Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung (KJP) in Österreich ist ein komplexes Feld, das sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich vielfältige Herausforderungen und Besonderheiten aufweist. Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Situation der KJP-Versorgung in Österreich, beginnend mit den rechtlichen und strukturellen Grundlagen bis hin zu spezifischen Aspekten der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen.
Rechtliche und strukturelle Grundlagen der KJP-Versorgung
Das Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) wurde 2007 in Österreich etabliert und 2015 durch die Bundesregierung in der Ärzteausbildungsordnung als Fachärzt*in für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und psychotherapeutische Medizin neu geregelt. Obwohl die Kinder- und Jugendneuropsychiatrie bereits seit 1997 in die Leistungsorientierte Krankenhausfinanzierung (LKF) aufgenommen wurde, folgte erst mit der Schaffung des eigenen Sonderfaches im Jahr 2007 ein eigener, allgemeiner Versorgungsauftrag im Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG).
Der ÖSG ist das zentrale Planungsinstrument auf Bundesebene für die integrative Versorgungsplanung in Österreich und seit 2013 integraler Bestandteil der Zielsteuerung-Gesundheit. Er enthält als Rahmenplan verbindliche Vorgaben für die Planung bestimmter Bereiche des Gesundheitsversorgungsystems sowie Kriterien für die Gewährleistung der bundesweit einheitlichen Versorgungsqualität. Durch den ÖSG soll sichergestellt werden, dass die Gesundheitsversorgung in Österreich ausgewogen verteilt, gut erreichbar und in vergleichbarer Qualität auf hohem Niveau angeboten wird. Er dient somit als Instrument der Versorgungsplanung für das österreichische Gesundheitssystem, einschließlich des Sonderfachs KJP. Ziel ist es, Über-, Unter- oder Fehlversorgung der Bevölkerung zu vermeiden und eine entsprechende Qualität der Versorgung sicherzustellen.
Versorgungsebenen und Versorgungsmodell
Das Österreichische Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG) und die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP) haben im Rahmen der Vorbereitung des neuen Sonderfaches die Gesundheitsversorgung durch die Fachärzt*innen für KJPP beschrieben und insbesondere die verschiedenen Versorgungsebenen definiert. Zuletzt wurden diese Arbeiten durch Fliedl et al. aktualisiert. Das vom ÖSG definierte Versorgungsmodell umfasst verschiedene Ebenen, von der Primärversorgung bis zur hochspezialisierten Versorgung in Universitätskliniken.
Der ÖSG 2021 definiert die Anforderungen an eine qualitätvolle Versorgungsplanung, wobei die Sicherstellung des offenen Patientenzugangs zum evidenzgesicherten medizinischen Fortschritt, die fachliche Expertise in den Behandlungsteams und die Einhaltung der im ÖSG enthaltenen Qualitätskriterien im Vordergrund stehen. Auch ökonomische Grundprinzipien im Hinblick auf ausreichende Leistungsmengen, Fixkostendegression und Nutzungsgrad von eingesetzten Ressourcen und Kapazitäten ohne Qualitätseinbußen sind zu beachten.
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Ambulante und stationäre Versorgung
Die ambulante Versorgung umfasst die Bereiche Primärversorgung, Einzel- und Gruppenpraxen, selbstständige Ambulatorien, Miniambulatorien und die an klinische Abteilungen angeschlossenen Fachambulanzen. Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist im Wesentlichen für die Begutachtung nach dem Unterbringungsgesetz im ambulanten Bereich zuständig, in enger Kooperation mit Rettung und Polizei (Präklinische Notfallversorgung). Laut ÖSG sollen neben den Allgemeinen Aufgaben für alle Fachbereiche eine auf das Fach hin abgestimmte Leistungsmatrix, Aufgabenprofile und Ausstattungskriterien definiert werden. Diese Definition ist bisher nicht erfolgt und wird vor allem aufgrund des Föderalismus in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich wahrgenommen.
Im stationären Bereich wird je nach Status (Standard, Schwerpunkt, Zentralkrankenanstalt) der Krankenanstalt unterschieden, an der die jeweilige Abteilung für KJP angesiedelt ist. In Österreich gibt es derzeit 13 Abteilungen für KJP, davon sind fünf an Universitätskliniken integriert und somit Teil einer Zentralkrankenanstalt. In der Klassifikation der Krankenanstalten in Österreich werden psychiatrische Abteilungen oder Kinder- und Jugendabteilungen als „Spezialversorgung“ gesehen und sind somit per se Schwerpunktkrankenanstalten. Referenzzentren oder hochspezifische Spezialzentren im engeren Sinne gibt es im Fach KJP (noch) nicht. Vorgaben bezüglich des Umfangs der Versorgung sind definiert (z. B.: Bettenmessziffer BMZ zwischen 0,6-1,1 Betten auf 100.000 EW oder auch bestimmte Personalstrukturkriterien). Auch für die stationären Einrichtungen gibt es keine definierte Kooperationsformen - zum Beispiel ist der gesamte KJP-Konsiliar- und Liäsondienst nicht ausreichend abgedeckt.
Politische Initiativen und Versorgung aus Sicht der Inanspruchnahme-Population
In den letzten Jahren gab es einige Aktivitäten seitens der Politik (Kinder- und Jugendgesundheitsstrategie, Nationaler Aktionsplan etc.), die sich aber oft mit der Erstellung von Berichten und Feststellen der Defizite begnügt haben. Die KJP-Versorgung könnte und sollte auch von Seiten der Inanspruchnahme-Population aus betrachtet werden. Zumeist wird dabei von epidemiologischen Daten ausgegangen bzw. auch von einzelnen Erkrankungen und ihrer Versorgungsnotwendigkeit.
Epidemiologische Daten aus Österreich (MHAT-Studie) weisen auf eine hohe Punktprävalenz psychischer Auffälligkeiten (23,9 %) hin, die durch die SARS-Cov-2-Pandemie noch deutlich angehoben wurde (40 % Steigerung der Inanspruchnahme, Zunahme psychopathologischer Auffälligkeiten Depression, Angst, Essstörungssymptomatik). Die Inanspruchnahme war allerdings schon vor der Pandemie nicht ausreichend, lediglich 48 % gaben an sich Hilfe geholt zu haben, weitere 25 % wünschen sich Hilfe. Eine Folge dieser mangelnden Inanspruchnahme ist das Ausweichen auf nicht-medizinische Angebote, das in erster Linie von wohlhabenderen Familien und von Familien mit Kindern, die an externalisierenden Störungen leiden, wahrgenommen wird.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Besonderheiten der KJP-Versorgung
Kinder und Jugendliche sind in allen Sektoren der Gesellschaft zu finden: Gesundheit, Schule, Soziales, Justiz, Wirtschaft und Familie. Es ist daher in all diesen Bereichen auf die Situation der psychisch wie körperlich kranken Kinder und Jugendlichen Rücksicht zu nehmen und planerisch wie präventiv tätig zu werden. In allen genannten Bereichen ist dies im Moment nur ansatzweise vorhanden und eine Kooperation dieser Bereiche miteinander ist kaum zu finden.
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Weitere Aspekte der Versorgung sind krankheitsspezifische Aspekte. Welche Erkrankung muss von wem, auf welcher Ebene der Versorgung, wie versorgt werden? Beispiel Anorexia nervosa: in der S3-Leitlinie der AWMF ist festgehalten, dass als Mindeststandard zu gelten habe: Versorgung durch eine/n Kinder- und Jugendpsychiater:in gemeinsam mit Diätolog:in und Psychotherapeut:in, alle müssen Knowhow in der Behandlung von Anorexia haben. Diese Kriterien erfüllen in Österreich nur wenige der ambulanten Einrichtungen, im stationären Bereich ist die Situation noch dünner. Und dennoch wurde die medizinische Versorgung von PatientInnen mit Anorexie seitens des Gesundheitsministeriums in einer Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage als ausgezeichnet beschrieben.
Neben der Krankheitsspezifischen Versorgung könnte man auch eine Altersspezifische Versorgung überlegen, da die psychischen Erkrankungen sich je nach Alter unterschiedlich manifestieren, zu unterschiedlichen Altern auftreten und entsprechend unterschiedliche Herangehensweisen in Diagnostik und Therapie benötigen. KJP-Versorgung sollte daher dort sein, wo die Kinder und Jugendlichen sind, an Kindergärten und Schulen, an allen Krankenanstalten, die Kinder und Jugendliche betreuen, in den Primärversorgungszentren und nahe bei den Kinder- und Jugendärztinnen - liegt doch das Risiko einer psychiatrischen Störung bei körperlich erkrankten oder behinderten Kindern und Jugendlichen nochmals einiges höher als bei den gesunden Kindern und Jugendlichen. Schlussendlich sollten die Fachärzt:innen für KJP in allen Einrichtungen, die Kinder und Jugendliche betreuen (Kinder- und Jugendhilfe, AMS, Justiz etc.) in enger Kooperation mit den Trägerorganisationen arbeiten können.
Die KJP weist aber noch weitere Besonderheiten auf. Es ist neben der Psychiatrie das einzige Fach, das einen impliziten, nämlich in der Facharztdefinition integrierten, psychotherapeutischen Versorgungsauftrag beinhaltet, dem natürlich in Ausbildung, Lehre aber auch im Rahmen der Formulierung der Versorgungsaufträge, der Bereitstellung von Ressourcen und Finanzierung strukturell Rechnung getragen werden muss. Dies ist bisher nur ansatzweise erfolgt. Das Fach KJP ist DAS Fach, in dem Interdisziplinarität, Multimodalität und Kooperation zentral im Selbstverständnis des Faches enthalten sind. Diese Themen werden im stationären Rahmen am ehesten umgesetzt, für den niedergelassenen Arzt ist es bisher schier unmöglich (wenngleich viele dies trotzdem umsetzen) dies in seine Tätigkeit zu integrieren, solange Kooperation, Multimodalität und -professionalität in den Planungs- und Finanzierungsrichtlinien der ÖGK und derer der Kooperationspartner (z. B. Österreichischen Ärztekammer) nicht vorkommen. Es gibt zwar Grafiken im ÖSG, die diese Kooperation strukturell darstellen, doch in den Finanzierungsmodellen scheinen die dazu nötigen Leistungen nicht als eigene Position auf.
Alterseinschränkung und Transitionspsychiatrie
Die Alterseinschränkung der KJP auf unter 19-Jährige ist aus KJP-Sicht fachlich nicht zu begründen, sondern stellt eine reine Machtpolitische Maßnahme dar, wäre sie nämlich inhaltlich begründet, nämlich mit der ausschließlichen Qualifizierung für Kinder und Jugendliche, dann dürfte - außer den Pädiater:innen und Allgemeinärzt:innen eigentlich kein anderes Fach Kinder- und Jugendliche behandeln. Dass dem nicht so ist, ist evident. Aus der wissenschaftlich-fachlichen Perspektive ist festzuhalten, dass die Entwicklung des Menschen nicht mit dem Erreichen des 19. Geburtstags abgeschlossen ist oder das Erwachsen-Sein genau dann beginnt. Mittlerweile ist es klar, dass für die Menschen zwischen 16 und 25 ähnliche Entwicklungsbedingungen gelten, ähnliche Krankheitsbilder sich zeigen und diese Menschen in der Regel sich noch in einem Entwicklungsmoratorium („Emerging Adulthood“) befinden, das sowohl Fachwissen aus dem KJP-Bereich und dem Erwachsenenbereich benötigt, die Strukturen der Versorgung aber eher an den Bedürfnissen eines jüngeren Klientels sich orientieren müssen.
Der Gesetzgeber hat sich diese Themas bereits angenommen, in den Ausbildungsrichtlinien beider Fächer (KJP, Psychiatrie) ist die „Transitionspsychiatrie“ als Ausbildungsinhalt respektive eigenes Modul vorgesehen. Allerdings wird diesen Bedürfnissen der Patientinnen und der Ausbildung der Ärztinnen auf der strukturellen Ebene nicht ausreichend Rechnung getragen.
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Verweildauer und Qualität der stationären Behandlung
Eine weitere Besonderheit ist die, im Vergleich mit allen übrigen medizinischen Fächern deutlich längere Verweildauer bei Spitalsbehandlungen, die der Tatsache geschuldet ist, dass psychische Erkrankungen ausreichend Zeit und entsprechende Rahmenbedingungen benötigen, um sich zu verändern. Damit steigt die Bedeutung der Qualität von architektonischen und Sicherheits-bezogenen Gegebenheiten, es verändert das Tagesangebot, die nötige Tagesstruktur, es hebt die Bedeutung der Gruppe der Mit-Patientinnen und deren Auswahl. Ebenfalls ist klar, dass derartig lange Aufenthalte nur unter bestimmten, der Behandlung zugrunde liegenden Konzepten erfolgen können.
Neuorientierung des Versorgungsbegriffs
Sollte die Versorgungsplanung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den nächsten Jahren auf neue Beine gestellt werden, könnte man sich an einer anderen Begrifflichkeit des Versorgungsbegriffs orientieren: übersetzt man Versorgung ins Englische, wird man mit drei Begriffen konfrontiert: Care, Supply, Provision.
Care: Pflege, Sorgfalt, Betreuung. Was bekommt der versorgte Mensch tatsächlich, örtlich, zeitlich (Dauer, Frequenz), personell (welche Berufsgruppen?), qualitativ (ambulant vor stationär; berufliche Qualitätsstandards), supportiv (finanziell, sozial, Behandlung, tragendes Netzwerk etc.) und auf welcher Ebene der Versorgung? Sind die Angebote auf das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen und ihrer Angehörigen abgestellt (z. B. Orientierung an Menschenrechten und Kinderschutzkriterien)?
Provision: Bereitstellung, Vorkehrung, Beschaffung, Bestimmung. Wer ist für welche Zur-Verfügung-Stellung verantwortlich und zuständig?
Supply: Lieferung, Angebot, Zufuhr oder Zuführung. Die Lieferung und Bereitstellung der Leistung (wann, wo und wie) wiederum in Abhängigkeit vom Alter des Patient*in und vom Versorgungsniveau und dem Ort der Leistung.
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