Das autonome Nervensystem (ANS), oft auch als vegetatives Nervensystem (VNS) bezeichnet, ist ein stiller Helfer, der rund um die Uhr arbeitet. Es steuert lebenswichtige Körperfunktionen, ohne dass man bewusst darüber nachdenken muss. Es reguliert Herzschlag, Atmung, Verdauung und Körpertemperatur. Im Alltag werden die Begriffe autonomes Nervensystem (ANS) und vegetatives Nervensystem (VNS) meist gleichbedeutend verwendet. Medizinisch gesehen ist das autonome Nervensystem jedoch der übergeordnete Begriff. Er betont, dass diese Prozesse unabhängig vom bewussten Willen gesteuert werden. Der Begriff „vegetativ“ verweist eher auf die Steuerung der inneren Organe, also der sogenannten Viszeralfunktionen. „Autonomes Nervensystem“ wird international verwendet.
Wozu brauchen wir ein autonomes Nervensystem?
Das autonome Nervensystem spielt eine entscheidende Rolle im täglichen Leben, indem es viele lebenswichtige Funktionen steuert, ohne dass wir dies bewusst wahrnehmen. Es reguliert unseren Herzschlag, unsere Atmung und kontrolliert, wie unser Verdauungssystem arbeitet. Diese automatische Steuerung ermöglicht es, uns auf andere Aufgaben zu konzentrieren, ohne ständig über diese grundlegenden Prozesse nachdenken zu müssen.
Ein eindrucksvolles Beispiel für die Bedeutung des autonomen Nervensystems ist die "Kampf-oder-Flucht"-Reaktion. Stellen Sie sich vor, Sie stehen plötzlich einem aggressiven Hund gegenüber. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, Ihre Muskeln spannen sich an, Ihr Atem wird schneller. Diese Reaktion wird durch das autonome Nervensystem ausgelöst, um den Körper auf eine schnelle Flucht oder einen Kampf vorzubereiten. Diese unwillkürliche Reaktion kann in lebensbedrohlichen Situationen den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.
Aufbau und Funktion des autonomen Nervensystems
Das autonome Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk, das sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzt, die zusammenarbeiten, um die inneren Organe und lebenswichtigen Funktionen des Körpers zu steuern. Es besteht aus drei Hauptkomponenten:
- Sympathisches Nervensystem
- Parasympathisches Nervensystem
- Enterisches Nervensystem (ENS)
Sympathisches Nervensystem
Der Sympathikus bereitet den Organismus auf körperliche und geistige Leistungen vor. Er sorgt dafür, dass das Herz schneller und kräftiger schlägt, erweitert die Atemwege, damit man besser atmen kann, und hemmt die Darmtätigkeit. Der Sympathikus stimuliert und bringt den Körper auf Touren. Wenn man unter Stress steht oder schnell reagieren muss, ist der Sympathikus aktiv. Er wird aktiv, wenn der Körper in eine belastende oder herausfordernde Situation kommt. Das kann ein körperlicher Reiz sein (z. B. Sport), aber auch psychischer Stress. Dieses System bereitet einen auf „Fight or Flight“ / Kampf oder Flucht vor. Der Sympathikus erhöht bei Gefahr Herzschlag und Atemtätigkeit und verbessert die Durchblutung - das steigert die körperliche Leistungsfähigkeit, die zur Flucht oder Verteidigung notwendig ist. Gleichzeitig hemmt der Sympathikus Vorgänge wie die Verdauung, die bei Gefahr nicht hilfreich sind.
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Sympathische Nervenzellen befinden sich im Rückenmark im mittleren Bereich der Wirbelsäule. Von hier gehen Signale an die sogenannten Ganglien aus. Ganglien sind Anhäufungen von Nervenzellkörpern im peripheren Nervensystem. Die Ganglien sind außerdem über Axone mit den inneren Organen verbunden. Die meisten sympathischen Ganglien befinden sich in der Nähe des Rückenmarks. Viele von ihnen verbinden sich zu einem Ganglienstrang, der parallel zum Rückenmark verläuft.
Parasympathisches Nervensystem
Der Parasympathikus kümmert sich um die Körperfunktionen in Ruhe: Er aktiviert die Verdauung, kurbelt verschiedene Stoffwechselvorgänge an und sorgt für Entspannung. Er sorgt für Ruhe und Regeneration. Sobald die „Gefahr“ vorüber ist oder man sich bewusst entspannt, übernimmt der Parasympathikus. Er aktiviert „Rest and Digest“-/ Ruhe und Verdauung. Dieser Zustand ist essenziell, um die Energiereserven aufzufüllen, Immunsystem und Zellreparatur zu aktivieren. Wenn wir entspannt sind, verlangsamt der Parasympathikus den Herzschlag und beruhigt die Atmung.
Die parasympathischen Nervenzellen befinden sich im oberen und unteren Bereich der Wirbelsäule. Von hier gehen Signale an die sogenannten Ganglien aus. Die parasympathischen Nervenzellen werden erst kurz vor den Zielorganen über Ganglien zusammengeschaltet.
Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus
Sympathikus und Parasympathikus werden oft als Gegenspieler bezeichnet. Einfach ausgedrückt: Das sympathische Nervensystem reguliert die Organfunktionen in Stresssituationen oder bei Aktivität und das parasympathische Nervensystem in Entspannungsphasen. Beim Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus geht es darum, dass immer diejenigen Körperfunktionen Vorrang erhalten, deren Aktivität in einer jeweiligen Situation am sinnvollsten ist. Die beiden Systeme wirken also nicht unbedingt entgegengesetzt, sondern können sich in manchen Funktionen ergänzen. Sie arbeiten zusammen, um den Körper im Gleichgewicht zu halten. Der Sympathikus übernimmt so lange die Führung, wie es nötig ist, um eine Stresssituation zu meistern. Dann schaltet sich das parasympathische Nervensystem ein und führt den Organismus in den „Normalbetrieb“ zurück.
Enterisches Nervensystem (ENS)
Oft auch als „Bauchgehirn“ oder „Darmnervensystem“ bezeichnet, besteht es aus einem dichten Netz von Nervenzellen im Magen-Darm-Trakt. Es arbeitet weitgehend eigenständig und steuert die Verdauung. Ein oft unterschätzter Teil ist das enterische Nervensystem, das in der Wand des Verdauungstrakts sitzt. Es enthält etwa genauso viele Nervenzellen wie das Rückenmark und arbeitet größtenteils unabhängig vom Gehirn. Über die sogenannte Darm-Hirn-Achse kommuniziert das ENS direkt mit dem zentralen Nervensystem.
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Neurotransmitter im autonomen Nervensystem
Um Signale übertragen zu können und die Organe zu verstärkter oder verminderter Aktivität anzuregen, sind chemische Botenstoffe notwendig: sogenannte Neurotransmitter. Die wichtigsten Transmitter bei der Kommunikation von Sympathikus, Parasympathikus und Organen sind Acetylcholin und Noradrenalin. Letzteres wirkt stimulierend und Acetylcholin überwiegend hemmend. Acetylcholin spielt bei der parasympathischen Signalübertragung die Hauptrolle. Es kommt zwar auch bei der Kommunikation in den sympathischen Ganglien zum Einsatz, für die Signalübertragung an die Organe setzen aber die meisten sympathischen Fasern Noradrenalin frei.
Störungen des autonomen Nervensystems
Eine Störung des vegetativen Nervensystems gefährdet den ordnungsgemäßen Ablauf lebenswichtiger körperlicher Prozesse. Bei Schädigung der Nerven oder des Gehirns kann es daher zu Störungen des vegetativen Nervensystems kommen. Störungen des autonomen Nervensystems, auch Dysautonomien genannt, betreffen die unwillkürlichen Funktionen des Körpers wie Kreislauf, Verdauung, Atmung oder Temperaturregulation.
Ursachen einer vegetativen Störung
In vielen Fällen lässt sich bei einer Störung des vegetativen Nervensystems keine konkrete Ursache ausmachen. Mögliche auslösende Krankheiten sind:
- Diabetes mellitus: Ein unbehandelter oder schlecht eingestellter Diabetes mellitus kann das Nervensystem schädigen. Ein Beispiel ist der Blutdruckabfall beim Aufstehen (orthostatische Hypotonie), wenn infolge eines Diabetes Nerven geschädigt sind, die normalerweise beim Stehen einen blutdrucksteigernden Reflex auslösen.
- Verletzungen vor allem in der Nähe des Rückenmarks, bei denen Verbindungen im Nervensystem beschädigt werden können
- Horner-Syndrom, eine Störung des Sympathikusanteils, der unter anderem die Augen nervlich anbindet
- Tumor des Nebennierenmarks (Phäochromozytom), wodurch zu viele Neurotransmitter freigesetzt werden, die zu einer kaum zu senkenden Erhöhung des Blutdrucks führen
- virale oder bakterielle Infektionen
- Multisystematrophie, eine Erkrankung, die viele Systeme betrifft, darunter auch das autonome Nervensystem
- genetisch bedingte oder erworbene Erkrankungen wie Amyloidose
- Erkrankungen des zentralen Nervensystems, wie z. B. Multisystematrophie oder multiple Sklerose, aber auch Polyneuropathien bei Diabetes mellitus, Amyloidose, Porphyrie oder Urämie, Guillain-Barré-Syndrom oder hereditären Neuropathien.
Eine ausgewogene Ernährung unterstützt das Gleichgewicht der Aktivität von Sympathikus und Parasympathikus, übermäßiger Konsum von Alkohol kann Sympathikus und Parasympathikus beeinträchtigen.
Symptome bei einer vegetativen Störung
Eindeutige Krankheitszeichen bei Problemen mit dem vegetativen Nervensystem gibt es nicht. Ein überreiztes Nervensystem macht sich häufig durch innere Unruhe, Reizbarkeit, Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme bemerkbar. Körperlich können Symptome wie Herzrasen, Muskelverspannungen, Magen-Darm-Beschwerden oder erhöhter Blutdruck auftreten.
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Erkrankungen des zentralen Nervensystems, wie z. B. Multisystematrophie oder multiple Sklerose, aber auch Polyneuropathien bei Diabetes mellitus, Amyloidose, Porphyrie oder Urämie, Guillain-Barré-Syndrom oder hereditären Neuropathien, gehen mit Störungen des autonomen Nervensystems einher, die sich äußern können in:
- orthostatischer Hypotension
- Hitzeintoleranz
- Störungen der Schweißsekretion
- Durchfällen oder Verstopfung
- Inkontinenz
- erektiler Dysfunktion
- Akkommodations- oder Pupillenstörungen
Folgen eines gestörten autonomen Nervensystems
Ein gestörtes autonomes Nervensystem kann vielfältige Folgen haben, da es lebenswichtige Körperfunktionen steuert. Mögliche Auswirkungen sind Kreislaufprobleme wie Schwindel oder Ohnmacht, Verdauungsstörungen, Herzrhythmusstörungen, Atemprobleme oder übermäßiges Schwitzen. Auch chronische Erschöpfung, Schlafstörungen und erhöhte Stressanfälligkeit können auftreten. Langfristig kann eine solche Dysregulation das Risiko für psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen erhöhen. Depressionen können tatsächlich mit Störungen des autonomen Nervensystems in Zusammenhang stehen. Ein dauerhaft überaktiver Sympathikus kann zu chronischer Anspannung, Schlafmangel und innerer Erschöpfung führen, was depressive Symptome begünstigt.
Diagnostik von Funktionsstörungen des autonomen Nervensystems
Zur Diagnostik von Funktionsstörungen des autonomen Nervensystems werden verschiedene Testverfahren eingesetzt. Einzelne Testverfahren lassen sich der anatomischen und funktionellen Einteilung in parasympathisches und sympathisches autonomes Nervensystem gegenüberstellen, die meist als Testbatterie im Rahmen der neurophysiologischen Diagnostik durchgeführt werden. Zu beachten ist, dass bei allen kardiovaskulären Tests internistische Ursachen einer autonomen Störung, wie z. B. Hypovolämie nach Dehydratation, rezidivierendem Erbrechen o. Ä., Thyreotoxikose, Nebenniereninsuffizienz etc. vor der Diagnosestellung einer Erkrankung des autonomen Nervensystems ausgeschlossen werden müssen.
Beispiele für Testverfahren sind:
- Blutdruckverhalten beim Aufstehen (Orthostasebelastung): Wiederholte, besser kontinuierliche Aufzeichnung von Blutdruck (BP). Orthostatische Hypotension = Abnahme BP syst >20 mmHg über 3 min. Bei autonomer Dysregulation fehlt zusätzlich die kompensatorische Pulsfrequenzerhöhung.
- Blutdruckverhalten bei anhaltendem Faustschluss: Faustschluss mit 30 % der maximalen Kraft für 5 min (3 min). BP-Aufzeichnung. BP diast. Anstieg. Normal >15 mmHg, grenzwertig: 11-15 mmHg, pathologisch: <11 mmHg.
- Sympathische Hautantwort („sympathetic skin response“ [SSR]): Differente Elektroden auf Handinnenflächen bzw. Fußsohlen, indifferente Elektroden auf Hand bzw. Fußrücken. Stimulus eines sensiblen Nervs. SSR. Latenz zur Hand <1,9 ms, zum Fuß <2,4 ms.
- Thermoregulatorischer Schweißtest nach Minor: 1 l Lindenblütentee + 1 g ASS per os, jodhaltige Tinktur zum Einpinseln der Körperoberfläche, nach Antrocken Bepudern mit Kartoffelstärkemehl. Belichtung der Haut unter Lichtkasten. Jod-Stärke-Reaktion. Anhidrotische Bezirke bleiben ohne Farbreaktion, übrige Bezirke blauviolett (Jod-Stärke-Reaktion).
- Ninhydrintest nach Moberg: Hand- oder Fußabdruck auf Papier. Einlegen des Papiers in 1 % Ninhydrin in Aceton mit Eisessig. Ninhydrinfarbumschlag bei in Schweiß vorhandenen Aminosäuren. Normale Bezirke des Schwitzens violett.
Wie bekommt man das vegetative Nervensystem wieder ins Gleichgewicht?
Das vegetative Nervensystem kann willentlich nicht beeinflusst werden. Es ist jedoch möglich, durch verschiedene Maßnahmen indirekt Einfluss zu nehmen und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Da das autonome Nervensystem eine gewisse Plastizität besitzt (d.h. es ist lernfähig), kann man durch gezielte Maßnahmen wie Entspannungstechniken, Atemübungen oder therapeutische Begleitung wieder zu mehr innerer Balance zurückfinden.
Hier sind einige Tipps, wie man das vegetative Nervensystem wieder ins Gleichgewicht bringen kann:
- Regelmäßige Bewegung: Bewegung hilft dem Körper, Stresshormone wie Cortisol abzubauen und den Parasympathikus - also den „Entspannungsnerv“ - zu stärken. Schon 30 Minuten Spazierengehen, moderates Yoga oder sanftes Radfahren können Wunder wirken.
- Atemübungen: Die Atmung ist ein wichtiger Hebel, mit dem man direkt Einfluss auf das Nervensystem nehmen kann. Langsames, bewusstes Atmen aktiviert den Parasympathikus.
- Ausgewogene Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung liefert dem Nervensystem den Grundstein für Stabilität und Regeneration.
- Ausreichend Schlaf: Während man schläft, hat das autonome Nervensystem die Gelegenheit, zu regenerieren.
- Entspannungstechniken: Techniken wie Meditation, Body Scan oder progressive Muskelentspannung bringen einen zurück in den Moment und raus aus der Alarmbereitschaft. Besonders wirksam sind sogenannte Polyvagal-Übungen, die gezielt den Nervus vagus (insbesondere den ventralen Vagus) stimulieren. Der ventrale Vagus ist direkt mit Muskeln im Gesicht, Kehlkopf, Rachen und Mittelohr verbunden - also mit Strukturen, die wir beim Summen, Seufzen, Singen oder Hören einsetzen. Auch Achtsamkeitstechniken wirken über dieses System. Wenn wir bewusst atmen, unseren Körper wahrnehmen oder Spannungen lösen, schalten wir das Sympathikus-dominierte Stresssystem herunter und aktivieren den ruhigen Vagus-Zweig.
- Biohacking vs. Body Awareness: In einer Welt voller Reize und Herausforderungen suchen viele nach effektiven Wegen, ihr autonomes Nervensystem zu regulieren - also aus Stress, Übererregung oder Erstarrung zurück in einen Zustand von innerer Balance zu finden. Biohacking setzt auf gezielte, oft technologische Reize und Methoden, um neurophysiologische Prozesse zu beeinflussen. Auf der anderen Seite steht der Ansatz der Body Awareness - also ein bewusst verkörperter, achtsamer Zugang zur Selbstregulation. Beide Wege - Biohacking und Body Awareness - können hilfreich sein. Oft ist es gerade die Kombination aus beiden Ansätzen, die besonders wirksam ist.
- Geduld und Kontinuität: Ein überreiztes Nervensystem braucht Zeit, um sich zu regulieren. Geben Sie sich selbst Geduld und Kontinuität. Was zählt, ist nicht der „Soforteffekt“, sondern dass Sie Ihren Körper regelmäßig daran erinnern: Sie sind sicher.
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