option
Medizinisches Cannabis bezeichnet Arzneimittel auf Basis der Cannabispflanze, die bestimmte Anforderungen an Qualität und Reinheit erfüllen. Die Hauptwirkstoffe sind Cannabinoide, insbesondere Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Diese ähneln körpereigenen Endocannabinoiden, die auf das Endocannabinoid-System (ECS) einwirken, ein Netzwerk aus Rezeptoren, das u.a. Schmerz, Entzündung, Stimmung und Schlaf reguliert. Studien und Erfahrungsberichte legen nahe, dass Cannabinoide gezielt MS-Symptome lindern können. Seit 2017 können Ärzte Cannabisblüten und Cannabispräparate als Arzneimittel für Patienten mit einer schwerwiegenden Erkrankung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnen.
Linderung von Spastik durch Cannabis
Eines der häufigsten und belastendsten Symptome der MS ist die Spastik, die bis zu 84 % der MS-Patienten betrifft. Sie äußert sich in schmerzhaften Muskelverkrampfungen, die die Bewegungsfähigkeit einschränken. Mehrere placebokontrollierte Studien haben gezeigt, dass Cannabispräparate wie Nabiximols (z.B. Sativex®) die Spastik signifikant reduzieren und gleichzeitig die Schlafqualität verbessern können. Nabiximols ist ein Oromukosalspray, das eine Kombination aus THC und CBD enthält und in Deutschland zur Add-on-Behandlung der mittelschweren bis schweren Spastik bei MS zugelassen ist.
In einer Studie mit 630 MS-Patienten mit schwerwiegender Spastik (Ashworth-Skala >2 in >2 Muskelgruppen) erhielten die Teilnehmer entweder ein Cannabisprodukt (Dronabinol oder Cannador) oder ein Placebo für 15 Wochen. Die Ergebnisse zeigten, dass diejenigen, die eines der Cannabisprodukte einnahmen, signifikante Verbesserungen der Spastizität und Schlafqualität im Vergleich zu denjenigen erfuhren, welche das Placebo einnahmen.
Schmerzlinderung durch Cannabinoide
MS geht häufig mit neuropathischen Schmerzen einher, die durch Nervenschäden verursacht werden und oft schlecht auf klassische Schmerzmittel ansprechen. Cannabinoide beeinflussen Schmerzrezeptoren im Gehirn und Rückenmark und können dadurch Schmerzsignale abschwächen. Viele Patienten berichten auch von einer positiven Wirkung auf die chronische Erschöpfung (Fatigue) sowie auf depressive Verstimmungen.
Lesen Sie auch: Laura Papendick: Mehr als nur eine Moderatorin
Eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie aus dem Jahr 2005 zeigte, dass die Interventionsgruppe, die durchschnittlich 26 mg THC (Nabiximol) pro Tag einnahm, nach 4 Wochen eine 41%-ige Reduktion der Schmerzen (gegenüber einer 22%-igen Reduktion in der Placebogruppe) erzielen konnte. Eine andere Studie konnte 2015 zeigen, dass ein synthetisches orales THC-Imitat zusätzlich zur etablierten Therapie, auch bei schwer zu behandelnden neuropathischen Schmerzen, eine wirksame und gut verträgliche Option darstellte.
Weitere Anwendungsgebiete und Studienergebnisse
Neben Spastik und Schmerzen gibt es Hinweise darauf, dass Cannabinoide auch bei anderen MS-Symptomen Linderung verschaffen können:
- Schlafstörungen: Daten aus einem italienischen Register bestätigen Effekte jenseits der Spastik wie eine Verbesserung von Schlafstörungen und Stimmung, unabhängig von der initialen Response im Hinblick auf die antispastische Wirkung.
- Depressive Verstimmungen: Studien haben gezeigt, dass Cannabinoide stimmungsaufhellend wirken können, was für MS-Betroffene, die häufig unter Depressionen leiden, von Vorteil sein kann.
- Fatigue: Obwohl die Evidenzlage hier noch begrenzt ist, berichten einige Patienten von einerReduktion der Fatigue durch die Einnahme von Cannabis.
Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Forschungsergebnisse nicht immer einheitlich sind und weitere Studien erforderlich sind, um die Wirksamkeit von Cannabis bei verschiedenen MS-Symptomen abschließend zu beurteilen.
THC und CBD: Die wichtigsten Cannabinoide bei MS
Die beiden bekanntesten und am besten untersuchten Cannabinoide sind THC und CBD. THC wirkt vorrangig krampflösend, schmerzlindernd und stimmungsaufhellend, kann aber auch euphorisierend wirken. CBD ist nicht berauschend, wirkt entzündungshemmend, neuroprotektiv und angstlösend. Besonders wirksam bei MS haben sich Kombinationen aus THC und CBD im Verhältnis von 1:1 oder 2:1 gezeigt. Nabiximols (z. B. Sativex®) ist ein solches Kombinationspräparat.
Anwendung und Dosierung von medizinischem Cannabis
Die Anwendung von medizinischem Cannabis bei MS erfolgt individuell und sollte immer in Absprache mit einem Arzt erfolgen. Es gibt verschiedene Darreichungsformen, darunter:
Lesen Sie auch: Alltag mit MS: Richtige Ernährung
- Getrocknete Blüten: Die Blüten können schonend verdampft und inhaliert (z.B. mittels Vaporizer) oder zu Extrakten weiterverarbeitet werden.
- Cannabisextrakt: Die Gewinnung erfolgt aus den Blüten, wobei eine Verabreichung als Öle oder andere Darreichungsformen möglich ist. Vorteilhaft ist hierbei die kontrollierbare Dosierung.
- Oromukosales Spray: Nabiximols (Sativex®) ist ein in Deutschland zugelassenes Fertigarzneimittel auf Cannabis-Basis zur Add-on-Behandlung der mittelschweren bis schweren Spastik bei MS.
Die Dosierung wird schrittweise angepasst, um die optimale Wirkung mit minimalen Nebenwirkungen zu erzielen. Es ist ratsam, mit einer niedrigen Dosis zu beginnen und diese langsam zu steigern, bis die gewünschte Wirkung eintritt.
Mögliche Nebenwirkungen und Risiken
Wie jedes Medikament kann auch medizinisches Cannabis Nebenwirkungen verursachen. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Müdigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit und Konzentrationsstörungen. In seltenen Fällen können psychiatrische Symptome wie Angst oder Halluzinationen auftreten, insbesondere bei höheren Dosen von THC.
Es ist wichtig zu beachten, dass Cannabis den Abbau mancher Medikamente über Leberenzyme beeinflussen kann (CYP450). Gerade bei MS kommen häufig weitere Arzneimittel zum Einsatz (z. B. Spasmolytika wie Baclofen oder Tizanidin, Antidepressiva, Antiepileptika, Immunmodulatoren). Daher ist eine sorgfältige Abwägung der Risiken undBenefits sowie eine enge Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt unerlässlich.
Rechtliche Aspekte und Kostenübernahme
Seit dem 1. April 2024 ist medizinisches Cannabis in Deutschland nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt, sondern wird durch das Medizinal-Cannabisgesetz (MedCanG) geregelt. Dadurch können Ärzte medizinisches Cannabis nun auf einem regulären elektronischen Rezept verordnen.
Bei einer schwerwiegenden Erkrankung wie MS übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für medizinisches Cannabis, sofern andere Therapien nicht ausreichend wirken oder nicht vertragen werden. Für die Erstverordnung durch bestimmte Fachärzte ist seit 2024 keine Genehmigung der Krankenkasse mehr erforderlich.
Lesen Sie auch: Kraftakt im Alltag mit MS